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[N. N.]: Ausführliche und sicherste Nachricht, des entsetzlichen Erdbebens/ der Stadt Lissabon. [s. l.], 1755.

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Am Tage Allerheiligen, des Morgens um 9. Uhr, fühlte man durch
gantz Portugall, und hauptsächlich in der Haupt-Stadt Lissabon, ein
solches erschreckliches Erdbeben, als jemals in irgend einem Welt-
Theile gewesen ist. Diese Stadt, welche die reichste in gantz Eu-
ropa war, welche alle Nationen mit Diamanten versahe, wo fast nichts als
Gold im Schwange gieng, ist gegenwärtig nichts, als ein Stein-Hauffen,
worunter mehr, als 100000. Menschen lebendig begraben worden. Glücklich
sind die Einwohner, welche bey diesem fürchterlichen Vorfalle sich außerhalb
Landes befunden! Sie haben wenigstens das Leben erhalten, welches sie viel-
leicht lieber verlohren hätten, da sie nun aller ihrer Verwandten und Freunde
beraubet sind. Das Erdbeben erfolgte gleich nach einem Orcan, welches ein
erschreckliches See-Wasser verursachte, das den Tago unglaublich hoch auf-
schwellete. Zu gleicher Zeit barsten die Haus-Thüren, und sprangen aus ih-
ren Angeln; auch die Mauer und Ercker stürtzten ein. Kurtz, es schien, als
ob der jüngste Tag gekommen sey, und kein Stein auf dem andern bleiben sol-
te. Diejenigen, welche noch im Schlaffe lagen, wurden durch die hefftige Erschüt-
terung ihrer Häuser und das Einstürtzen der Wohnungen ihrer Nachbarn fürch-
terlich aufgeweckt, und versuchten sich mit der Flucht zu retten; allein, die meh-
resten wurden von ihren Häusern elendig zerschmettert. Die aber, welche bey
dieser grossen Noth noch das Glück hatten, auf die Gasse zu gelangen, flohen
aus der Stadt. Das Fürchterliche dieses traurigen Anblicks, läßt sich nicht
mit Worten beschreiben. Männer und Weiber, Vornehme und Geringe lief-
fen halb nackend, halb bekleidet, zitternd durcheinander. Die vornehmsten
Herren und Damen waren in ihren Unter-Kleidern geflüchtet, und die Angst
hatte ihnen nicht erlaubet, an ihre Kleider zu dencken. Wohin man die Au-
gen wendete, sahe man Häuser einstürtzen, und unter derselben Ruinen eine un-
zählbare Menge Menschen begraben. Ja, wenn man bey dieser Umkehrung
der gantzen Natur bey vollen Sinnen und Verstand geblieben wäre, so hätte
man keinen Ort der Sicherheit ausdencken können, da man den Tod von allen
Seiten mit offenen Augen sahe. Hier sahe man Menschen durch die Erd-Er-


[Abbildung]

Am Tage Allerheiligen, des Morgens um 9. Uhr, fuͤhlte man durch
gantz Portugall, und hauptſaͤchlich in der Haupt-Stadt Liſſabon, ein
ſolches erſchreckliches Erdbeben, als jemals in irgend einem Welt-
Theile geweſen iſt. Dieſe Stadt, welche die reichſte in gantz Eu-
ropa war, welche alle Nationen mit Diamanten verſahe, wo faſt nichts als
Gold im Schwange gieng, iſt gegenwaͤrtig nichts, als ein Stein-Hauffen,
worunter mehr, als 100000. Menſchen lebendig begraben worden. Gluͤcklich
ſind die Einwohner, welche bey dieſem fuͤrchterlichen Vorfalle ſich außerhalb
Landes befunden! Sie haben wenigſtens das Leben erhalten, welches ſie viel-
leicht lieber verlohren haͤtten, da ſie nun aller ihrer Verwandten und Freunde
beraubet ſind. Das Erdbeben erfolgte gleich nach einem Orcan, welches ein
erſchreckliches See-Waſſer verurſachte, das den Tago unglaublich hoch auf-
ſchwellete. Zu gleicher Zeit barſten die Haus-Thuͤren, und ſprangen aus ih-
ren Angeln; auch die Mauer und Ercker ſtuͤrtzten ein. Kurtz, es ſchien, als
ob der juͤngſte Tag gekommen ſey, und kein Stein auf dem andern bleiben ſol-
te. Diejenigen, welche noch im Schlaffe lagen, wurden durch die hefftige Erſchuͤt-
terung ihrer Haͤuſer und das Einſtuͤrtzen der Wohnungen ihrer Nachbarn fuͤrch-
terlich aufgeweckt, und verſuchten ſich mit der Flucht zu retten; allein, die meh-
reſten wurden von ihren Haͤuſern elendig zerſchmettert. Die aber, welche bey
dieſer groſſen Noth noch das Gluͤck hatten, auf die Gaſſe zu gelangen, flohen
aus der Stadt. Das Fuͤrchterliche dieſes traurigen Anblicks, laͤßt ſich nicht
mit Worten beſchreiben. Maͤnner und Weiber, Vornehme und Geringe lief-
fen halb nackend, halb bekleidet, zitternd durcheinander. Die vornehmſten
Herren und Damen waren in ihren Unter-Kleidern gefluͤchtet, und die Angſt
hatte ihnen nicht erlaubet, an ihre Kleider zu dencken. Wohin man die Au-
gen wendete, ſahe man Haͤuſer einſtuͤrtzen, und unter derſelben Ruinen eine un-
zaͤhlbare Menge Menſchen begraben. Ja, wenn man bey dieſer Umkehrung
der gantzen Natur bey vollen Sinnen und Verſtand geblieben waͤre, ſo haͤtte
man keinen Ort der Sicherheit ausdencken koͤnnen, da man den Tod von allen
Seiten mit offenen Augen ſahe. Hier ſahe man Menſchen durch die Erd-Er-

