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Märkische Blätter. Nr. 6. Hattingen, 19. Januar 1850.

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Märkische Blätter.
Wochenblatt


für belehrende und angenehme Unterhaltung.



ro 6.Hattingen, Sonnabend, den 19. Januar 1850.


[Beginn Spaltensatz]
Die Marquise von Ganges.

Die Marquise von Ganges war ein geborenes Fräu-
lein von Chateaublanc, besaß ein ungeheures Vermögen
und gehörte einer der ersten Familien der Provence an.
Jm Alter von dreizehn Jahren heirathete sie den Mar-
quis von Castellane, einen Enkelsohn des Herzogs von
Villars. Sie war eine der auffallendsten Schönheiten am
Hofe Ludwig XIV., der an Schönheiten so reich war.
Jhr Gemahl der Marquis von Castellane, fiel in einem
Seetreffen, und sie verheirathete sich zum zweiten Mal
mit einem Herrn von Lanide, Marquis von Ganges,
der ein sehr schöner Mann von untadelhaftem Adel,
aber in sehr zerrütteten Vermögensumständen war. Der
Marquis von Ganges hatte zwei Brüder, einen Cheva-
lier von Ganges und einen Abbe von Ganges, die, als
jüngere Söhne der Familie, ein sehr kärgliches Auskom-
men hatten. Beide verliebten sich in ihre Schwägerin.
Diese setzte ihrer Liebe aber nur die kälteste Verachtung entge-
gen. Der Wunsch sich zu rächen und die Habsucht flöß-
ten ihnen einen höllischen Plan ein. Sie heuchelten
Entsagung, versöhnten sich mit der Marquise, und ver-
lockten, im Einverständnisse mit dem Marquis von Gan-
ges, die Unglückliche nach dem Schlosse Ganges. Hie[r]
überredeten sie dieselbe, ein Testament aufzusetzen, in
welchem sie ihrem Gatten mit ihrem ganzen unermeßli-
chen Vermögen ein Geschenk machte. Als das Testament
aufgesetzt war, entfernte sich der Herr Gemahl und ließ
seinen beiden Brüdern freies Feld.

Jetzt spielen Auftritte, denen man keinen Glauben
schenken dürfte, wären sie nicht unwiderlegbar durch die
Verhandlungen festgestellt, die dem Richterspruche des
Parlaments von Toulouse vorangingen. Zuerst versuchte
der Abbe und der Chevalier die Marquise durch eine
Speise zu vergiften. Aber sei es, daß die Dosis nicht
ausreichend war, oder daß die Marquise Verdacht schöpfte,
sie bekam nur ein heftiges Erbrechen davon. Noch leidend
in Folge dieses ersten Vergiftungversuchs hütete die Mar-
quise das Bett, und die adeligen Familien der Umgegend
besuchten sie und leisteten ihr Gesellschaft. Eines Tages
hatte sich eben die Gesellschaft entfernt, als der Abbe
und der Chevalier in das Zimmer der Marquise traten,
die Thür hinter sich verschlossen und ihr erklärten, sie
müßte sterben, es bleibe ihr nur die Wahl zwischen ei-
nem Tode durch Gift, durch's Schwert oder die Pistole.
Vergebens versuchte es die unglückliche Frau, ihre Hen-
[Spaltenumbruch] ker zu rühren; sie waren unerbittlich, und sie entschloß
sich endlich, das Gift zu verschlingen, das man ihr an-
bot. Als sie glaubte sterben zu müssen, bat sie ihre Schwäger
ihr wenigstens einen Beichtvater zu schicken. Sie ver-
sprachen es ihr und verließen das Zimmer. Sobald sie
sich allein sah, schickte sich die Marquise an, aus
dem Fenster ihres Gemachs zu springen. Jn dem Au-
genblick jedoch, als sie sich hinabstürzen wollte, trat ein
Priester Namens Perette, ein Mitschuldiger der Mörder,
in das Zimmer, und da er sah, wie das Schlachtopfer
entspringen wollte, wandte er alle Kraft an sie bei den
Kleidern zurückzuhalten. Allein der Rock der Marquise
zerriß unter seinen Händen, und sie stürzte eine Höhe
von zweiundzwanzig Fuß herab, ohne sich den geringsten
Schaden zuzufügen. Hierauf ergriff der Kaplan eine
sehr schwere Sandstein=Kruke und warf ihr dieselbe
nach dem Kopfe. Die Sandstein=Kruke fiel zwei Finger
breit von der Marquise entfernt nieder, die, ohnmächtig
und halbnackt, querfeldein die Flucht ergriff. So gelangte
sie in ein Bauernhaus der Umgegend, wo mehre junge
Mädchen eben ihre Mahlzeit abhielten. Auf dem Wege
hatte sie die unglaubliche Geistesgegenwart, sich zum
Erbrechen zu zwingen, indem sie sich eine von ihren
langen Haarflechten in den Mund steckte. Der Abbe und
der Chevalier stürzten ihr nach und schrieen laut, ihre
Schwester sei toll und in ihrem Wahnsinn aus dem
Schlosse entsprungen.

