Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.Dr. Bruno Wille: Herzenslogik. werden. So verfährt ein Maler, der, an einer Landschaft vorüberfahrend,mit wenigen Strichen ein paar sympathische Einzelheiten skizziert und hinterher eine künstlerische Einheit daraus gestaltet. Das so entstandene Kunstwerk ist im Vergleich zu einer Photographie unrealistisch; aber der Maler würde von der Photographie sagen: "Sie wiederholt die gewöhnliche Wirklichkeit, die das bloß sinnlich beobachtende Auge empfindet; mein Gemälde aber gestaltet eine höhere Wirklichkeit, wie sie von mir und gleich gestimmten Menschen im Ge- müte erlebt wird." Der Künstler, der ein Stück Leben so gestaltet, wie er es liebt und als stimmungsvoll empfindet, folgt seiner Herzenslogik; eine Logik waltet offenbar in seiner Gestaltung, obwohl sie nicht aus Verstandes- schlüssen sich zusammensetzt. An dieser Stelle wird es angebracht sein, einem Einwande Rede zu Nun freilich bleiben die aparten Persönlichkeiten, die wir Künstler nennen, Dr. Bruno Wille: Herzenslogik. werden. So verfährt ein Maler, der, an einer Landschaft vorüberfahrend,mit wenigen Strichen ein paar sympathische Einzelheiten skizziert und hinterher eine künstlerische Einheit daraus gestaltet. Das so entstandene Kunstwerk ist im Vergleich zu einer Photographie unrealistisch; aber der Maler würde von der Photographie sagen: „Sie wiederholt die gewöhnliche Wirklichkeit, die das bloß sinnlich beobachtende Auge empfindet; mein Gemälde aber gestaltet eine höhere Wirklichkeit, wie sie von mir und gleich gestimmten Menschen im Ge- müte erlebt wird.“ Der Künstler, der ein Stück Leben so gestaltet, wie er es liebt und als stimmungsvoll empfindet, folgt seiner Herzenslogik; eine Logik waltet offenbar in seiner Gestaltung, obwohl sie nicht aus Verstandes- schlüssen sich zusammensetzt. An dieser Stelle wird es angebracht sein, einem Einwande Rede zu Nun freilich bleiben die aparten Persönlichkeiten, die wir Künstler nennen, <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <p><pb facs="#f0026" n="618"/><fw type="header" place="top">Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.</fw><lb/> werden. So verfährt ein Maler, der, an einer Landschaft vorüberfahrend,<lb/> mit wenigen Strichen ein paar sympathische Einzelheiten skizziert und hinterher<lb/> eine künstlerische Einheit daraus gestaltet. 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Mit der Unterscheidung von<lb/> „subjektiv“ und „objektiv“ wird mancher Unfug getrieben. Jedes Erlebnis<lb/> ist subjektiv, gleichviel ob es mehr oder minder persönliche Prägung erhalten<lb/> hat. Subjektiv ist alles, was nur im Zusammenhange mit einem besonderen<lb/> Subjekt erlebt wird. Auch das rein sinnliche Erlebnis, soweit es überhaupt<lb/> möglich ist, d. h. soweit es sich von Einmischungen des Fühlens, Phantasierens<lb/> und Denkens freihalten kann, wäre insofern subjektiv zu nennen, als es in<lb/> seiner bestimmten Weise nur von Subjekten gleicher Art erlebt wird. Die<lb/> Sinne eines Nachtfalters, eines Regenwurms oder eines Mistkäfers erleben<lb/> die Landschaft anders als unsere menschlichen Sinne. Sind sie deshalb<lb/> weniger ( oder mehr ) fähig, die objektive Welt zu erfassen, als unsere mensch-<lb/> lichen? Das darf niemand behaupten. Die verschiedenen Arten von Lebewesen<lb/> erleben nur <hi rendition="#g">verschiedene Seiten ein und derselben Wirklich-<lb/> keit,</hi> nämlich die Beziehungen, zu deren Erlebnis gerade sie, vermöge ihres<lb/> eigenartigen Organismus oder Charakters, befähigt sind. Was aber vom Unter-<lb/> schiede der Arten gilt, das darf auf den Unterschied der Personen innerhalb<lb/> derselben Art übertragen werden. Die von persönlichem Gemüte beeinflußten<lb/> Wahrnehmungen sind keineswegs gefälschte Wirklichkeit, vielmehr besondere<lb/> Seiten ein und derselben allumfassenden Wirklichkeit.</p><lb/> <p>Nun freilich bleiben die aparten Persönlichkeiten, die wir Künstler nennen,<lb/> dem Massenmenschen gegenüber in der Minderheit, und wenn die Wahr-<lb/> heit, wie die Staatsverfassung eines demokratischen Volkes, durch Abstimmung<lb/> festgestellt werden könnte, so würde Kunst und jegliche Gemütslogik eine<lb/> „Fälschung“ der „objektiven“ Wahrnehmung bedeuten. Aber genauer besehen, ist<lb/> die „objektive“ Wahrnehmung nur die <hi rendition="#g">gewöhnliche</hi> Wahrnehmung jener<lb/> Vielzuvielen, die durch Zahl=Reichtum aufwiegen möchten, was ihnen an<lb/> innerlichem Reichtum, an Differenzierung der Persönlichkeit, versagt blieb.<lb/> Da alle gesunden Menschen in gleicher Weise sinnlich organisiert sind, so<lb/> stimmen sie in ihren sinnlichen Wahrnehmungen nahezu überein, und da sie sich<lb/> gegenseitig imponieren und gern aufeinander verlassen, so schreiben sie den<lb/> übereinstimmenden Sinnesempfindungen größere Gültigkeit zu als den<lb/> eigenartigen Gemütserlebnissen der Persönlichkeit. Größere Gültigkeit<lb/> aber verdienen die Sinnesempfindungen lediglich da, wo es auf die<lb/><hi rendition="#g">äußerliche,</hi> physische Wirklichkeit ankommt. Jedoch mit dem </p> </div> </body> </text> </TEI> [618/0026]
Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.
