Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905.

Bild:
<< vorherige Seite

Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian.
sich die heutige Agrarpolitik und die Sozialpolitik in jeder Weise. Sozial-
politik heißt möglichste systematische Arbeit für die Überleitung der Klassen-
wirtschaft in demokratisierte Wirtschaft, die heutige Agrarpolitik heißt: Mög-
lichste Befestigung der Klassenwirtschaft. Sie kann also nur das Resultat
haben, die Reichslokomotive auf einen Strang zu bringen, wo ihr jeder Weg
zu ernster Sozialreform abgeschnitten ist. Das wird der Reichslokomotiv-
führer, sofern er es nicht selbst sieht, und das werden alle, die auf ihn hoffen,
immer deutlicher zu spüren bekommen.

[Abbildung]
Adolf Bastian.
( 26. Juni 1826 -- 25. Januar 1905. )
Von Prof. Ludwig Gumplowicz, Graz.

Die Welt ist um ein schier unfaßbares Phänomen ärmer geworden. Die
staunende Nachwelt kann nun beginnen es zu studieren. Sie wird lange
damit nicht fertig werden.

Das 19. Jahrhundert war noch nicht vergangen, so lange Bastian lebte;
wie der Tag noch dauert, so lange der letzte Glühpunkt der untergehenden
Sonne uns seine Strahlen sendet. Jetzt ist es von uns geschieden. Der
größte Gelehrte, den es hervorgebracht, um deswillen es zu den geistig pro-
duktivsten gezählt werden wird, ist gestorben. Sein Wissen umspannte die
Menschheit in Zeit und Raum und die großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts
nehmen sich, an ihm gemessen, allesamt aus wie Schüler um ihren Lehrer.
All sein Wissen aber stellte er in den Dienst einer Jdee, wie sie kein früheres
Jahrhundert je ahnen konnte.

Jetzt erst können wir das verflossene Jahrhundert ganz würdigen. Jn
der Reihe der vergangenen kommt ihm keines gleich. Das 15. Jahrhundert
hat wohl zwei große Entdecker hervorgebracht: Kolumbus und Kopernikus.
Der eine hat einen Weltteil entdeckt; der andere die Mechanik des Weltsystems.
Bastian aber hat nicht nur die Menscheit in dem umfassendsten Sinne des
Wortes entdeckt, sondern auch die Mechanik des Menschheitssystems, die er als
"Menschheitsgedanken" bezeichnet. Er ward somit der Kolumbus und Ko-
pernikus des 19. Jahrhunderts in einer Person. Nun ist aber für die Men-
schen seine Entdeckung viel wichtiger, als die jener beiden großen Entdecker.

Kolumbus hat uns zur Kenntnis unseres ganzen Wohnsitzes, des Erd-
balles, verholfen; Kopernikus zeigte uns, welche Stelle und welchen Rang
dieser Erdball im Weltall einnimmt: Bastian aber entdeckte die Mensch-
heit
selbst, indem er uns zeigte, was diese eigentlich ist -- eine vergäng-
liche, immer sich erneuernde Stoffkonstellation, ein ewig fließender Strom, in

Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian.
sich die heutige Agrarpolitik und die Sozialpolitik in jeder Weise. Sozial-
politik heißt möglichste systematische Arbeit für die Überleitung der Klassen-
wirtschaft in demokratisierte Wirtschaft, die heutige Agrarpolitik heißt: Mög-
lichste Befestigung der Klassenwirtschaft. Sie kann also nur das Resultat
haben, die Reichslokomotive auf einen Strang zu bringen, wo ihr jeder Weg
zu ernster Sozialreform abgeschnitten ist. Das wird der Reichslokomotiv-
führer, sofern er es nicht selbst sieht, und das werden alle, die auf ihn hoffen,
immer deutlicher zu spüren bekommen.

[Abbildung]
Adolf Bastian.
( 26. Juni 1826 — 25. Januar 1905. )
Von Prof. Ludwig Gumplowicz, Graz.

Die Welt ist um ein schier unfaßbares Phänomen ärmer geworden. Die
staunende Nachwelt kann nun beginnen es zu studieren. Sie wird lange
damit nicht fertig werden.