Als sie in dem Bauenhause anlangten, bat die Mar-
quise ihren Schwager den Chevalier einen Augenblick
um Gehör, weil sein Herz ihr weniger verhärtet erschie-
nen war, als dasjenige des Abbe. Kaum befanden sie
sich aber allein, so brachte ihr der Chevalier, der sich
des kurzen und scharfen Schwertes, welches die Edel-
leute jener Zeit trugen, wie eines Dolches bediente, fünf
Stiche in die Brust bei, und die Marquise stürzte sich
blutend und mit ausgestreckten Armen unter die jungen
Mädchen, welche in einem benachbarten Hause noch
versammelt waren. Der Abbe und der Chevalier stürz-
ten sich hierauf auf sie und wollten sie völlig tödten
indem sie mit den Kolben der Pistolen auf sie losschlu-
gen. Aber die jungen Mädchen, denen der Schrecken
über diesen Anblick außerordentliche Kräfte und außeror-
dentlichen Muth verlieh, stürzten sich auf die nichtswür-
digen Mörder, entrissen ihnen die Marquise, die ohn-
mächtig in ihrem Blute schwamm, und jagten jene aus
dem Gehöfte fort.

Als die Geschichte ruchbar wurde, nahm sich das
[Ende Spaltensatz]

Märkische Blätter.
Wochenblatt


für belehrende und angenehme Unterhaltung.



ro 6.Hattingen, Sonnabend, den 19. Januar 1850.


[Beginn Spaltensatz]
Die Marquise von Ganges.

Die Marquise von Ganges war ein geborenes Fräu-
lein von Chateaublanc, besaß ein ungeheures Vermögen
und gehörte einer der ersten Familien der Provence an.
Jm Alter von dreizehn Jahren heirathete sie den Mar-
quis von Castellane, einen Enkelsohn des Herzogs von
Villars. Sie war eine der auffallendsten Schönheiten am
Hofe Ludwig XIV., der an Schönheiten so reich war.
Jhr Gemahl der Marquis von Castellane, fiel in einem
Seetreffen, und sie verheirathete sich zum zweiten Mal
mit einem Herrn von Lanide, Marquis von Ganges,
der ein sehr schöner Mann von untadelhaftem Adel,
aber in sehr zerrütteten Vermögensumständen war. Der
Marquis von Ganges hatte zwei Brüder, einen Cheva-
lier von Ganges und einen Abbe von Ganges, die, als
jüngere Söhne der Familie, ein sehr kärgliches Auskom-
men hatten. Beide verliebten sich in ihre Schwägerin.
Diese setzte ihrer Liebe aber nur die kälteste Verachtung entge-
gen. Der Wunsch sich zu rächen und die Habsucht flöß-
ten ihnen einen höllischen Plan ein. Sie heuchelten
Entsagung, versöhnten sich mit der Marquise, und ver-
lockten, im Einverständnisse mit dem Marquis von Gan-
ges, die Unglückliche nach dem Schlosse Ganges. Hie[r]
überredeten sie dieselbe, ein Testament aufzusetzen, in
welchem sie ihrem Gatten mit ihrem ganzen unermeßli-
chen Vermögen ein Geschenk machte. Als das Testament
aufgesetzt war, entfernte sich der Herr Gemahl und ließ
seinen beiden Brüdern freies Feld.

