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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905.

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Dr. Eggers: Der Streik gegen den Alkohol.
Alkohol nicht lassen, ihre Vergangenheit ist vom Zauberlicht des funkelnden Weins
beleuchtet, von der Behaglichkeit des Bierkneipens erfüllt, und auch die wilde Schnaps-
berauschung steckt ihnen sehr im Blute. Die Trennung der deutschen Nation vom
Alkohol bedeutet den Verlust eines nationalen Heiligtums, die Vernichtung eines
großen Teiles vaterländischer Poesie. Um diese ihre Herzensangelegenheit vor dem
Ansturm der Leute aus der Fremde, den "Abstinenten", zu schützen, richten die guten
Deutschen tagtäglich neue Verteidigungswerke auf, ein Laie nach dem andern, ein
Gelehrter nach dem andern stellt die kühnsten Theorien über die Nützlichkeit,
über die Herrlichkeit, über die Notwendigkeit des Alkoholgenusses auf. "Mit Worten
läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten."

Doch vor der ehernen Wirklichkeit, vor dem Schritt des allgewaltigen Schicksals
brechen diese Gebäude der aus dem Herzen geschöpften Logik wie Kartenhäuser zu-
sammen. Auf die Alkoholfrage ist seit langem kein so scharfes Licht gefallen, wie
durch den Streik im Ruhrrevier. Von dem während dieses Streikes geführten Streik
gegen den Alkohol sei im folgenden die Rede.

Die Alkoholfrage als ein die Lösung dringend erheischendes Problem besteht
seit langem im Ruhrrevier, der systematische Kampf gegen den Alkoholismus hat bis
zum Beginn des Streikes dort so gut wie nicht existiert. Der rheinisch=westfälische
Jndustriebezirk gehört nach dem Bericht von Kennern der Verhältnisse mit zu den
"versoffensten" Gegenden Deutschlands und ähnelt in der Beziehung dem Charakter
von Ostpreußen, Posen, Oberschlesien. Für viele Bergleute ist der Schnaps der un-
zertrennliche Freund, bei der Arbeit soll er ihnen "Kraft zuführen", in der freien
Zeit sie über die sie umgebende Öde und alle Widrigkeiten des Lebens " hinweg-
täuschen ", wie es in einem Bericht über die dortigen Verhältnisse heißt: Das Elend
"vertilgen". Die Versuchung, im Schnaps Vergessenheit und Freuden zu suchen, ist
für den Bergmann besonders groß. Die wirtschaftliche Lage der Arbeiter ( Bergleute )
ist, wie Sachkenner seit langem wissen und seit dem Streik jedermann weiß, der es
wissen will, keineswegs befriedigend. Der Ruhrbergmann verdient durchschnittlich
nicht so viel wie ein großstädtischer Arbeiter, obgleich die Lebensbedingungen beider
im allgemeinen gleich sind. Der Druck von "oben" ist stark. Das Wagennullen
und die sonstigen Strafen rauben bekanntlich oft einen großen Teil des Verdienstes.
Es ist keine Seltenheit, daß, wie mir von einem Kenner berichtet wird, 1 / 3 des ge-
samten Verdienstes durch Wagennullen verloren geht und daß monatliche Strafen
von 24 und 26 Mk. verhängt werden.

Elend und Suff befinden sich hier wie vielfach anderswo in inniger Verkettung,
ihre Verbindung scheint sich immer unlöslicher zu gestalten. Das Alkoholkapital ver-
schmiert eifrig etwa noch vorhandene Ritzen. Jn der Nähe aller Zechen sieht man
die "Gastwirtschaften", die nach der Erklärung eines Arbeiters richtiger den Namen
"Giftbuden" tragen würden. Jn den Versammlungen der Arbeiter sieht man vielfach
den Wirt mit einer 3--5 Liter Branntwein enthaltenden Flasche und einem Glase
den Saal durchwandern, und Mann für Mann der Besucher zollt dem König Alkohol
den nötigen Tribut. Besonders schlimm ist es in den Distrikten, wo viele Polen
wohnen. Es wird dort der Durchschnittsverzehr an Branntwein auf 1 Liter von
Gastwirten selbst geschätzt. Was Wunder, wenn der Verschleißer bald reich, der
Verzehrer immer ärmer wird. Es wurde mir mitgeteilt, daß es Wirtschaften gibt,
die im Monat bis zu 2000 Liter Schnaps verkaufen und am Liter 45 Pf. Gewinn
erzielen.

Die Behörden haben insofern Schutz vor der Kneipe zu geben versucht, als sie
an vielen Stellen die Wirtschaften an den Lohntagen mehrere Stunden oder den
ganzen Tag haben schließen lassen. Dasselbe geschah am 6., 7. und 8. Februar,
als die erste Streikunterstützung ausgezahlt wurde.

