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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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Heinrich Michalski: Ernst Haeckel. 643
[Abbildung]
Ernst Haeckel.
Von Heinrich Michalski.

Jn diesen Tagen haben wir Ernst Haeckel, den bedeutendsten Vorkämpfer
der Entwickelungslehre in Deutschland hier in Berlin öffentlich sprechen hören
und ihn feiern können.

Da müssen wir auf die Frage eingehen, wie es denn gekommen ist,
daß dieser Mann so spät erst seine Abneigung gegen Berlin überwunden hat,
obwohl wir damit eine peinliche Erinnerung hervorrufen. Um die alte
wissenschaftliche Fehde zwischen Virchow und Haeckel handelt es sich.
Weil Virchow aus vielen Gründen mit Recht einen überragenden Einfluß auf
die medizinischen und naturwissenschaftlichen Kreise Berlins besaß, konnte
Haeckel, der glühende reichsdeutsche Patriot, in der Hauptstadt nicht zu Worte
kommen. Virchow selbst hat sich je länger, je mehr, der Entwickelungslehre,
deren Gegner und zwar deren gefährlichster Gegner er Ende der siebziger und
Anfang der achtziger Jahre zu sein schien, genähert. Tatsächlich ist er inner-
lich ein Gegner der Entwickelungslehre, das heißt, um das Wesentliche zu
sagen, der natürlichen Entstehung der Arten und besonders auch des tierischen
Ursprungs des Menschengeschlechts, nie gewesen, sondern er hat sich nur, und
da allerdings mit der ganzen Zähigkeit, die ihm eigen war, gegen die be-
sondere Gestaltung der Entwickelungslehre, wie wir sie heute unter dem Namen
Darwinismus kennen, gesträubt, ganz besonders gegen die scharfe
und radikale Ausbildung und Formulierung des Darwinismus, wie sie durch
Haeckel stattgefunden hat und wie sie durch diese leidenschaftliche und infolge ihrer
Originalität notwendig Liebe oder Widerspruch herausfordernde Persönlich-
keit vertreten wurde. Als er in den Kampf gegen die neue Lehre eintrat,
waren bereits seit der wissenschaftlichen Großtat seines Lebens, seit der Ver-
öffentlichung der Zellentheorie, zwei Jahrzehnte verflossen. Der große leiden-
schaftliche Jmpuls, der allein auch ihm trotz aller Vorarbeiten durch andere es
damals nur ermöglichen konnte, sein Werk zu leisten, bewegte ihn nicht mehr,
ruhiges bedächtiges kritisches Sammeln und Ordnen war an die Stelle getreten.
Keine großen aufregenden Jdeen mehr beherrschten sein unermüdliches Ar-
beiten. Trotzdem hat er -- es wäre ja lächerlich, das zu bestreiten -- noch
ungeheuer viel für den Fortschritt der Wissenschast in den langen Jahren seit
der Veröffentlichung seines Hauptwerkes geleistet. Aber was ihm seitdem

Heinrich Michalski: Ernst Haeckel. 643
[Abbildung]
Ernst Haeckel.
Von Heinrich Michalski.

Jn diesen Tagen haben wir Ernst Haeckel, den bedeutendsten Vorkämpfer
der Entwickelungslehre in Deutschland hier in Berlin öffentlich sprechen hören
und ihn feiern können.

