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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905.

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Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.

Wie zuweilen erst das Vertrauen, das wir einem Menschen entgegen-
bringen, uns zur rechten Kenntnis seines Charakters verhilft, so können
auch Einblicke in das Weltall durch Gemütslogik eröffnet werden. Kepler bei-
spielsweise war durch Gemütslogik zu der Ueberzeugung gelangt, die Natur
sei ein durch und durch harmonievolles Gebilde, und es müsse daher irgend
ein harmonisches Verhältnis zwischen den Abständen der Planeten und ihren
Umlaufzeiten bestehen. Diese vorgefaßte Meinung trieb ihn zu wiederholten
Versuchen, das harmonische Verhältnis herauszufinden. Die ersten Versuche
bewährten sich nicht. Schließlich aber gelang es Kepler, jene bekannte Formel
zu finden, die sowohl dem Jdeale seines Gemüts als auch dem realistisch
beobachtenden und rechnenden Verstande genüge tat. Von Herzenslogik ge-
leitet, war Kepler zu einer naturwissenschaftlichen Entdeckung gelangt.

Meine Betrachtung soll zeigen, wie verfehlt es ist, in der Weltanschauung
auf eine reinliche, strenge Scheidung zwischen Verstandeslogik und Herzens-
logik hinzuarbeiten und der Herzenslogik allen Wahrheitsgehalt abzusprechen.
Verstandeslogik und Herzenslogik haben einander zu ergänzen, damit über-
haupt eine Weltanschauung zustande komme. Wollen wir die Bruchstücke der
Welterkenntnis, wie wir sie in den Fachwissenschaften gewonnen haben, zu
einem Gesamtbilde zusammenschließen, so ist ein Bindegewebe von Vermutungen
nötig, die aus dem Gemüt hervorgewachsen sind. Fechner nennt diese Ver-
mutungen "Glauben", und wir können seiner Ausdrucksweise folgen, vor-
ausgesetzt, daß wir den Fechnerschen Glauben nicht verwechseln mit jenem
knechtseligen und blinden Fürwahrhalten, das herrschsüchtige Priester als den
wahren Glauben anpreisen, während es durch seine moralische und intellektuelle
Niedrigkeit die Bezeichnung "Glauben" in Verruf gebracht hat. Fechner
hätte statt "Glauben" auch "Herzenslogik" oder "religiöse Deutung" sagen
können, wenn er folgende Gesichtspunkte geltend macht: "Alles Allgemeinste,
Höchste, Letzte, Fernste, Feinste, Tiefste ist überhaupt seiner und unserer. Natur
nach Glaubenssache. Daß die Gravitation durch die ganze Welt reicht und
von jeher gereicht hat, ist Glaubenssache; daß überhaupt Gesetze, durch's Endliche
verfolgt, ins Unbegrenzte von Raum und Zeit reichen, ist Glaubenssache; daß
es Atome und Undulationen des Lichtes gibt, ist Glaubenssache; sogar für die
Geometrie gibt es Glaubenssachen in der Zahl der Dimensionen und den Sätzen
für die Parallelen. Ja streng genommen, ist alles Glaubenssache, was nicht
unmittelbar erfahren ist, und was nicht logisch feststeht. Ein jedes
Wissen um das was ist, setzt sich fort in Glauben und
muß sich darein fortsetzen und endlich damit ab-
schließen, damit es einen Zusammenhang, einen Fort-
schritt und Abschluß des Wissens selbst gebe.
Doch kann ein
Glaube besser gestützt und selbst besser sein als der andere. Der beste
Glaube endlich ist der, der am widerspruchslosesten in
sich, mit allem Wissen und allen unseren praktischen
Jnteressen besteht, und als solcher wird er auch die
Zukunft für sich haben, indem er die Widersprüche
zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen, die
seither bestanden und ringsum bestehen, vielmehr
versöhnt als teilt.
"



Dr. Bruno Wille: Herzenslogik.