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[0002] [Abbildung] Am Tage Allerheiligen, des Morgens um 9. Uhr, fuͤhlte man durch gantz Portugall, und hauptſaͤchlich in der Haupt-Stadt Liſſabon, ein ſolches erſchreckliches Erdbeben, als jemals in irgend einem Welt- Theile geweſen iſt. Dieſe Stadt, welche die reichſte in gantz Eu- ropa war, welche alle Nationen mit Diamanten verſahe, wo faſt nichts als Gold im Schwange gieng, iſt gegenwaͤrtig nichts, als ein Stein-Hauffen, worunter mehr, als 100000. Menſchen lebendig begraben worden. Gluͤcklich ſind die Einwohner, welche bey dieſem fuͤrchterlichen Vorfalle ſich außerhalb Landes befunden! Sie haben wenigſtens das Leben erhalten, welches ſie viel- leicht lieber verlohren haͤtten, da ſie nun aller ihrer Verwandten und Freunde beraubet ſind. Das Erdbeben erfolgte gleich nach einem Orcan, welches ein erſchreckliches See-Waſſer verurſachte, das den Tago unglaublich hoch auf- ſchwellete. Zu gleicher Zeit barſten die Haus-Thuͤren, und ſprangen aus ih- ren Angeln; auch die Mauer und Ercker ſtuͤrtzten ein. Kurtz, es ſchien, als ob der juͤngſte Tag gekommen ſey, und kein Stein auf dem andern bleiben ſol- te. Diejenigen, welche noch im Schlaffe lagen, wurden durch die hefftige Erſchuͤt- terung ihrer Haͤuſer und das Einſtuͤrtzen der Wohnungen ihrer Nachbarn fuͤrch- terlich aufgeweckt, und verſuchten ſich mit der Flucht zu retten; allein, die meh- reſten wurden von ihren Haͤuſern elendig zerſchmettert. Die aber, welche bey dieſer groſſen Noth noch das Gluͤck hatten, auf die Gaſſe zu gelangen, flohen aus der Stadt. Das Fuͤrchterliche dieſes traurigen Anblicks, laͤßt ſich nicht mit Worten beſchreiben. Maͤnner und Weiber, Vornehme und Geringe lief- fen halb nackend, halb bekleidet, zitternd durcheinander. Die vornehmſten Herren und Damen waren in ihren Unter-Kleidern gefluͤchtet, und die Angſt hatte ihnen nicht erlaubet, an ihre Kleider zu dencken. Wohin man die Au- gen wendete, ſahe man Haͤuſer einſtuͤrtzen, und unter derſelben Ruinen eine un- zaͤhlbare Menge Menſchen begraben. Ja, wenn man bey dieſer Umkehrung der gantzen Natur bey vollen Sinnen und Verſtand geblieben waͤre, ſo haͤtte man keinen Ort der Sicherheit ausdencken koͤnnen, da man den Tod von allen Seiten mit offenen Augen ſahe. Hier ſahe man Menſchen durch die Erd-Er-

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Zitationshilfe: [N. N.]: Ausführliche und sicherste Nachricht, des entsetzlichen Erdbebens/ der Stadt Lissabon. [s. l.], 1755, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_lissabon_1755/2>, abgerufen am 23.11.2024.