Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 10. Berlin-Charlottenburg, 23. März 1905.Rich. Calwer: Adolf Wagner. "Namentlich bei den üblichen Schulstreitigkeiten über die "richtige Methode",wie sie neuerdings auch in der deutschen Nationalökonomie so anmutig geführt werden, in der einer bestimmten geistigen Jndividualität entsprechenden lite- rarischen Kritik der Arbeiten anderer "Richtungen" zeigt sich die Jgnorierung oder falsche Beurteilung des Mitspielens jenes Faktors ( geistige Jndividualität ) in recht unerfreulichen Folgen: hochmütiges, borniertes, schulmeisterliches Ab- sprechen über andersartige Leistungen, als die eigenen und der der geistesver- wandten Freunde, Beurteilung aller literarischen Arbeiten immer nur an dem Maßstabe der eigenen geistigen Jndividualität, die damit wie selbstverständlich zur allein berechtigten gemacht und zur alles allein entscheidenden -- " päpst- lichen " -- Jnstanz erhoben wird, was denn manches Weitere, auch für die äußeren Lebensverhältnisse und persönlichen Bestrebungen nicht Unwichtige, aber wenig Erwünschte mit sich führt." Wie richtig charakterisiert Wagner hier den Papismus der zünftigen Da tritt bei einer Debatte über Agrarfragen ein Abgeordneter ohne Ar Nehmen wir z. B. einen Arbeiter, so ist in der Regel zuzugeben, daß Rich. Calwer: Adolf Wagner. „Namentlich bei den üblichen Schulstreitigkeiten über die „richtige Methode“,wie sie neuerdings auch in der deutschen Nationalökonomie so anmutig geführt werden, in der einer bestimmten geistigen Jndividualität entsprechenden lite- rarischen Kritik der Arbeiten anderer „Richtungen“ zeigt sich die Jgnorierung oder falsche Beurteilung des Mitspielens jenes Faktors ( geistige Jndividualität ) in recht unerfreulichen Folgen: hochmütiges, borniertes, schulmeisterliches Ab- sprechen über andersartige Leistungen, als die eigenen und der der geistesver- wandten Freunde, Beurteilung aller literarischen Arbeiten immer nur an dem Maßstabe der eigenen geistigen Jndividualität, die damit wie selbstverständlich zur allein berechtigten gemacht und zur alles allein entscheidenden — „ päpst- lichen “ — Jnstanz erhoben wird, was denn manches Weitere, auch für die äußeren Lebensverhältnisse und persönlichen Bestrebungen nicht Unwichtige, aber wenig Erwünschte mit sich führt.“ Wie richtig charakterisiert Wagner hier den Papismus der zünftigen Da tritt bei einer Debatte über Agrarfragen ein Abgeordneter ohne Ar Nehmen wir z. B. einen Arbeiter, so ist in der Regel zuzugeben, daß <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <p><pb facs="#f0020" n="452"/><fw type="header" place="top">Rich. Calwer: Adolf Wagner.</fw><lb/> „Namentlich bei den üblichen Schulstreitigkeiten über die „richtige Methode“,<lb/> wie sie neuerdings auch in der deutschen Nationalökonomie so anmutig geführt<lb/> werden, in der einer bestimmten geistigen Jndividualität entsprechenden lite-<lb/> rarischen Kritik der Arbeiten anderer „Richtungen“ zeigt sich die Jgnorierung<lb/> oder falsche Beurteilung des Mitspielens jenes Faktors ( geistige Jndividualität )<lb/> in recht unerfreulichen Folgen: hochmütiges, borniertes, schulmeisterliches Ab-<lb/> sprechen über andersartige Leistungen, als die eigenen und der der geistesver-<lb/> wandten Freunde, Beurteilung aller literarischen Arbeiten immer nur an dem<lb/> Maßstabe der eigenen geistigen Jndividualität, die damit wie selbstverständlich<lb/> zur allein berechtigten gemacht und zur alles allein entscheidenden — „ päpst-<lb/> lichen “ — Jnstanz erhoben wird, was denn manches Weitere, auch für die<lb/> äußeren Lebensverhältnisse und persönlichen Bestrebungen nicht Unwichtige, aber<lb/> wenig Erwünschte mit sich führt.