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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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656 W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik.
Konferenz, konnte ebenso gut in Angriff genommen werden, wenn Deutsch-
land im diplomatischen Wege seine Rechte geltend gemacht hätte.

Sind alle diese Versuche einer Erklärung unbefriedigend, so bleibt nichts
übrig, als den tatsächlich eingetretenen Erfolg, Frankreich zu verletzen, als
beabsichtigt anzunehmen.
Feilich scheint das im Widerspruche zu
stehen nicht allein zu der bisherigen Richtung unserer Politik, sondern auch zu
der Erklärung des Kaisers in Bremen über die deutsche Friedensliebe und dem
Wunsche, überall gute Nachbarschaft zu halten, sowie endlich zu dem Umstande,
daß wir gegenüber Frankreich kein Ziel haben, das uns auf einen kriegerischen
Weg hinwiese. Aber dieser Widerspruch läge nur dann vor, wenn man aus
der Absicht, Frankreich öffentlich eine Ohrfeige zu geben, darauf schließen
müßte, daß wir den Plan verfolgten, das Verhältnis zu Frankreich überhaupt
unfreundlich zu gestalten. Dieser Schluß liegt nahe, ist aber nicht zwingend.
Die Franzosen sind ein Volk, das in vielen Dingen anders veranlagt ist
als wir. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß die bisherigen Annäherungs-
versuche auf einer falschen psychologischen Unterlage beruhten, nämlich auf
der Annahme, daß wir die französische Abneigung am besten durch freund-
liches Entgegenkommen überwinden würden, während doch der diesen Er-
wartungen nicht entsprechende Erfolg den Gedanken nahelegt, daß die Fran-
zosen unser Verfahren nicht als Freundlichkeit, sondern als Schwäche aufgefaßt
haben. Vielleicht ist es richtiger, ihnen zunächst einmal in eindruckvoller Weise
den Gedanken vor die Seele zu führen, daß ein unfreundliches Verhältnis zu
Deutschland für sie doch wesentlich größere Gefahren birgt, als sie das bisher,
gestützt auf das russische Bündnis, angenommen haben und daß die Umge-
staltung der beidenseitigen Beziehungen mindestens in gleichem Maße, wie
in unserem, auch in ihrem Jnteresse liegt. Zur Liebe kann man freilich niemand
zwingen, aber wo sie ohnehin ausgeschlossen ist, kann Achtung ein sehr wert-
volles Surrogat sein. --

Das alles sind Gedanken, die sich bei dem Bestreben aufdrängen, dem
auf den ersten Blick höchst überraschenden, ja befremdenden Vorgehen der
deutschen Regierung eine befriedigende Deutung zu geben. Sie sind Möglich-
keiten, nichts weiter, und ich denke nicht daran, meine Erklärung als zwingend
anzusehen. Jmmerhin haben die Dinge, um die es sich handelt, für uns eine
solche Bedeutung, daß Versuche, zu ihnen Stellung zu nehmen, berechtigt sind.
Kommt die internationale Konferenz zustande, so werden wir vielleicht in einigen
Wochen schon etwas klarer sehen. Hoffen wir, daß wir dann auf Grund besserer
Sachkenntnis der deutschen Politik zustimmen können.



656 W. Kulemann: Eine Schwenkung der deutschen Politik.
Konferenz, konnte ebenso gut in Angriff genommen werden, wenn Deutsch-
land im diplomatischen Wege seine Rechte geltend gemacht hätte.

Sind alle diese Versuche einer Erklärung unbefriedigend, so bleibt nichts
übrig, als den tatsächlich eingetretenen Erfolg, Frankreich zu verletzen, als
beabsichtigt anzunehmen.
Feilich scheint das im Widerspruche zu
stehen nicht allein zu der bisherigen Richtung unserer Politik, sondern auch zu
der Erklärung des Kaisers in Bremen über die deutsche Friedensliebe und dem
Wunsche, überall gute Nachbarschaft zu halten, sowie endlich zu dem Umstande,
daß wir gegenüber Frankreich kein Ziel haben, das uns auf einen kriegerischen
Weg hinwiese. Aber dieser Widerspruch läge nur dann vor, wenn man aus
der Absicht, Frankreich öffentlich eine Ohrfeige zu geben, darauf schließen
müßte, daß wir den Plan verfolgten, das Verhältnis zu Frankreich überhaupt
unfreundlich zu gestalten. Dieser Schluß liegt nahe, ist aber nicht zwingend.
Die Franzosen sind ein Volk, das in vielen Dingen anders veranlagt ist
als wir. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß die bisherigen Annäherungs-
versuche auf einer falschen psychologischen Unterlage beruhten, nämlich auf
der Annahme, daß wir die französische Abneigung am besten durch freund-
liches Entgegenkommen überwinden würden, während doch der diesen Er-
wartungen nicht entsprechende Erfolg den Gedanken nahelegt, daß die Fran-
zosen unser Verfahren nicht als Freundlichkeit, sondern als Schwäche aufgefaßt
haben. Vielleicht ist es richtiger, ihnen zunächst einmal in eindruckvoller Weise
den Gedanken vor die Seele zu führen, daß ein unfreundliches Verhältnis zu
Deutschland für sie doch wesentlich größere Gefahren birgt, als sie das bisher,
gestützt auf das russische Bündnis, angenommen haben und daß die Umge-
staltung der beidenseitigen Beziehungen mindestens in gleichem Maße, wie
in unserem, auch in ihrem Jnteresse liegt. Zur Liebe kann man freilich niemand
zwingen, aber wo sie ohnehin ausgeschlossen ist, kann Achtung ein sehr wert-
volles Surrogat sein. —

Das alles sind Gedanken, die sich bei dem Bestreben aufdrängen, dem
auf den ersten Blick höchst überraschenden, ja befremdenden Vorgehen der
deutschen Regierung eine befriedigende Deutung zu geben. Sie sind Möglich-
keiten, nichts weiter, und ich denke nicht daran, meine Erklärung als zwingend
anzusehen. Jmmerhin haben die Dinge, um die es sich handelt, für uns eine
solche Bedeutung, daß Versuche, zu ihnen Stellung zu nehmen, berechtigt sind.
Kommt die internationale Konferenz zustande, so werden wir vielleicht in einigen
Wochen schon etwas klarer sehen. Hoffen wir, daß wir dann auf Grund besserer
Sachkenntnis der deutschen Politik zustimmen können.



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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 656. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/16>, abgerufen am 14.08.2024.