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Mainzer Journal. Nr. 265. Mainz, 8. November 1849.

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Mainzer Journal.


Nro 265. Donnerstag, den 8. November. 1849.


[Beginn Spaltensatz]
Vor und nach dem März 1848.
I.

Aus Oberhessen. Als in Folge der Pariser Februarer-
eignisse und der daran sich knüpfenden revolutionären Bewegun-
gen in Deutschland unsere meisten Regierungen einer völligen
Rathlosigkeit anheimfielen, die Träger der vormärzlichen Regie-
rungspolitik die überall auflodernde Flamme nicht mehr bekäm-
pfen zu können wähnten und aus den Ministerien zurücktraten, um
den "Freunden des Volkes" Platz zu machen, da drängten sich
die Koryphäen der alten Opposition, die Wühler von 1847 auf
die Seiten der Fürsten. Sie suchten den Triumph über den Fall
der Staatsmänner, nach welchen sie unter dem ihnen so kostbaren
Beifalle des großen Haufens und einer demoralisirten Tages-
presse so lange Hieb auf Hieb geführt hatten, zu verbergen unter
der Maske einer gewissen großmüthigen Trauer über die Gefah-
ren, in welche das alte Regierungssystem und der hartnäckige
Widerstand seiner Träger gegen die "gerechten Forderungen eines
seit drei Decennien geknechteten Volkes" die Throne gestürzt hatte.
Den Fürsten riefen sie zu: Warum bliebet ihr so lange taub für
die Rathschläge unserer wohlmeinenden Opposition, die nicht ge-
gen Euch gerichtet war, die vielmehr euere eigenen Jnteressen zu-
gleich mit denen des Volkes gegen die Verblendung, Kurzsichtigkeit
und Corruption euerer Räthe in Schutz nahm!

Diese Herren erreichten ihren Zweck. Die Ministerien mußten
geändert, an die Spitze der Geschäfte mußten Namen berufen
werden, die beim Volke Klang hatten, deren vita anteacta hin-
längliche Garantie gewährte, daß ihre Verwaltung eine " volks-
freundliche " und von aller Achtung für die so lange unterdrückten
Rechte des Bürgers durchdrungen seyn werde. Niemand fragte,
welche Motive im Hintergrunde der früheren Opposition dieser
Herren verborgen gewesen waren; Niemand bekümmerte sich
darum, ob die Sehnsucht nach der Aureole, mit welcher die libe-
rale Tagespresse so freigebig die Häupter der "kühnen Vorstreiter
für Freiheit und Volksrecht" gekrönt hatte, ob das verbuhlte
Haschen nach dem lärmenden Applaus des großen Haufens, ob
eine auf kleinlicher Veranlassung beruhende Leidenschaft, ein Pri-
vathaß gegen die Person des Ministers u. s. w. die Triebfedern
jener in den Ständekammern gehaltenen Philippiken waren, in
welchen seiner Zeit die ganze liberale Welt das gesinnungstüchtige
Gemüth, das für die freien Jnstitutionen eines hochgebildeten
Volkes warm schlagende Herz bewundert hatte. Niemand hielt
sich die Frage vor: ob denn diese Männer, weil sie stundenlange
Reden voll hohlen Bombastes zu den Gallerien der Ständesäle
emporgedonnert hatten, darum auch fähig seyen, die Geschäfte,
an deren Spitze sie sich drängten, mit Umsicht zu verwal-
ten?
Genug, es waren populäre Namen, die unter dem alten
Regime für die große Sache des Volkes und der Freiheit " gelit-
ten " hatten, und dies schien hinlänglich, um durch ihre Berufung
zu den Ministerportefeuilles ein beruhigendes Oel in das Unge-
stüm aufgeregter Volkselemente zu gießen.