Das 19. Jahrhundert war noch nicht vergangen, so lange Bastian lebte;
wie der Tag noch dauert, so lange der letzte Glühpunkt der untergehenden
Sonne uns seine Strahlen sendet. Jetzt ist es von uns geschieden. Der
größte Gelehrte, den es hervorgebracht, um deswillen es zu den geistig pro-
duktivsten gezählt werden wird, ist gestorben. Sein Wissen umspannte die
Menschheit in Zeit und Raum und die großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts
nehmen sich, an ihm gemessen, allesamt aus wie Schüler um ihren Lehrer.
All sein Wissen aber stellte er in den Dienst einer Jdee, wie sie kein früheres
Jahrhundert je ahnen konnte.

Jetzt erst können wir das verflossene Jahrhundert ganz würdigen. Jn
der Reihe der vergangenen kommt ihm keines gleich. Das 15. Jahrhundert
hat wohl zwei große Entdecker hervorgebracht: Kolumbus und Kopernikus.
Der eine hat einen Weltteil entdeckt; der andere die Mechanik des Weltsystems.
Bastian aber hat nicht nur die Menscheit in dem umfassendsten Sinne des
Wortes entdeckt, sondern auch die Mechanik des Menschheitssystems, die er als
„Menschheitsgedanken“ bezeichnet. Er ward somit der Kolumbus und Ko-
pernikus des 19. Jahrhunderts in einer Person. Nun ist aber für die Men-
schen seine Entdeckung viel wichtiger, als die jener beiden großen Entdecker.

