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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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666 S. Kaff: Oesterreich=Ungarn oder Oesterreich und Ungarn.
Zahl der deutschen Weltpolitiker, die die schönsten Reden hält und die besten
Aufsätze schreibt, ohne sich um den Stand und Gang der Dinge selbst zu kümmern,
sondern für die, die sich noch nicht fertig wähnen, sondern noch hinzulernen
wollen. Jhnen empfehle ich ein eingehendes Studium der Wirtschaftsgeographie.
Zwar fehlt uns noch immer die geeignete Literatur, die die Wirtschafts-
geographie aus dem Geleise der von alters her üblichen kauf-
männischen Handelsgeographie herausreißt und sie in Bahnen
lenkt, die von großen allgemeinen Gesichtspunkten bestimmt werden. Einen
Versuch in dieser Richtung erblicken wir in dem Grundriß der Handels-
geographie
von dem Privatdozenten Dr. Eckert an der Kieler Universität
( Leipzig bei Göschen ) . Leider ist der bisher übliche Begriff Handelsgeographie
beibehalten worden, obwohl die Bezeichnung Wirtschaftsgeographie besser und
charakteristischer gewesen wäre. Eckert versucht die Wirtschafts= und Verkehrs-
geographie als ein einheitliches System darzustellen, aus den großen Er-
scheinungen leitende Motive herauszuentwickeln und verläßt die bisher übliche
und auch langweilige Praxis, eine Handelsgeographie zu schreiben, die sich
lediglich an die politischen Staatengebilde anschließt und einzeln bei jedem Ort
aufzählt, was gerade da erzeugt wird. Daß es sich um einen Versuch handelt,
ändert nichts daran, das Buch zu empfehlen, da es in seinem ersten Teile uns
wertvolle Einblicke in den heutigen Stand der Weltwirtschaft tun läßt und
im zweiten Teile instruktive Angaben über die derzeitigen wirtschaftlichen Ver-
hältnisse der einzelnen Länder bringt.

[Abbildung]
Oesterreich=Ungarn od. Oesterreich u. Ungarn.
Von Siegmund Kaff, Wien.

Not lehrt beten. Seitdem die österreichische Jndustrie von der Erkennt-
nis überrumpelt ward, daß man die Riemen, mit welchen das auseinander-
strebende Oesterreich=Ungarn zusammengehalten werden soll, aus ihrer Haut
schneiden will, zeigt sie sich aufs äußerste beunruhigt. Schon bisher hatte
man ihr den Patriotismus schwer genug gemacht; die neueste Belastungsprobe
aber, die man ihr zumutet, übersteigt so sehr alle Grenzen des Möglichen und
Zulässigen, daß man -- wie es im Reporterstil heißt -- auf die weitere Ent-
wicklung der Dinge gespannt sein darf. Die Sache ist folgende:

Das Verhältnis Oesterreichs zu Ungarn kracht in allen Fugen. Es war
keine Liebesheirat -- trotz oder gerade wegen des Tu felix Austria
nube
! -- sondern eine Zwangsehe, im besten Falle eine Kon-
ventionalehe. Die Konvention aber -- die 67 er Ausgleichgesetze --
ist auf drei Lügen aufgebaut: Auf die Lüge vom Einheits-

666 S. Kaff: Oesterreich=Ungarn oder Oesterreich und Ungarn.
Zahl der deutschen Weltpolitiker, die die schönsten Reden hält und die besten
Aufsätze schreibt, ohne sich um den Stand und Gang der Dinge selbst zu kümmern,
sondern für die, die sich noch nicht fertig wähnen, sondern noch hinzulernen
wollen. Jhnen empfehle ich ein eingehendes Studium der Wirtschaftsgeographie.
Zwar fehlt uns noch immer die geeignete Literatur, die die Wirtschafts-
geographie aus dem Geleise der von alters her üblichen kauf-
männischen Handelsgeographie herausreißt und sie in Bahnen
lenkt, die von großen allgemeinen Gesichtspunkten bestimmt werden. Einen
Versuch in dieser Richtung erblicken wir in dem Grundriß der Handels-
geographie
von dem Privatdozenten Dr. Eckert an der Kieler Universität
( Leipzig bei Göschen ) . Leider ist der bisher übliche Begriff Handelsgeographie
beibehalten worden, obwohl die Bezeichnung Wirtschaftsgeographie besser und
charakteristischer gewesen wäre. Eckert versucht die Wirtschafts= und Verkehrs-
geographie als ein einheitliches System darzustellen, aus den großen Er-
scheinungen leitende Motive herauszuentwickeln und verläßt die bisher übliche
und auch langweilige Praxis, eine Handelsgeographie zu schreiben, die sich
lediglich an die politischen Staatengebilde anschließt und einzeln bei jedem Ort
aufzählt, was gerade da erzeugt wird. Daß es sich um einen Versuch handelt,
ändert nichts daran, das Buch zu empfehlen, da es in seinem ersten Teile uns
wertvolle Einblicke in den heutigen Stand der Weltwirtschaft tun läßt und
im zweiten Teile instruktive Angaben über die derzeitigen wirtschaftlichen Ver-
hältnisse der einzelnen Länder bringt.