Nun galt es aber, sich auf den solchergestalt errungenen Mi-
nistersitzen zu befestigen. Nur der Beifall der Massen, welcher
dahin geführt hatte, konnte auch dort erhalten. Man sah, wie
deutsche Minister, krampfhaft sich festklammernd an das Porte-
feuille, welches so lange das Ziel ihrer heißesten Wünsche gewesen
war, die ehrwürdigsten Attribute des monarchischen Principes
preisgaben der verflachenden Richtung unserer Tage. Der Nim-
bus, welcher die geheiligte Person des Fürsten umgibt und das
Gewand seiner Majestät bildet, ohne welchen die Monarchie in
der That nichts ist, als eine Republik mit erblichem 1) Präsiden-
ten, wurde von den Ministern selbst zerrissen; das Prädicat "von
Gottes Gnaden" wurde mit in den Kauf gegeben; und war da-
mit auch nur eine Jdee zerstört, so war doch immerhin der Fürst
um ein, schon seines ehrwürdigen Alters wegen, hochachtbares
Recht ärmer, und kein Bettler um eine Mahlzeit reicher gewor-
[Spaltenumbruch] den. Den von Tag zu Tag frecher hervortretenden Pöbelexcessen
den Ernst des Strafgesetzes entgegen zu kehren, das schien nicht
rathsam; aber Proclamationen voll süßer Phrasen, mit der Un-
terschrift des volksfreundlichen Ministers und etwa mit einer
Omission beim Namenszuge, um nicht unzeitgemäß daran zu erin-
nern, daß der Minister dem Adelsstande angehöre, flogen durch
Stadt und Land. Concessionen wurden hinausgeschleudert; Alles,
was seit Jahrzehnten in den Oppositionsreden der Kammern, in
den Spalten entsittlichender, an den Wurzeln aller Ordnung in
Staat und Kirche nagender Tagesblätter lügnerisch als Palladium
der Volksfreiheit aufgepflanzt, was der leicht zu bethörenden
Menge in trügender Ferne als ein ihr despotisch vorenthaltenes
Gut gezeigt worden war, um nur Haß gegen die Regierungen zu
wecken und das bürgerliche Leben als verkümmert und unter dem
Drucke unfreier Zustände hinsiechend darzustellen -- das wurde
nun im reichsten Uebermaße und mit einer Hast gewährt, die jede
Ueberlegung, mit welchen Garantien die Gesetzgebung die neu-
geschaffenen Freiheiten zu umgeben habe, um deren Mißbrauch
zu verhüten, absolut ausschloß. Von der französischen Februar-
revolution, gleichwie von einer allmächtigen Fee angehaucht, schien
das deutsche Volk über Nacht zur äußersten Grenze politischer
Reife plötzlich herangeblüht zu seyn. Die Schatzkammern der
Gesetzgebung wurden förmlich geplündert; was diese verwahrten,
um es einem natürlichen Entwickelungsgange gemäß und nach
der erforderlichen Vorbereitung im Leben und in der Schule fort-
schreitend in den Staatsorganismus einzureihen, das wurde mit
einem Male unfertig, erst halb gestaltet, lebensunfähig in die
Zustände hinein geworfen. Die in den Märztagen verheißenen
Jnstitutionen sollten schleunigst in's Leben treten, ohne daß man
sich die Zeit nahm, vollständige Gesetzeswerke nach den Anfor-
derungen unseres Standes der Wissenschaft vorzubereiten und
durch das Zusammenwirken der constitutionellen Factoren der
Legislation zu Stande zu bringen. Das Jnstitut der Jury, ge-
pfropft auf den noch fortbestehenden gemeinrechtlichen Jnquisitions-
prozeß, wie er aus der peinlichen Gerichtsordnung Karl's V. und
aus dem tanonischen Rechte hervorgegangen ist, eine Verbindung,
die bei den schroffsten principiellen Gegensätzen wahrhaft mon-
strös ist; -- ein in der Rechtsgeschichte aller Culturperioden un-
erhörtes Zwitterding von Anklage= und Jnquisitionsprozeß, von
mündlichem und schriftlichem Verfahren; -- das Jnstitut der
Staatsanwaltschaft bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt; -- eine
bürgerliche Prozeßordnung auf der Grundlage der Oeffentlichkeit
und Mündlichkeit, aber ohne ein modernes Civilgesetzbuch, öffent-
liche Debatten in Civilstreitigkeiten, wobei die Anwälte ihre
Plaidoyers mit Jnterpretationen schwieriger Pandectenfragmente
und mit der Lectüre belegender Stellen aus den Folianten von
Cujaz und Donellus zum großen Amüsement des Publicums
würzen werden; -- Preßfreiheit ohne Preßgesetz -- solche legis-
lative Verkehrtheiten sind theils schon errungen, theils uns in
nahe Aussicht gestellt. Daneben eine Organisation der
Administrativbehörde,
die nur darauf berechnet ist, der
Verwaltung einen volksthümlichen Anstrich zu geben, mag auch
der Geschäftsgang schleppend, die Bewegung der Behörde ge-
lähmt, der Unverstand von Leuten, denen es zur Beurtheilung
solcher Angelegenheiten an Bildung und Erfahrung mangelt, ent-
scheidend seyn für das Wohl und Wehe ganzer Verwaltungsbe-
zirke, -- kurz eine Organisation, die nur das Dilemma läßt,
daß ihr Urheber entweder aller Einsicht baar und ledig ist, oder
um jeden Preis zur Befestigung seiner Popularität einen solchen
inwendig zerrissenen Flitter dem Volke hinwerfen wollte.

