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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.

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E. Pernerstorfer: Die Krise des Dualismus.
[Abbildung]
Die Krise des Dualismus in Oesterreich.
Von Engelbert Pernerstorfer, Reichsratsabgeordneter ( Wien ) .

Bevor ich an die Erörterung des höchst wichtigen Nationalitätenproblems
in Oesterreich schreite, ist es noch nötig, den gegenwärtigen Stand des Ver-
hältnisses zu besprechen, in dem Westösterreich und Ungarn zu einander stehen.
Jn dem Artikel, den ich im 3. Heft der "Europa" unter dem Titel "Die
österreichische Staatskrise" veröffentlichte, kam ich zu dem Schlusse, daß die
österreichische Monarchie wichtigen Entscheidungen entgegengeht. Hüben und
drüben. Als ich den Artikel niederschrieb, stand Ungarn im Zeichen der Wahlen.
Wie ich vorhergesagt, erlitt Tisza eine Niederlage, deren Umfang freilich
allgemein überraschte. Die vereinigten Oppositionsparteien erlangten die abso-
lute Mehrheit der Stimmen im Abgeordnetenhause. Ueber einen Monat
ziehen sich schon die Verhandlungen dieser neuen Mehrheit mit der Krone behufs
Bildung eines Koalitionsministeriums hin. Ueber zwei Dutzend hervorragender
Politiker Ungarns hat der Kaiser bereits zu Rate gezogen, aber immer noch
führt Graf Tisza provisorisch die Geschäfte weiter und das neu gewählte
Parlament kann noch immer keine meritorische Sitzung abhalten, weil es sich
gegenüber kein Ministerium hat, das das Vertrauen des Hauses besäße. Und
das alles, weil die Krone den Forderungen der Mehrheit besonders in einem
Punkte hartnäckigen Widerstand entgegensetzt. Das entscheidende Wort in der
koalierten Opposition führt die Unabhängigkeitspartei. Der Kaiser mußte
ja sogar ihren Führer, Kossuth, den Sohn jenes Kossuth, der im Jahre 1848
das Haus Habsburg des ungarischen Thrones verlustig erklärt hatte, empfangen.
Es mochte eine bittere Stunde für den alten Monarchen sein! Die Unab-
hängigkeitspartei aber fußt programmatisch auf dem Gedanken des selbständigen
magyarischen Staates. Sie will also die Trennung von Oesterreich, die Er-
setzung der heutigen Realunion durch die Personalunion, ein selbständiges Zoll-
gebiet und -- eine selbständige ungarische Armee. Jn bezug auf den letzten
Punkt hat sie durch die Obstruktion schon wichtige Zugeständnisse bezüglich
der Armeesprache, der Embleme usw. erlangt, aber nun scheint der Punkt ge-
kommen zu sein, wo die Krone nicht mehr weiter nachgeben will. Wenigstens
der Schein der einheitlichen Armee soll aufrechterhalten werden. Will die
Unabhängigkeitspartei zur Regierung kommen, so wird sie in ihren Wein
Wasser gießen müssen, sie wird in ihrer Verständigung mit der Krone ihre
Forderungen für den Augenblick etwas reduzieren müssen, um sie später um
so gewisser durchzusetzen. Das wird freilich nicht ohne Widerstände gehen und
ein Teil der Unabhängigkeitspartei wird intransigent bleiben.

Aber die österreichische Staatskrise, von der ich in meinem ersten Artikel
gesprochen habe und die ich in erster Linie als eine innere Krise Westösterreichs

E. Pernerstorfer: Die Krise des Dualismus.
[Abbildung]
Die Krise des Dualismus in Oesterreich.
Von Engelbert Pernerstorfer, Reichsratsabgeordneter ( Wien ) .

