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Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905.

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646 Heinrich Michalski: Ernst Haeckel.

Haeckel scheint im allgemeinen eine ziemlich unpolitische Natur zu sein.
Oder vielleicht ist es auch nur der Mangel an Zeit, der so begreiflich ist bei
dem ungeheuren Lebenswerk, das dieser Mann geleistet hat, gewesen, der
ihn hinderte, sich eingehender mit den politischen und sozialen Problemen
zu beschäftigen. Zwar hat er auch versucht, das Gebiet der Gesellschafts-
lehre dem Gesamtsystem einzugliedern, das er auf Grund seiner hauptsächlich
durch das Erforschen und Betrachten der Natur gebildeten Weltanschauung
errichten wollte. Gerade an dieser Stelle liegen Hauptmängel dieses seines
Systems. Aber das ist der Mangel aller Systeme, die da glauben, auf Grund
der Naturwissenschaften allein, oder vielleicht auch noch auf Grund einer Ge-
sellschaftswissenschaft, die zu einem Teil der gesamten Naturwissenschaft zu-
geschnitten wird, eine umfassende Weltanschauung herausbilden zu können.
Aber wie begreiflich ist dieser Jrrtum bei einem Manne, dessen ganzes Leben
mit den Triumphen der modernen Naturwissenschaft eng verknüpft ist.

Aus der mangelhaften Beschäftigung mit den politischen und sozialen
Problemen ist nun auch seine ablehnende Haltung gegenüber allem, was auch
nur im entferntesten nach Sozialismus schmeckt, zu verstehen. Jedoch ich
weiß nicht, wie weit, vielleicht unbewußt, der oben erwähnte Virchowsche
Angriff, der seitdem so häufig gegen ihn wiederholt worden ist, und die Nö-
tigung, sich gegen ihn zu verteidigen, der Wunsch, das, womit seine Lebens-
arbeit unzertrennlich verknüpft ist, vor dem täppischen Eingriff der Herrschen-
den sicher zu stellen, Haeckel in dieser Haltung bestärkt haben. Er begnügte
sich jedenfalls nicht, Virchow gegenüber zu betonen, daß die Frage des Dar-
winismus direkt gar nicht mit der Frage des Sozialismus zusammenhänge,
daß man als Darwinist sowohl Vertreter der bestehenden wie einer sozia-
listischen Gesellschaftsordnung sein kann, sondern er suchte oft im Gegenteil
all das besonders hervorzuheben, was in den Ergebnissen der modernen Natur-
wissenschaften gegen den Sozialismus zu sprechen scheint.

Jch will hier nicht näher darauf eingehen, inwiefern diese Er-
gebnisse tatsächlich gegen den Sozialismus zu sprechen scheinen. Mir scheint,
daß sie zum größten Teil weder für die eine noch für die andere Gesellschafts-
form etwas beweisen. Soweit aber ihr Gewicht in die Wage, die über Kapi-
talismus und Sozialismus aufgehängt ist, fällt, scheint es, daß sie zugunsten
des Sozialismus ins Gewicht fallen. Doch mag ich das annehmen,
weil ich eben schon sowieso Sozialist bin.

Gewiß werde ich als Sozialist die Ergebnisse der Naturwissenschaft in
Verbindung mit meinen anderen Anschauungen zu setzen suchen, werde sie
aber doch nur als Material für meinen sozialistischen Willen gebrauchen,
werde durch sie meine sozialistischen Ansichten höchstens in der Frage
der Verwirklichung modifizieren lassen, nicht aber im Wesentlichen und Prin-
zipiellen.

Männern wie Haeckel wird es immer wieder passieren, daß die
Vertreter der politischen Freiheit und der energischen sozialen Aufwärts-
entwickelung sie als die ihren reklamieren, und daß sogar diejenigen, denen
sie politisch nahe stehen, sie leicht zur aufsässigen Rotte wersen.

Auch Haeckel wird sich das schon gefallen lassen müssen, ob er nun mag
oder nicht.