Wie zuweilen erst das Vertrauen, das wir einem Menschen entgegen-
bringen, uns zur rechten Kenntnis seines Charakters verhilft, so können
auch Einblicke in das Weltall durch Gemütslogik eröffnet werden. Kepler bei-
spielsweise war durch Gemütslogik zu der Ueberzeugung gelangt, die Natur
sei ein durch und durch harmonievolles Gebilde, und es müsse daher irgend
ein harmonisches Verhältnis zwischen den Abständen der Planeten und ihren
Umlaufzeiten bestehen. Diese vorgefaßte Meinung trieb ihn zu wiederholten
Versuchen, das harmonische Verhältnis herauszufinden. Die ersten Versuche
bewährten sich nicht. Schließlich aber gelang es Kepler, jene bekannte Formel
zu finden, die sowohl dem Jdeale seines Gemüts als auch dem realistisch
beobachtenden und rechnenden Verstande genüge tat. Von Herzenslogik ge-
leitet, war Kepler zu einer naturwissenschaftlichen Entdeckung gelangt.

Meine Betrachtung soll zeigen, wie verfehlt es ist, in der Weltanschauung
auf eine reinliche, strenge Scheidung zwischen Verstandeslogik und Herzens-
logik hinzuarbeiten und der Herzenslogik allen Wahrheitsgehalt abzusprechen.
Verstandeslogik und Herzenslogik haben einander zu ergänzen, damit über-
haupt eine Weltanschauung zustande komme. Wollen wir die Bruchstücke der
Welterkenntnis, wie wir sie in den Fachwissenschaften gewonnen haben, zu
einem Gesamtbilde zusammenschließen, so ist ein Bindegewebe von Vermutungen
nötig, die aus dem Gemüt hervorgewachsen sind. Fechner nennt diese Ver-
mutungen „Glauben“, und wir können seiner Ausdrucksweise folgen, vor-
ausgesetzt, daß wir den Fechnerschen Glauben nicht verwechseln mit jenem
knechtseligen und blinden Fürwahrhalten, das herrschsüchtige Priester als den
wahren Glauben anpreisen, während es durch seine moralische und intellektuelle
Niedrigkeit die Bezeichnung „Glauben“ in Verruf gebracht hat. Fechner
hätte statt „Glauben“ auch „Herzenslogik“ oder „religiöse Deutung“ sagen
können, wenn er folgende Gesichtspunkte geltend macht: „Alles Allgemeinste,
Höchste, Letzte, Fernste, Feinste, Tiefste ist überhaupt seiner und unserer. Natur
nach Glaubenssache. Daß die Gravitation durch die ganze Welt reicht und
von jeher gereicht hat, ist Glaubenssache; daß überhaupt Gesetze, durch's Endliche
verfolgt, ins Unbegrenzte von Raum und Zeit reichen, ist Glaubenssache; daß
es Atome und Undulationen des Lichtes gibt, ist Glaubenssache; sogar für die
Geometrie gibt es Glaubenssachen in der Zahl der Dimensionen und den Sätzen
für die Parallelen. Ja streng genommen, ist alles Glaubenssache, was nicht
unmittelbar erfahren ist, und was nicht logisch feststeht. Ein jedes
Wissen um das was ist, setzt sich fort in Glauben und
muß sich darein fortsetzen und endlich damit ab-
schließen, damit es einen Zusammenhang, einen Fort-
schritt und Abschluß des Wissens selbst gebe.
Doch kann ein
Glaube besser gestützt und selbst besser sein als der andere. Der beste
Glaube endlich ist der, der am widerspruchslosesten in
sich, mit allem Wissen und allen unseren praktischen
Jnteressen besteht, und als solcher wird er auch die
Zukunft für sich haben, indem er die Widersprüche
zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen, die
seither bestanden und ringsum bestehen, vielmehr
versöhnt als teilt.