Kolumbus hat uns zur Kenntnis unseres ganzen Wohnsitzes, des Erd-
balles, verholfen; Kopernikus zeigte uns, welche Stelle und welchen Rang
dieser Erdball im Weltall einnimmt: Bastian aber entdeckte die Mensch-
heit
selbst, indem er uns zeigte, was diese eigentlich ist — eine vergäng-
liche, immer sich erneuernde Stoffkonstellation, ein ewig fließender Strom, in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <p><pb facs="#f0007" n="343"/><fw type="header" place="top">Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian.</fw><lb/>
sich die heutige Agrarpolitik und die Sozialpolitik in jeder Weise. Sozial-<lb/>
politik heißt möglichste systematische Arbeit für die Überleitung der Klassen-<lb/>
wirtschaft in demokratisierte Wirtschaft, die heutige Agrarpolitik heißt: Mög-<lb/>
lichste Befestigung der Klassenwirtschaft. Sie kann also nur das Resultat<lb/>
haben, die Reichslokomotive auf einen Strang zu bringen, wo ihr jeder Weg<lb/>
zu ernster Sozialreform abgeschnitten ist. Das wird der Reichslokomotiv-<lb/>
führer, sofern er es nicht selbst sieht, und das werden alle, die auf ihn hoffen,<lb/>
immer deutlicher zu spüren bekommen.</p>
      </div><lb/>
      <figure/><lb/>
      <div type="jArticle" n="1">
        <head><hi rendition="#fr">Adolf Bastian.</hi><lb/>
( 26. Juni 1826 &#x2014; 25. Januar 1905. )<lb/><bibl>Von <author>Prof. <hi rendition="#g">Ludwig Gumplowicz</hi></author>, Graz.</bibl></head><lb/>
        <p>Die Welt ist um ein schier unfaßbares Phänomen ärmer geworden. Die<lb/>
staunende Nachwelt kann nun beginnen es zu studieren. Sie wird lange<lb/>
damit nicht fertig werden.</p><lb/>
        <p>Das 19. Jahrhundert war noch nicht vergangen, so lange Bastian lebte;<lb/>
wie der Tag noch dauert, so lange der letzte Glühpunkt der untergehenden<lb/>
Sonne uns seine Strahlen sendet. Jetzt ist es von uns geschieden. Der<lb/>
größte Gelehrte, den es hervorgebracht, um deswillen es zu den geistig pro-<lb/>
duktivsten gezählt werden wird, ist gestorben. Sein Wissen umspannte die<lb/>
Menschheit in Zeit und Raum und die großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts<lb/>
nehmen sich, an ihm gemessen, allesamt aus wie Schüler um ihren Lehrer.<lb/>
All sein Wissen aber stellte er in den Dienst einer Jdee, wie sie kein früheres<lb/>
Jahrhundert je ahnen konnte.</p><lb/>
        <p>Jetzt erst können wir das verflossene Jahrhundert <hi rendition="#g">ganz</hi> würdigen. Jn<lb/>
der Reihe der vergangenen kommt ihm keines gleich. Das 15. Jahrhundert<lb/>
hat wohl zwei große Entdecker hervorgebracht: Kolumbus und Kopernikus.<lb/>
Der eine hat einen Weltteil entdeckt; der andere die Mechanik des Weltsystems.<lb/>
Bastian aber hat nicht nur die Menscheit in dem umfassendsten Sinne des<lb/>
Wortes entdeckt, sondern auch die Mechanik des Menschheitssystems, die er als<lb/>
&#x201E;Menschheitsgedanken&#x201C; bezeichnet. Er ward somit der Kolumbus und Ko-<lb/>
pernikus des 19. Jahrhunderts in einer Person. Nun ist aber für die Men-<lb/>
schen seine Entdeckung viel wichtiger, als die jener beiden großen Entdecker.</p><lb/>
        <p>Kolumbus hat uns zur Kenntnis unseres <hi rendition="#g">ganzen</hi> Wohnsitzes, des Erd-<lb/>
balles, verholfen; Kopernikus zeigte uns, welche Stelle und welchen Rang<lb/>
dieser Erdball im Weltall einnimmt: Bastian aber entdeckte die <hi rendition="#g">Mensch-<lb/>
heit</hi> selbst, indem er uns zeigte, was diese eigentlich ist &#x2014; eine vergäng-<lb/>
liche, immer sich erneuernde Stoffkonstellation, ein ewig fließender Strom, in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[343/0007] Prof. Ludwig Gumplowicz: Adolf Bastian. sich die heutige Agrarpolitik und die Sozialpolitik in jeder Weise. Sozial- politik heißt möglichste systematische Arbeit für die Überleitung der Klassen- wirtschaft in demokratisierte Wirtschaft, die heutige Agrarpolitik heißt: Mög- lichste Befestigung der Klassenwirtschaft. Sie kann also nur das Resultat haben, die Reichslokomotive auf einen Strang zu bringen, wo ihr jeder Weg zu ernster Sozialreform abgeschnitten ist. Das wird der Reichslokomotiv- führer, sofern er es nicht selbst sieht, und das werden alle, die auf ihn hoffen, immer deutlicher zu spüren bekommen. [Abbildung] Adolf Bastian. ( 26. Juni 1826 — 25. Januar 1905. ) Von Prof. Ludwig Gumplowicz, Graz. Die Welt ist um ein schier unfaßbares Phänomen ärmer geworden. Die staunende Nachwelt kann nun beginnen es zu studieren. Sie wird lange damit nicht fertig werden. Das 19. Jahrhundert war noch nicht vergangen, so lange Bastian lebte; wie der Tag noch dauert, so lange der letzte Glühpunkt der untergehenden Sonne uns seine Strahlen sendet. Jetzt ist es von uns geschieden. Der größte Gelehrte, den es hervorgebracht, um deswillen es zu den geistig pro- duktivsten gezählt werden wird, ist gestorben. Sein Wissen umspannte die Menschheit in Zeit und Raum und die großen Gelehrten des 19. Jahrhunderts nehmen sich, an ihm gemessen, allesamt aus wie Schüler um ihren Lehrer. All sein Wissen aber stellte er in den Dienst einer Jdee, wie sie kein früheres Jahrhundert je ahnen konnte. Jetzt erst können wir das verflossene Jahrhundert ganz würdigen. Jn der Reihe der vergangenen kommt ihm keines gleich. Das 15. Jahrhundert hat wohl zwei große Entdecker hervorgebracht: Kolumbus und Kopernikus. Der eine hat einen Weltteil entdeckt; der andere die Mechanik des Weltsystems. Bastian aber hat nicht nur die Menscheit in dem umfassendsten Sinne des Wortes entdeckt, sondern auch die Mechanik des Menschheitssystems, die er als „Menschheitsgedanken“ bezeichnet. Er ward somit der Kolumbus und Ko- pernikus des 19. Jahrhunderts in einer Person. Nun ist aber für die Men- schen seine Entdeckung viel wichtiger, als die jener beiden großen Entdecker. Kolumbus hat uns zur Kenntnis unseres ganzen Wohnsitzes, des Erd- balles, verholfen; Kopernikus zeigte uns, welche Stelle und welchen Rang dieser Erdball im Weltall einnimmt: Bastian aber entdeckte die Mensch- heit selbst, indem er uns zeigte, was diese eigentlich ist — eine vergäng- liche, immer sich erneuernde Stoffkonstellation, ein ewig fließender Strom, in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/7
Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 8. Berlin-Charlottenburg, 9. März 1905, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0108_1905/7>, abgerufen am 03.12.2024.