Für uns gehört er in die Reihe der großen Freiheitskämpfer. Der

646 Heinrich Michalski: Ernst Haeckel.

Haeckel scheint im allgemeinen eine ziemlich unpolitische Natur zu sein.
Oder vielleicht ist es auch nur der Mangel an Zeit, der so begreiflich ist bei
dem ungeheuren Lebenswerk, das dieser Mann geleistet hat, gewesen, der
ihn hinderte, sich eingehender mit den politischen und sozialen Problemen
zu beschäftigen. Zwar hat er auch versucht, das Gebiet der Gesellschafts-
lehre dem Gesamtsystem einzugliedern, das er auf Grund seiner hauptsächlich
durch das Erforschen und Betrachten der Natur gebildeten Weltanschauung
errichten wollte. Gerade an dieser Stelle liegen Hauptmängel dieses seines
Systems. Aber das ist der Mangel aller Systeme, die da glauben, auf Grund
der Naturwissenschaften allein, oder vielleicht auch noch auf Grund einer Ge-
sellschaftswissenschaft, die zu einem Teil der gesamten Naturwissenschaft zu-
geschnitten wird, eine umfassende Weltanschauung herausbilden zu können.
Aber wie begreiflich ist dieser Jrrtum bei einem Manne, dessen ganzes Leben
mit den Triumphen der modernen Naturwissenschaft eng verknüpft ist.

Aus der mangelhaften Beschäftigung mit den politischen und sozialen
Problemen ist nun auch seine ablehnende Haltung gegenüber allem, was auch
nur im entferntesten nach Sozialismus schmeckt, zu verstehen. Jedoch ich
weiß nicht, wie weit, vielleicht unbewußt, der oben erwähnte Virchowsche
Angriff, der seitdem so häufig gegen ihn wiederholt worden ist, und die Nö-
tigung, sich gegen ihn zu verteidigen, der Wunsch, das, womit seine Lebens-
arbeit unzertrennlich verknüpft ist, vor dem täppischen Eingriff der Herrschen-
den sicher zu stellen, Haeckel in dieser Haltung bestärkt haben. Er begnügte
sich jedenfalls nicht, Virchow gegenüber zu betonen, daß die Frage des Dar-
winismus direkt gar nicht mit der Frage des Sozialismus zusammenhänge,
daß man als Darwinist sowohl Vertreter der bestehenden wie einer sozia-
listischen Gesellschaftsordnung sein kann, sondern er suchte oft im Gegenteil
all das besonders hervorzuheben, was in den Ergebnissen der modernen Natur-
wissenschaften gegen den Sozialismus zu sprechen scheint.

Jch will hier nicht näher darauf eingehen, inwiefern diese Er-
gebnisse tatsächlich gegen den Sozialismus zu sprechen scheinen. Mir scheint,
daß sie zum größten Teil weder für die eine noch für die andere Gesellschafts-
form etwas beweisen. Soweit aber ihr Gewicht in die Wage, die über Kapi-
talismus und Sozialismus aufgehängt ist, fällt, scheint es, daß sie zugunsten
des Sozialismus ins Gewicht fallen. Doch mag ich das annehmen,
weil ich eben schon sowieso Sozialist bin.

Gewiß werde ich als Sozialist die Ergebnisse der Naturwissenschaft in
Verbindung mit meinen anderen Anschauungen zu setzen suchen, werde sie
aber doch nur als Material für meinen sozialistischen Willen gebrauchen,
werde durch sie meine sozialistischen Ansichten höchstens in der Frage
der Verwirklichung modifizieren lassen, nicht aber im Wesentlichen und Prin-
zipiellen.

Männern wie Haeckel wird es immer wieder passieren, daß die
Vertreter der politischen Freiheit und der energischen sozialen Aufwärts-
entwickelung sie als die ihren reklamieren, und daß sogar diejenigen, denen
sie politisch nahe stehen, sie leicht zur aufsässigen Rotte wersen.

Auch Haeckel wird sich das schon gefallen lassen müssen, ob er nun mag
oder nicht.