Das Wichtigste gegen den Alkohol ist jedoch nicht von den Behörden, sondern
aus der Arbeiterschaft heraus geschehen. "Die Streikkomitees legen das größte Ge-
wicht darauf, daß sich die Streikenden strenge dem Alkohol enthalten. Überall

Dr. Eggers: Der Streik gegen den Alkohol.
Alkohol nicht lassen, ihre Vergangenheit ist vom Zauberlicht des funkelnden Weins
beleuchtet, von der Behaglichkeit des Bierkneipens erfüllt, und auch die wilde Schnaps-
berauschung steckt ihnen sehr im Blute. Die Trennung der deutschen Nation vom
Alkohol bedeutet den Verlust eines nationalen Heiligtums, die Vernichtung eines
großen Teiles vaterländischer Poesie. Um diese ihre Herzensangelegenheit vor dem
Ansturm der Leute aus der Fremde, den „Abstinenten“, zu schützen, richten die guten
Deutschen tagtäglich neue Verteidigungswerke auf, ein Laie nach dem andern, ein
Gelehrter nach dem andern stellt die kühnsten Theorien über die Nützlichkeit,
über die Herrlichkeit, über die Notwendigkeit des Alkoholgenusses auf. „Mit Worten
läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten.“

Doch vor der ehernen Wirklichkeit, vor dem Schritt des allgewaltigen Schicksals
brechen diese Gebäude der aus dem Herzen geschöpften Logik wie Kartenhäuser zu-
sammen. Auf die Alkoholfrage ist seit langem kein so scharfes Licht gefallen, wie
durch den Streik im Ruhrrevier. Von dem während dieses Streikes geführten Streik
gegen den Alkohol sei im folgenden die Rede.

Die Alkoholfrage als ein die Lösung dringend erheischendes Problem besteht
seit langem im Ruhrrevier, der systematische Kampf gegen den Alkoholismus hat bis
zum Beginn des Streikes dort so gut wie nicht existiert. Der rheinisch=westfälische
Jndustriebezirk gehört nach dem Bericht von Kennern der Verhältnisse mit zu den
„versoffensten“ Gegenden Deutschlands und ähnelt in der Beziehung dem Charakter
von Ostpreußen, Posen, Oberschlesien. Für viele Bergleute ist der Schnaps der un-
zertrennliche Freund, bei der Arbeit soll er ihnen „Kraft zuführen“, in der freien
Zeit sie über die sie umgebende Öde und alle Widrigkeiten des Lebens „ hinweg-
täuschen “, wie es in einem Bericht über die dortigen Verhältnisse heißt: Das Elend
„vertilgen“. Die Versuchung, im Schnaps Vergessenheit und Freuden zu suchen, ist
für den Bergmann besonders groß. Die wirtschaftliche Lage der Arbeiter ( Bergleute )
ist, wie Sachkenner seit langem wissen und seit dem Streik jedermann weiß, der es
wissen will, keineswegs befriedigend. Der Ruhrbergmann verdient durchschnittlich
nicht so viel wie ein großstädtischer Arbeiter, obgleich die Lebensbedingungen beider
im allgemeinen gleich sind. Der Druck von „oben“ ist stark. Das Wagennullen
und die sonstigen Strafen rauben bekanntlich oft einen großen Teil des Verdienstes.
Es ist keine Seltenheit, daß, wie mir von einem Kenner berichtet wird, 1 / 3 des ge-
samten Verdienstes durch Wagennullen verloren geht und daß monatliche Strafen
von 24 und 26 Mk. verhängt werden.

Elend und Suff befinden sich hier wie vielfach anderswo in inniger Verkettung,
ihre Verbindung scheint sich immer unlöslicher zu gestalten. Das Alkoholkapital ver-
schmiert eifrig etwa noch vorhandene Ritzen. Jn der Nähe aller Zechen sieht man
die „Gastwirtschaften“, die nach der Erklärung eines Arbeiters richtiger den Namen
„Giftbuden“ tragen würden. Jn den Versammlungen der Arbeiter sieht man vielfach
den Wirt mit einer 3—5 Liter Branntwein enthaltenden Flasche und einem Glase
den Saal durchwandern, und Mann für Mann der Besucher zollt dem König Alkohol
den nötigen Tribut. Besonders schlimm ist es in den Distrikten, wo viele Polen
wohnen. Es wird dort der Durchschnittsverzehr an Branntwein auf 1 Liter von
Gastwirten selbst geschätzt. Was Wunder, wenn der Verschleißer bald reich, der
Verzehrer immer ärmer wird. Es wurde mir mitgeteilt, daß es Wirtschaften gibt,
die im Monat bis zu 2000 Liter Schnaps verkaufen und am Liter 45 Pf. Gewinn
erzielen.

Die Behörden haben insofern Schutz vor der Kneipe zu geben versucht, als sie
an vielen Stellen die Wirtschaften an den Lohntagen mehrere Stunden oder den
ganzen Tag haben schließen lassen. Dasselbe geschah am 6., 7. und 8. Februar,
als die erste Streikunterstützung ausgezahlt wurde.