Jetzt spielen Auftritte, denen man keinen Glauben
schenken dürfte, wären sie nicht unwiderlegbar durch die
Verhandlungen festgestellt, die dem Richterspruche des
Parlaments von Toulouse vorangingen. Zuerst versuchte
der Abbe und der Chevalier die Marquise durch eine
Speise zu vergiften. Aber sei es, daß die Dosis nicht
ausreichend war, oder daß die Marquise Verdacht schöpfte,
sie bekam nur ein heftiges Erbrechen davon. Noch leidend
in Folge dieses ersten Vergiftungversuchs hütete die Mar-
quise das Bett, und die adeligen Familien der Umgegend
besuchten sie und leisteten ihr Gesellschaft. Eines Tages
hatte sich eben die Gesellschaft entfernt, als der Abbe
und der Chevalier in das Zimmer der Marquise traten,
die Thür hinter sich verschlossen und ihr erklärten, sie
müßte sterben, es bleibe ihr nur die Wahl zwischen ei-
nem Tode durch Gift, durch's Schwert oder die Pistole.
Vergebens versuchte es die unglückliche Frau, ihre Hen-
[Spaltenumbruch] ker zu rühren; sie waren unerbittlich, und sie entschloß
sich endlich, das Gift zu verschlingen, das man ihr an-
bot. Als sie glaubte sterben zu müssen, bat sie ihre Schwäger
ihr wenigstens einen Beichtvater zu schicken. Sie ver-
sprachen es ihr und verließen das Zimmer. Sobald sie
sich allein sah, schickte sich die Marquise an, aus
dem Fenster ihres Gemachs zu springen. Jn dem Au-
genblick jedoch, als sie sich hinabstürzen wollte, trat ein
Priester Namens Perette, ein Mitschuldiger der Mörder,
in das Zimmer, und da er sah, wie das Schlachtopfer
entspringen wollte, wandte er alle Kraft an sie bei den
Kleidern zurückzuhalten. Allein der Rock der Marquise
zerriß unter seinen Händen, und sie stürzte eine Höhe
von zweiundzwanzig Fuß herab, ohne sich den geringsten
Schaden zuzufügen. Hierauf ergriff der Kaplan eine
sehr schwere Sandstein=Kruke und warf ihr dieselbe
nach dem Kopfe. Die Sandstein=Kruke fiel zwei Finger
breit von der Marquise entfernt nieder, die, ohnmächtig
und halbnackt, querfeldein die Flucht ergriff. So gelangte
sie in ein Bauernhaus der Umgegend, wo mehre junge
Mädchen eben ihre Mahlzeit abhielten. Auf dem Wege
hatte sie die unglaubliche Geistesgegenwart, sich zum
Erbrechen zu zwingen, indem sie sich eine von ihren
langen Haarflechten in den Mund steckte. Der Abbe und
der Chevalier stürzten ihr nach und schrieen laut, ihre
Schwester sei toll und in ihrem Wahnsinn aus dem
Schlosse entsprungen.

Als sie in dem Bauenhause anlangten, bat die Mar-
quise ihren Schwager den Chevalier einen Augenblick
um Gehör, weil sein Herz ihr weniger verhärtet erschie-
nen war, als dasjenige des Abbe. Kaum befanden sie
sich aber allein, so brachte ihr der Chevalier, der sich
des kurzen und scharfen Schwertes, welches die Edel-
leute jener Zeit trugen, wie eines Dolches bediente, fünf
Stiche in die Brust bei, und die Marquise stürzte sich
blutend und mit ausgestreckten Armen unter die jungen
Mädchen, welche in einem benachbarten Hause noch
versammelt waren. Der Abbe und der Chevalier stürz-
ten sich hierauf auf sie und wollten sie völlig tödten
indem sie mit den Kolben der Pistolen auf sie losschlu-
gen. Aber die jungen Mädchen, denen der Schrecken
über diesen Anblick außerordentliche Kräfte und außeror-
dentlichen Muth verlieh, stürzten sich auf die nichtswür-
digen Mörder, entrissen ihnen die Marquise, die ohn-
mächtig in ihrem Blute schwamm, und jagten jene aus
dem Gehöfte fort.

Als die Geschichte ruchbar wurde, nahm sich das
[Ende Spaltensatz]

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Zitationshilfe: Märkische Blätter. Nr. 6. Hattingen, 19. Januar 1850, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_maerkische006_1850/1>, abgerufen am 21.11.2024.