Da müssen wir auf die Frage eingehen, wie es denn gekommen ist,
daß dieser Mann so spät erst seine Abneigung gegen Berlin überwunden hat,
obwohl wir damit eine peinliche Erinnerung hervorrufen. Um die alte
wissenschaftliche Fehde zwischen Virchow und Haeckel handelt es sich.
Weil Virchow aus vielen Gründen mit Recht einen überragenden Einfluß auf
die medizinischen und naturwissenschaftlichen Kreise Berlins besaß, konnte
Haeckel, der glühende reichsdeutsche Patriot, in der Hauptstadt nicht zu Worte
kommen. Virchow selbst hat sich je länger, je mehr, der Entwickelungslehre,
deren Gegner und zwar deren gefährlichster Gegner er Ende der siebziger und
Anfang der achtziger Jahre zu sein schien, genähert. Tatsächlich ist er inner-
lich ein Gegner der Entwickelungslehre, das heißt, um das Wesentliche zu
sagen, der natürlichen Entstehung der Arten und besonders auch des tierischen
Ursprungs des Menschengeschlechts, nie gewesen, sondern er hat sich nur, und
da allerdings mit der ganzen Zähigkeit, die ihm eigen war, gegen die be-
sondere Gestaltung der Entwickelungslehre, wie wir sie heute unter dem Namen
Darwinismus kennen, gesträubt, ganz besonders gegen die scharfe
und radikale Ausbildung und Formulierung des Darwinismus, wie sie durch
Haeckel stattgefunden hat und wie sie durch diese leidenschaftliche und infolge ihrer
Originalität notwendig Liebe oder Widerspruch herausfordernde Persönlich-
keit vertreten wurde. Als er in den Kampf gegen die neue Lehre eintrat,
waren bereits seit der wissenschaftlichen Großtat seines Lebens, seit der Ver-
öffentlichung der Zellentheorie, zwei Jahrzehnte verflossen. Der große leiden-
schaftliche Jmpuls, der allein auch ihm trotz aller Vorarbeiten durch andere es
damals nur ermöglichen konnte, sein Werk zu leisten, bewegte ihn nicht mehr,
ruhiges bedächtiges kritisches Sammeln und Ordnen war an die Stelle getreten.
Keine großen aufregenden Jdeen mehr beherrschten sein unermüdliches Ar-
beiten. Trotzdem hat er — es wäre ja lächerlich, das zu bestreiten — noch
ungeheuer viel für den Fortschritt der Wissenschast in den langen Jahren seit
der Veröffentlichung seines Hauptwerkes geleistet. Aber was ihm seitdem

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[643/0003] Heinrich Michalski: Ernst Haeckel. 643 [Abbildung] Ernst Haeckel. Von Heinrich Michalski. Jn diesen Tagen haben wir Ernst Haeckel, den bedeutendsten Vorkämpfer der Entwickelungslehre in Deutschland hier in Berlin öffentlich sprechen hören und ihn feiern können. Da müssen wir auf die Frage eingehen, wie es denn gekommen ist, daß dieser Mann so spät erst seine Abneigung gegen Berlin überwunden hat, obwohl wir damit eine peinliche Erinnerung hervorrufen. Um die alte wissenschaftliche Fehde zwischen Virchow und Haeckel handelt es sich. Weil Virchow aus vielen Gründen mit Recht einen überragenden Einfluß auf die medizinischen und naturwissenschaftlichen Kreise Berlins besaß, konnte Haeckel, der glühende reichsdeutsche Patriot, in der Hauptstadt nicht zu Worte kommen. Virchow selbst hat sich je länger, je mehr, der Entwickelungslehre, deren Gegner und zwar deren gefährlichster Gegner er Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre zu sein schien, genähert. Tatsächlich ist er inner- lich ein Gegner der Entwickelungslehre, das heißt, um das Wesentliche zu sagen, der natürlichen Entstehung der Arten und besonders auch des tierischen Ursprungs des Menschengeschlechts, nie gewesen, sondern er hat sich nur, und da allerdings mit der ganzen Zähigkeit, die ihm eigen war, gegen die be- sondere Gestaltung der Entwickelungslehre, wie wir sie heute unter dem Namen Darwinismus kennen, gesträubt, ganz besonders gegen die scharfe und radikale Ausbildung und Formulierung des Darwinismus, wie sie durch Haeckel stattgefunden hat und wie sie durch diese leidenschaftliche und infolge ihrer Originalität notwendig Liebe oder Widerspruch herausfordernde Persönlich- keit vertreten wurde. Als er in den Kampf gegen die neue Lehre eintrat, waren bereits seit der wissenschaftlichen Großtat seines Lebens, seit der Ver- öffentlichung der Zellentheorie, zwei Jahrzehnte verflossen. Der große leiden- schaftliche Jmpuls, der allein auch ihm trotz aller Vorarbeiten durch andere es damals nur ermöglichen konnte, sein Werk zu leisten, bewegte ihn nicht mehr, ruhiges bedächtiges kritisches Sammeln und Ordnen war an die Stelle getreten. Keine großen aufregenden Jdeen mehr beherrschten sein unermüdliches Ar- beiten. Trotzdem hat er — es wäre ja lächerlich, das zu bestreiten — noch ungeheuer viel für den Fortschritt der Wissenschast in den langen Jahren seit der Veröffentlichung seines Hauptwerkes geleistet. Aber was ihm seitdem

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 643. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/3>, abgerufen am 21.11.2024.