Das Wichtigste gegen den Alkohol ist jedoch nicht von den Behörden, sondern
aus der Arbeiterschaft heraus geschehen. „Die Streikkomitees legen das größte Ge-
wicht darauf, daß sich die Streikenden strenge dem Alkohol enthalten. Überall

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[275/0035] Dr. Eggers: Der Streik gegen den Alkohol. Alkohol nicht lassen, ihre Vergangenheit ist vom Zauberlicht des funkelnden Weins beleuchtet, von der Behaglichkeit des Bierkneipens erfüllt, und auch die wilde Schnaps- berauschung steckt ihnen sehr im Blute. Die Trennung der deutschen Nation vom Alkohol bedeutet den Verlust eines nationalen Heiligtums, die Vernichtung eines großen Teiles vaterländischer Poesie. Um diese ihre Herzensangelegenheit vor dem Ansturm der Leute aus der Fremde, den „Abstinenten“, zu schützen, richten die guten Deutschen tagtäglich neue Verteidigungswerke auf, ein Laie nach dem andern, ein Gelehrter nach dem andern stellt die kühnsten Theorien über die Nützlichkeit, über die Herrlichkeit, über die Notwendigkeit des Alkoholgenusses auf. „Mit Worten läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten.“ Doch vor der ehernen Wirklichkeit, vor dem Schritt des allgewaltigen Schicksals brechen diese Gebäude der aus dem Herzen geschöpften Logik wie Kartenhäuser zu- sammen. Auf die Alkoholfrage ist seit langem kein so scharfes Licht gefallen, wie durch den Streik im Ruhrrevier. Von dem während dieses Streikes geführten Streik gegen den Alkohol sei im folgenden die Rede. Die Alkoholfrage als ein die Lösung dringend erheischendes Problem besteht seit langem im Ruhrrevier, der systematische Kampf gegen den Alkoholismus hat bis zum Beginn des Streikes dort so gut wie nicht existiert. Der rheinisch=westfälische Jndustriebezirk gehört nach dem Bericht von Kennern der Verhältnisse mit zu den „versoffensten“ Gegenden Deutschlands und ähnelt in der Beziehung dem Charakter von Ostpreußen, Posen, Oberschlesien. Für viele Bergleute ist der Schnaps der un- zertrennliche Freund, bei der Arbeit soll er ihnen „Kraft zuführen“, in der freien Zeit sie über die sie umgebende Öde und alle Widrigkeiten des Lebens „ hinweg- täuschen “, wie es in einem Bericht über die dortigen Verhältnisse heißt: Das Elend „vertilgen“. Die Versuchung, im Schnaps Vergessenheit und Freuden zu suchen, ist für den Bergmann besonders groß. Die wirtschaftliche Lage der Arbeiter ( Bergleute ) ist, wie Sachkenner seit langem wissen und seit dem Streik jedermann weiß, der es wissen will, keineswegs befriedigend. Der Ruhrbergmann verdient durchschnittlich nicht so viel wie ein großstädtischer Arbeiter, obgleich die Lebensbedingungen beider im allgemeinen gleich sind. Der Druck von „oben“ ist stark. Das Wagennullen und die sonstigen Strafen rauben bekanntlich oft einen großen Teil des Verdienstes. Es ist keine Seltenheit, daß, wie mir von einem Kenner berichtet wird, 1 / 3 des ge- samten Verdienstes durch Wagennullen verloren geht und daß monatliche Strafen von 24 und 26 Mk. verhängt werden. Elend und Suff befinden sich hier wie vielfach anderswo in inniger Verkettung, ihre Verbindung scheint sich immer unlöslicher zu gestalten. Das Alkoholkapital ver- schmiert eifrig etwa noch vorhandene Ritzen. Jn der Nähe aller Zechen sieht man die „Gastwirtschaften“, die nach der Erklärung eines Arbeiters richtiger den Namen „Giftbuden“ tragen würden. Jn den Versammlungen der Arbeiter sieht man vielfach den Wirt mit einer 3—5 Liter Branntwein enthaltenden Flasche und einem Glase den Saal durchwandern, und Mann für Mann der Besucher zollt dem König Alkohol den nötigen Tribut. Besonders schlimm ist es in den Distrikten, wo viele Polen wohnen. Es wird dort der Durchschnittsverzehr an Branntwein auf 1 Liter von Gastwirten selbst geschätzt. Was Wunder, wenn der Verschleißer bald reich, der Verzehrer immer ärmer wird. Es wurde mir mitgeteilt, daß es Wirtschaften gibt, die im Monat bis zu 2000 Liter Schnaps verkaufen und am Liter 45 Pf. Gewinn erzielen. Die Behörden haben insofern Schutz vor der Kneipe zu geben versucht, als sie an vielen Stellen die Wirtschaften an den Lohntagen mehrere Stunden oder den ganzen Tag haben schließen lassen. Dasselbe geschah am 6., 7. und 8. Februar, als die erste Streikunterstützung ausgezahlt wurde. Das Wichtigste gegen den Alkohol ist jedoch nicht von den Behörden, sondern aus der Arbeiterschaft heraus geschehen. „Die Streikkomitees legen das größte Ge- wicht darauf, daß sich die Streikenden strenge dem Alkohol enthalten. Überall

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 6. Berlin-Charlottenburg, 23. Februar 1905, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0106_1905/35>, abgerufen am 24.11.2024.