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[620/0028] Dr. Bruno Wille: Herzenslogik. Wie zuweilen erst das Vertrauen, das wir einem Menschen entgegen- bringen, uns zur rechten Kenntnis seines Charakters verhilft, so können auch Einblicke in das Weltall durch Gemütslogik eröffnet werden. Kepler bei- spielsweise war durch Gemütslogik zu der Ueberzeugung gelangt, die Natur sei ein durch und durch harmonievolles Gebilde, und es müsse daher irgend ein harmonisches Verhältnis zwischen den Abständen der Planeten und ihren Umlaufzeiten bestehen. Diese vorgefaßte Meinung trieb ihn zu wiederholten Versuchen, das harmonische Verhältnis herauszufinden. Die ersten Versuche bewährten sich nicht. Schließlich aber gelang es Kepler, jene bekannte Formel zu finden, die sowohl dem Jdeale seines Gemüts als auch dem realistisch beobachtenden und rechnenden Verstande genüge tat. Von Herzenslogik ge- leitet, war Kepler zu einer naturwissenschaftlichen Entdeckung gelangt. Meine Betrachtung soll zeigen, wie verfehlt es ist, in der Weltanschauung auf eine reinliche, strenge Scheidung zwischen Verstandeslogik und Herzens- logik hinzuarbeiten und der Herzenslogik allen Wahrheitsgehalt abzusprechen. Verstandeslogik und Herzenslogik haben einander zu ergänzen, damit über- haupt eine Weltanschauung zustande komme. Wollen wir die Bruchstücke der Welterkenntnis, wie wir sie in den Fachwissenschaften gewonnen haben, zu einem Gesamtbilde zusammenschließen, so ist ein Bindegewebe von Vermutungen nötig, die aus dem Gemüt hervorgewachsen sind. Fechner nennt diese Ver- mutungen „Glauben“, und wir können seiner Ausdrucksweise folgen, vor- ausgesetzt, daß wir den Fechnerschen Glauben nicht verwechseln mit jenem knechtseligen und blinden Fürwahrhalten, das herrschsüchtige Priester als den wahren Glauben anpreisen, während es durch seine moralische und intellektuelle Niedrigkeit die Bezeichnung „Glauben“ in Verruf gebracht hat. Fechner hätte statt „Glauben“ auch „Herzenslogik“ oder „religiöse Deutung“ sagen können, wenn er folgende Gesichtspunkte geltend macht: „Alles Allgemeinste, Höchste, Letzte, Fernste, Feinste, Tiefste ist überhaupt seiner und unserer. Natur nach Glaubenssache. Daß die Gravitation durch die ganze Welt reicht und von jeher gereicht hat, ist Glaubenssache; daß überhaupt Gesetze, durch's Endliche verfolgt, ins Unbegrenzte von Raum und Zeit reichen, ist Glaubenssache; daß es Atome und Undulationen des Lichtes gibt, ist Glaubenssache; sogar für die Geometrie gibt es Glaubenssachen in der Zahl der Dimensionen und den Sätzen für die Parallelen. Ja streng genommen, ist alles Glaubenssache, was nicht unmittelbar erfahren ist, und was nicht logisch feststeht. Ein jedes Wissen um das was ist, setzt sich fort in Glauben und muß sich darein fortsetzen und endlich damit ab- schließen, damit es einen Zusammenhang, einen Fort- schritt und Abschluß des Wissens selbst gebe. Doch kann ein Glaube besser gestützt und selbst besser sein als der andere. Der beste Glaube endlich ist der, der am widerspruchslosesten in sich, mit allem Wissen und allen unseren praktischen Jnteressen besteht, und als solcher wird er auch die Zukunft für sich haben, indem er die Widersprüche zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen, die seither bestanden und ringsum bestehen, vielmehr versöhnt als teilt. “

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 13. Berlin-Charlottenburg, 13. April 1905, S. 620. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0113_1905/28>, abgerufen am 01.11.2024.