“</p><lb/> <p>Wie richtig charakterisiert Wagner hier den Papismus der zünftigen<lb/> Wissenschaft! Aber seien wir gerecht: nicht nur die Jnhaber der akademischen<lb/> Lehrstühle leiden an einer schädlichen Jntoleranz, das Uebel ist so allgemein,<lb/> daß kein Gebiet des öffentlichen Lebens von ihm verschont bleibt. Wohin<lb/> wir blicken, überall tritt ein übertriebenes Selbstbewußtsein zutage, das um<lb/> so größer ist, je schwächer die Selbsterkenntnis entwickelt ist. Der Vorgesetzte<lb/> spielt sich den Untergebenen gegenüber als der Allmächtige und Allwissende auf,<lb/> obwohl er oft an Fach= und allgemeiner Bildung weit hinter seinen Ange-<lb/> stellten zurückbleibt. Der Fachmann weist überlegen alle Belehrungen von sich,<lb/> die aus anderen als Fachkreisen an ihn herantreten. Die schönsten Beispiele<lb/> in dieser Beziehung bietet uns das parlamentarische Leben.</p><lb/> <p>Da tritt bei einer Debatte über Agrarfragen ein Abgeordneter ohne Ar<lb/> und Halm ans Rednerpult und wagt, den Jnteressenstandpunkt der Landwirte<lb/> scharf zu bekämpfen. Er trägt wissenschaftlich wohl vertretbares Material gegen<lb/> die gesetzgeberischen Forderungen der Landwirte vor und denkt bei sich, daß<lb/> seine Beweisführung zum mindestens auf die Nichtinteressenten wirken müsse.<lb/> Aber was erfährt er? Ein Jnteressent entgegnet ihm, ganz leichthin, von oben<lb/> herab: „Was willst denn Du, Du verstehst ja nichts vom landwirtschaftlichen<lb/> Betriebe, Du bist ja kein Landwirt, wie kannst Du überhaupt Dir anmaßen,<lb/> über landwirtschaftliche Dinge mitzureden.“ Und siehe da! Diese Entgegnung<lb/> findet Resonanz: Der Jnteressent gilt mehr als der Unbeteiligte. Ganz genau<lb/> so ist's aber auch bei der Beurteilung von anderen Fragen, die die Jndustrie,<lb/> den Handel oder den Arbeitsmarkt angehen. Das geht hinauf bis zur Be-<lb/> handlung der auswärtigen Politik, von der nur die Diplomaten etwas verstehen<lb/> dürfen. Beruht aber die hier gekennzeichnete Haltung der Jnteressenten nicht<lb/> auf einem ganz falschen und übertriebenen Selbstbewußtsein? Jst es denn wirk-<lb/> lich wahr, daß der Fachmann und nur er allein zu beurteilen weiß, was seinem<lb/> Berufe, seinem Stande, seiner Klasse frommt?</p><lb/> <p>Nehmen wir z. B. einen Arbeiter, so ist in der Regel zuzugeben, daß<lb/> er sein eigenes Jnteresse am besten kennt und vielleicht auch am genauesten<lb/> weiß, wie es zu verfolgen ist. Aber wird er auch weiter imstande sein, die<lb/> Jnteressen auch nur seiner Berufskollegen am nämlichen Orte zu kennen und<lb/> sich zum Anwalt dieser Jnteressen zu machen? Dazu gehört eben schon mehr<lb/> als bloß Arbeiter zu sein, dazu gehören Kenntnisse, die durch Beobachtung und </p> </div> </body> </text> </TEI> [452/0020]
Rich. Calwer: Adolf Wagner.