Bevor ich an die Erörterung des höchst wichtigen Nationalitätenproblems
in Oesterreich schreite, ist es noch nötig, den gegenwärtigen Stand des Ver-
hältnisses zu besprechen, in dem Westösterreich und Ungarn zu einander stehen.
Jn dem Artikel, den ich im 3. Heft der „Europa“ unter dem Titel „Die
österreichische Staatskrise“ veröffentlichte, kam ich zu dem Schlusse, daß die
österreichische Monarchie wichtigen Entscheidungen entgegengeht. Hüben und
drüben. Als ich den Artikel niederschrieb, stand Ungarn im Zeichen der Wahlen.
Wie ich vorhergesagt, erlitt Tisza eine Niederlage, deren Umfang freilich
allgemein überraschte. Die vereinigten Oppositionsparteien erlangten die abso-
lute Mehrheit der Stimmen im Abgeordnetenhause. Ueber einen Monat
ziehen sich schon die Verhandlungen dieser neuen Mehrheit mit der Krone behufs
Bildung eines Koalitionsministeriums hin. Ueber zwei Dutzend hervorragender
Politiker Ungarns hat der Kaiser bereits zu Rate gezogen, aber immer noch
führt Graf Tisza provisorisch die Geschäfte weiter und das neu gewählte
Parlament kann noch immer keine meritorische Sitzung abhalten, weil es sich
gegenüber kein Ministerium hat, das das Vertrauen des Hauses besäße. Und
das alles, weil die Krone den Forderungen der Mehrheit besonders in einem
Punkte hartnäckigen Widerstand entgegensetzt. Das entscheidende Wort in der
koalierten Opposition führt die Unabhängigkeitspartei. Der Kaiser mußte
ja sogar ihren Führer, Kossuth, den Sohn jenes Kossuth, der im Jahre 1848
das Haus Habsburg des ungarischen Thrones verlustig erklärt hatte, empfangen.
Es mochte eine bittere Stunde für den alten Monarchen sein! Die Unab-
hängigkeitspartei aber fußt programmatisch auf dem Gedanken des selbständigen
magyarischen Staates. Sie will also die Trennung von Oesterreich, die Er-
setzung der heutigen Realunion durch die Personalunion, ein selbständiges Zoll-
gebiet und — eine selbständige ungarische Armee. Jn bezug auf den letzten
Punkt hat sie durch die Obstruktion schon wichtige Zugeständnisse bezüglich
der Armeesprache, der Embleme usw. erlangt, aber nun scheint der Punkt ge-
kommen zu sein, wo die Krone nicht mehr weiter nachgeben will. Wenigstens
der Schein der einheitlichen Armee soll aufrechterhalten werden. Will die
Unabhängigkeitspartei zur Regierung kommen, so wird sie in ihren Wein
Wasser gießen müssen, sie wird in ihrer Verständigung mit der Krone ihre
Forderungen für den Augenblick etwas reduzieren müssen, um sie später um
so gewisser durchzusetzen. Das wird freilich nicht ohne Widerstände gehen und
ein Teil der Unabhängigkeitspartei wird intransigent bleiben.

Aber die österreichische Staatskrise, von der ich in meinem ersten Artikel
gesprochen habe und die ich in erster Linie als eine innere Krise Westösterreichs

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[443/0011] E. Pernerstorfer: Die Krise des Dualismus. [Abbildung] Die Krise des Dualismus in Oesterreich. Von Engelbert Pernerstorfer, Reichsratsabgeordneter ( Wien ) . Bevor ich an die Erörterung des höchst wichtigen Nationalitätenproblems in Oesterreich schreite, ist es noch nötig, den gegenwärtigen Stand des Ver- hältnisses zu besprechen, in dem Westösterreich und Ungarn zu einander stehen. Jn dem Artikel, den ich im 3. Heft der „Europa“ unter dem Titel „Die österreichische Staatskrise“ veröffentlichte, kam ich zu dem Schlusse, daß die österreichische Monarchie wichtigen Entscheidungen entgegengeht. Hüben und drüben. Als ich den Artikel niederschrieb, stand Ungarn im Zeichen der Wahlen. Wie ich vorhergesagt, erlitt Tisza eine Niederlage, deren Umfang freilich allgemein überraschte. Die vereinigten Oppositionsparteien erlangten die abso- lute Mehrheit der Stimmen im Abgeordnetenhause. Ueber einen Monat ziehen sich schon die Verhandlungen dieser neuen Mehrheit mit der Krone behufs Bildung eines Koalitionsministeriums hin. Ueber zwei Dutzend hervorragender Politiker Ungarns hat der Kaiser bereits zu Rate gezogen, aber immer noch führt Graf Tisza provisorisch die Geschäfte weiter und das neu gewählte Parlament kann noch immer keine meritorische Sitzung abhalten, weil es sich gegenüber kein Ministerium hat, das das Vertrauen des Hauses besäße. Und das alles, weil die Krone den Forderungen der Mehrheit besonders in einem Punkte hartnäckigen Widerstand entgegensetzt. Das entscheidende Wort in der koalierten Opposition führt die Unabhängigkeitspartei. Der Kaiser mußte ja sogar ihren Führer, Kossuth, den Sohn jenes Kossuth, der im Jahre 1848 das Haus Habsburg des ungarischen Thrones verlustig erklärt hatte, empfangen. Es mochte eine bittere Stunde für den alten Monarchen sein! Die Unab- hängigkeitspartei aber fußt programmatisch auf dem Gedanken des selbständigen magyarischen Staates. Sie will also die Trennung von Oesterreich, die Er- setzung der heutigen Realunion durch die Personalunion, ein selbständiges Zoll- gebiet und — eine selbständige ungarische Armee. Jn bezug auf den letzten Punkt hat sie durch die Obstruktion schon wichtige Zugeständnisse bezüglich der Armeesprache, der Embleme usw. erlangt, aber nun scheint der Punkt ge- kommen zu sein, wo die Krone nicht mehr weiter nachgeben will. Wenigstens der Schein der einheitlichen Armee soll aufrechterhalten werden. Will die Unabhängigkeitspartei zur Regierung kommen, so wird sie in ihren Wein Wasser gießen müssen, sie wird in ihrer Verständigung mit der Krone ihre Forderungen für den Augenblick etwas reduzieren müssen, um sie später um so gewisser durchzusetzen. Das wird freilich nicht ohne Widerstände gehen und ein Teil der Unabhängigkeitspartei wird intransigent bleiben. Aber die österreichische Staatskrise, von der ich in meinem ersten Artikel gesprochen habe und die ich in erster Linie als eine innere Krise Westösterreichs

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0110_1905/11>, abgerufen am 27.11.2024.