werden. So verfährt ein Maler, der, an einer Landschaft vorüberfahrend,
mit wenigen Strichen ein paar sympathische Einzelheiten skizziert und hinterher
eine künstlerische Einheit daraus gestaltet. Das so entstandene Kunstwerk ist
im Vergleich zu einer Photographie unrealistisch; aber der Maler würde von
der Photographie sagen: „Sie wiederholt die gewöhnliche Wirklichkeit, die
das bloß sinnlich beobachtende Auge empfindet; mein Gemälde aber gestaltet eine
höhere Wirklichkeit, wie sie von mir und gleich gestimmten Menschen im Ge-
müte erlebt wird.“ Der Künstler, der ein Stück Leben so gestaltet, wie er
es liebt und als stimmungsvoll empfindet, folgt seiner Herzenslogik; eine
Logik waltet offenbar in seiner Gestaltung, obwohl sie nicht aus Verstandes-
schlüssen sich zusammensetzt.
An dieser Stelle wird es angebracht sein, einem Einwande Rede zu
stehen, der die sinnliche Wirklichkeit für die eigentliche, „objektive“ Wahrheit
hält, hingegen behauptet, das Hineintragen von Gemütserlebnissen in die sinn-
liche Wahrnehmung entstelle diese subjektiv. Mit der Unterscheidung von
„subjektiv“ und „objektiv“ wird mancher Unfug getrieben. Jedes Erlebnis
ist subjektiv, gleichviel ob es mehr oder minder persönliche Prägung erhalten
hat. Subjektiv ist alles, was nur im Zusammenhange mit einem besonderen
Subjekt erlebt wird. Auch das rein sinnliche Erlebnis, soweit es überhaupt
möglich ist, d. h. soweit es sich von Einmischungen des Fühlens, Phantasierens
und Denkens freihalten kann, wäre insofern subjektiv zu nennen, als es in
seiner bestimmten Weise nur von Subjekten gleicher Art erlebt wird. Die
Sinne eines Nachtfalters, eines Regenwurms oder eines Mistkäfers erleben
die Landschaft anders als unsere menschlichen Sinne. Sind sie deshalb
weniger ( oder mehr ) fähig, die objektive Welt zu erfassen, als unsere mensch-
lichen? Das darf niemand behaupten. Die verschiedenen Arten von Lebewesen
erleben nur verschiedene Seiten ein und derselben Wirklich-
keit, nämlich die Beziehungen, zu deren Erlebnis gerade sie, vermöge ihres
eigenartigen Organismus oder Charakters, befähigt sind. Was aber vom Unter-
schiede der Arten gilt, das darf auf den Unterschied der Personen innerhalb
derselben Art übertragen werden. Die von persönlichem Gemüte beeinflußten
Wahrnehmungen sind keineswegs gefälschte Wirklichkeit, vielmehr besondere
Seiten ein und derselben allumfassenden Wirklichkeit.
Nun freilich bleiben die aparten Persönlichkeiten, die wir Künstler nennen,
dem Massenmenschen gegenüber in der Minderheit, und wenn die Wahr-
heit, wie die Staatsverfassung eines demokratischen Volkes, durch Abstimmung
festgestellt werden könnte, so würde Kunst und jegliche Gemütslogik eine
„Fälschung“ der „objektiven“ Wahrnehmung bedeuten. Aber genauer besehen, ist
die „objektive“ Wahrnehmung nur die gewöhnliche Wahrnehmung jener
Vielzuvielen, die durch Zahl=Reichtum aufwiegen möchten, was ihnen an
innerlichem Reichtum, an Differenzierung der Persönlichkeit, versagt blieb.
Da alle gesunden Menschen in gleicher Weise sinnlich organisiert sind, so
stimmen sie in ihren sinnlichen Wahrnehmungen nahezu überein, und da sie sich
gegenseitig imponieren und gern aufeinander verlassen, so schreiben sie den
übereinstimmenden Sinnesempfindungen größere Gültigkeit zu als den
eigenartigen Gemütserlebnissen der Persönlichkeit. Größere Gültigkeit
aber verdienen die Sinnesempfindungen lediglich da, wo es auf die
äußerliche, physische Wirklichkeit ankommt. Jedoch mit dem
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