„Namentlich bei den üblichen Schulstreitigkeiten über die „richtige Methode“,
wie sie neuerdings auch in der deutschen Nationalökonomie so anmutig geführt
werden, in der einer bestimmten geistigen Jndividualität entsprechenden lite-
rarischen Kritik der Arbeiten anderer „Richtungen“ zeigt sich die Jgnorierung
oder falsche Beurteilung des Mitspielens jenes Faktors ( geistige Jndividualität )
in recht unerfreulichen Folgen: hochmütiges, borniertes, schulmeisterliches Ab-
sprechen über andersartige Leistungen, als die eigenen und der der geistesver-
wandten Freunde, Beurteilung aller literarischen Arbeiten immer nur an dem
Maßstabe der eigenen geistigen Jndividualität, die damit wie selbstverständlich
zur allein berechtigten gemacht und zur alles allein entscheidenden — „ päpst-
lichen “ — Jnstanz erhoben wird, was denn manches Weitere, auch für die
äußeren Lebensverhältnisse und persönlichen Bestrebungen nicht Unwichtige, aber
wenig Erwünschte mit sich führt.“
Wie richtig charakterisiert Wagner hier den Papismus der zünftigen
Wissenschaft! Aber seien wir gerecht: nicht nur die Jnhaber der akademischen
Lehrstühle leiden an einer schädlichen Jntoleranz, das Uebel ist so allgemein,
daß kein Gebiet des öffentlichen Lebens von ihm verschont bleibt. Wohin
wir blicken, überall tritt ein übertriebenes Selbstbewußtsein zutage, das um
so größer ist, je schwächer die Selbsterkenntnis entwickelt ist. Der Vorgesetzte
spielt sich den Untergebenen gegenüber als der Allmächtige und Allwissende auf,
obwohl er oft an Fach= und allgemeiner Bildung weit hinter seinen Ange-
stellten zurückbleibt. Der Fachmann weist überlegen alle Belehrungen von sich,
die aus anderen als Fachkreisen an ihn herantreten. Die schönsten Beispiele
in dieser Beziehung bietet uns das parlamentarische Leben.
Da tritt bei einer Debatte über Agrarfragen ein Abgeordneter ohne Ar
und Halm ans Rednerpult und wagt, den Jnteressenstandpunkt der Landwirte
scharf zu bekämpfen. Er trägt wissenschaftlich wohl vertretbares Material gegen
die gesetzgeberischen Forderungen der Landwirte vor und denkt bei sich, daß
seine Beweisführung zum mindestens auf die Nichtinteressenten wirken müsse.
Aber was erfährt er? Ein Jnteressent entgegnet ihm, ganz leichthin, von oben
herab: „Was willst denn Du, Du verstehst ja nichts vom landwirtschaftlichen
Betriebe, Du bist ja kein Landwirt, wie kannst Du überhaupt Dir anmaßen,
über landwirtschaftliche Dinge mitzureden.“ Und siehe da! Diese Entgegnung
findet Resonanz: Der Jnteressent gilt mehr als der Unbeteiligte. Ganz genau
so ist's aber auch bei der Beurteilung von anderen Fragen, die die Jndustrie,
den Handel oder den Arbeitsmarkt angehen. Das geht hinauf bis zur Be-
handlung der auswärtigen Politik, von der nur die Diplomaten etwas verstehen
dürfen. Beruht aber die hier gekennzeichnete Haltung der Jnteressenten nicht
auf einem ganz falschen und übertriebenen Selbstbewußtsein? Jst es denn wirk-
lich wahr, daß der Fachmann und nur er allein zu beurteilen weiß, was seinem
Berufe, seinem Stande, seiner Klasse frommt?
Nehmen wir z. B. einen Arbeiter, so ist in der Regel zuzugeben, daß
er sein eigenes Jnteresse am besten kennt und vielleicht auch am genauesten
weiß, wie es zu verfolgen ist. Aber wird er auch weiter imstande sein, die
Jnteressen auch nur seiner Berufskollegen am nämlichen Orte zu kennen und
sich zum Anwalt dieser Jnteressen zu machen? Dazu gehört eben schon mehr
als bloß Arbeiter zu sein, dazu gehören Kenntnisse, die durch Beobachtung und
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