Für uns gehört er in die Reihe der großen Freiheitskämpfer. Der

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[646/0006] 646 Heinrich Michalski: Ernst Haeckel. Haeckel scheint im allgemeinen eine ziemlich unpolitische Natur zu sein. Oder vielleicht ist es auch nur der Mangel an Zeit, der so begreiflich ist bei dem ungeheuren Lebenswerk, das dieser Mann geleistet hat, gewesen, der ihn hinderte, sich eingehender mit den politischen und sozialen Problemen zu beschäftigen. Zwar hat er auch versucht, das Gebiet der Gesellschafts- lehre dem Gesamtsystem einzugliedern, das er auf Grund seiner hauptsächlich durch das Erforschen und Betrachten der Natur gebildeten Weltanschauung errichten wollte. Gerade an dieser Stelle liegen Hauptmängel dieses seines Systems. Aber das ist der Mangel aller Systeme, die da glauben, auf Grund der Naturwissenschaften allein, oder vielleicht auch noch auf Grund einer Ge- sellschaftswissenschaft, die zu einem Teil der gesamten Naturwissenschaft zu- geschnitten wird, eine umfassende Weltanschauung herausbilden zu können. Aber wie begreiflich ist dieser Jrrtum bei einem Manne, dessen ganzes Leben mit den Triumphen der modernen Naturwissenschaft eng verknüpft ist. Aus der mangelhaften Beschäftigung mit den politischen und sozialen Problemen ist nun auch seine ablehnende Haltung gegenüber allem, was auch nur im entferntesten nach Sozialismus schmeckt, zu verstehen. Jedoch ich weiß nicht, wie weit, vielleicht unbewußt, der oben erwähnte Virchowsche Angriff, der seitdem so häufig gegen ihn wiederholt worden ist, und die Nö- tigung, sich gegen ihn zu verteidigen, der Wunsch, das, womit seine Lebens- arbeit unzertrennlich verknüpft ist, vor dem täppischen Eingriff der Herrschen- den sicher zu stellen, Haeckel in dieser Haltung bestärkt haben. Er begnügte sich jedenfalls nicht, Virchow gegenüber zu betonen, daß die Frage des Dar- winismus direkt gar nicht mit der Frage des Sozialismus zusammenhänge, daß man als Darwinist sowohl Vertreter der bestehenden wie einer sozia- listischen Gesellschaftsordnung sein kann, sondern er suchte oft im Gegenteil all das besonders hervorzuheben, was in den Ergebnissen der modernen Natur- wissenschaften gegen den Sozialismus zu sprechen scheint. Jch will hier nicht näher darauf eingehen, inwiefern diese Er- gebnisse tatsächlich gegen den Sozialismus zu sprechen scheinen. Mir scheint, daß sie zum größten Teil weder für die eine noch für die andere Gesellschafts- form etwas beweisen. Soweit aber ihr Gewicht in die Wage, die über Kapi- talismus und Sozialismus aufgehängt ist, fällt, scheint es, daß sie zugunsten des Sozialismus ins Gewicht fallen. Doch mag ich das annehmen, weil ich eben schon sowieso Sozialist bin. Gewiß werde ich als Sozialist die Ergebnisse der Naturwissenschaft in Verbindung mit meinen anderen Anschauungen zu setzen suchen, werde sie aber doch nur als Material für meinen sozialistischen Willen gebrauchen, werde durch sie meine sozialistischen Ansichten höchstens in der Frage der Verwirklichung modifizieren lassen, nicht aber im Wesentlichen und Prin- zipiellen. Männern wie Haeckel wird es immer wieder passieren, daß die Vertreter der politischen Freiheit und der energischen sozialen Aufwärts- entwickelung sie als die ihren reklamieren, und daß sogar diejenigen, denen sie politisch nahe stehen, sie leicht zur aufsässigen Rotte wersen. Auch Haeckel wird sich das schon gefallen lassen müssen, ob er nun mag oder nicht. Für uns gehört er in die Reihe der großen Freiheitskämpfer. Der

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Zitationshilfe: Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Jahrgang 1, Heft 14. Berlin-Charlottenburg, 20. April 1905, S. 646. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_europa0114_1905/6>, abgerufen am 21.11.2024.