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Oesterreich=Ungarn od. Oesterreich u. Ungarn.
Von Siegmund Kaff, Wien.

Not lehrt beten. Seitdem die österreichische Jndustrie von der Erkennt-
nis überrumpelt ward, daß man die Riemen, mit welchen das auseinander-
strebende Oesterreich=Ungarn zusammengehalten werden soll, aus ihrer Haut
schneiden will, zeigt sie sich aufs äußerste beunruhigt. Schon bisher hatte
man ihr den Patriotismus schwer genug gemacht; die neueste Belastungsprobe
aber, die man ihr zumutet, übersteigt so sehr alle Grenzen des Möglichen und
Zulässigen, daß man — wie es im Reporterstil heißt — auf die weitere Ent-
wicklung der Dinge gespannt sein darf. Die Sache ist folgende:

Das Verhältnis Oesterreichs zu Ungarn kracht in allen Fugen. Es war
keine Liebesheirat — trotz oder gerade wegen des Tu felix Austria
nube
! — sondern eine Zwangsehe, im besten Falle eine Kon-
ventionalehe. Die Konvention aber — die 67 er Ausgleichgesetze —
ist auf drei Lügen aufgebaut: Auf die Lüge vom Einheits-

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[666/0026] 666 S. Kaff: Oesterreich=Ungarn oder Oesterreich und Ungarn. Zahl der deutschen Weltpolitiker, die die schönsten Reden hält und die besten Aufsätze schreibt, ohne sich um den Stand und Gang der Dinge selbst zu kümmern, sondern für die, die sich noch nicht fertig wähnen, sondern noch hinzulernen wollen. Jhnen empfehle ich ein eingehendes Studium der Wirtschaftsgeographie. Zwar fehlt uns noch immer die geeignete Literatur, die die Wirtschafts- geographie aus dem Geleise der von alters her üblichen kauf- männischen Handelsgeographie herausreißt und sie in Bahnen lenkt, die von großen allgemeinen Gesichtspunkten bestimmt werden. Einen Versuch in dieser Richtung erblicken wir in dem Grundriß der Handels- geographie von dem Privatdozenten Dr. Eckert an der Kieler Universität ( Leipzig bei Göschen ) . Leider ist der bisher übliche Begriff Handelsgeographie beibehalten worden, obwohl die Bezeichnung Wirtschaftsgeographie besser und charakteristischer gewesen wäre. Eckert versucht die Wirtschafts= und Verkehrs- geographie als ein einheitliches System darzustellen, aus den großen Er- scheinungen leitende Motive herauszuentwickeln und verläßt die bisher übliche und auch langweilige Praxis, eine Handelsgeographie zu schreiben, die sich lediglich an die politischen Staatengebilde anschließt und einzeln bei jedem Ort aufzählt, was gerade da erzeugt wird. Daß es sich um einen Versuch handelt, ändert nichts daran, das Buch zu empfehlen, da es in seinem ersten Teile uns wertvolle Einblicke in den heutigen Stand der Weltwirtschaft tun läßt und im zweiten Teile instruktive Angaben über die derzeitigen wirtschaftlichen Ver- hältnisse der einzelnen Länder bringt. [Abbildung] Oesterreich=Ungarn od. Oesterreich u. Ungarn. Von Siegmund Kaff, Wien. Not lehrt beten. Seitdem die österreichische Jndustrie von der Erkennt- nis überrumpelt ward, daß man die Riemen, mit welchen das auseinander- strebende Oesterreich=Ungarn zusammengehalten werden soll, aus ihrer Haut schneiden will, zeigt sie sich aufs äußerste beunruhigt. Schon bisher hatte man ihr den Patriotismus schwer genug gemacht; die neueste Belastungsprobe aber, die man ihr zumutet, übersteigt so sehr alle Grenzen des Möglichen und Zulässigen, daß man — wie es im Reporterstil heißt — auf die weitere Ent- wicklung der Dinge gespannt sein darf. Die Sache ist folgende: Das Verhältnis Oesterreichs zu Ungarn kracht in allen Fugen. Es war keine Liebesheirat — trotz oder gerade wegen des Tu felix Austria nube! — sondern eine Zwangsehe, im besten Falle eine Kon- ventionalehe. Die Konvention aber — die 67 er Ausgleichgesetze — ist auf drei Lügen aufgebaut: Auf die Lüge vom Einheits-

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 666. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/26>, abgerufen am 21.11.2024.