Wer mit Aufmerksamkeit den Umgestaltungen im Jnnern der
einzelnen Staaten Deutschlands seit dem März vorigen Jahres
gefolgt ist, muß überzeugt seyn, daß dies keine naturgemäße Ent-
wickelung der Zustände ist. Diese Ueberstürzung, dieses Nieder-
reißen, das man nur ebenso unberechtigt, als oberflächlich mit
dem Zustande der Revolution zu entschuldigen suchen kann, muß,
wenn ihm nicht bald Einhalt geschieht, unsere Staaten in Ruinen,
[Ende Spaltensatz]

1) Und nicht einmal Das!
Mainzer Journal.


Nro 265. Donnerstag, den 8. November. 1849.


[Beginn Spaltensatz]
Vor und nach dem März 1848.
I.

Aus Oberhessen. Als in Folge der Pariser Februarer-
eignisse und der daran sich knüpfenden revolutionären Bewegun-
gen in Deutschland unsere meisten Regierungen einer völligen
Rathlosigkeit anheimfielen, die Träger der vormärzlichen Regie-
rungspolitik die überall auflodernde Flamme nicht mehr bekäm-
pfen zu können wähnten und aus den Ministerien zurücktraten, um
den „Freunden des Volkes“ Platz zu machen, da drängten sich
die Koryphäen der alten Opposition, die Wühler von 1847 auf
die Seiten der Fürsten. Sie suchten den Triumph über den Fall
der Staatsmänner, nach welchen sie unter dem ihnen so kostbaren
Beifalle des großen Haufens und einer demoralisirten Tages-
presse so lange Hieb auf Hieb geführt hatten, zu verbergen unter
der Maske einer gewissen großmüthigen Trauer über die Gefah-
ren, in welche das alte Regierungssystem und der hartnäckige
Widerstand seiner Träger gegen die „gerechten Forderungen eines
seit drei Decennien geknechteten Volkes“ die Throne gestürzt hatte.
Den Fürsten riefen sie zu: Warum bliebet ihr so lange taub für
die Rathschläge unserer wohlmeinenden Opposition, die nicht ge-
gen Euch gerichtet war, die vielmehr euere eigenen Jnteressen zu-
gleich mit denen des Volkes gegen die Verblendung, Kurzsichtigkeit
und Corruption euerer Räthe in Schutz nahm!

Diese Herren erreichten ihren Zweck. Die Ministerien mußten
geändert, an die Spitze der Geschäfte mußten Namen berufen
werden, die beim Volke Klang hatten, deren vita anteacta hin-
längliche Garantie gewährte, daß ihre Verwaltung eine „ volks-
freundliche “ und von aller Achtung für die so lange unterdrückten
Rechte des Bürgers durchdrungen seyn werde. Niemand fragte,
welche Motive im Hintergrunde der früheren Opposition dieser
Herren verborgen gewesen waren; Niemand bekümmerte sich
darum, ob die Sehnsucht nach der Aureole, mit welcher die libe-
rale Tagespresse so freigebig die Häupter der „kühnen Vorstreiter
für Freiheit und Volksrecht“ gekrönt hatte, ob das verbuhlte
Haschen nach dem lärmenden Applaus des großen Haufens, ob
eine auf kleinlicher Veranlassung beruhende Leidenschaft, ein Pri-
vathaß gegen die Person des Ministers u. s. w. die Triebfedern
jener in den Ständekammern gehaltenen Philippiken waren, in
welchen seiner Zeit die ganze liberale Welt das gesinnungstüchtige
Gemüth, das für die freien Jnstitutionen eines hochgebildeten
Volkes warm schlagende Herz bewundert hatte. Niemand hielt
sich die Frage vor: ob denn diese Männer, weil sie stundenlange
Reden voll hohlen Bombastes zu den Gallerien der Ständesäle
emporgedonnert hatten, darum auch fähig seyen, die Geschäfte,
an deren Spitze sie sich drängten, mit Umsicht zu verwal-
ten?
Genug, es waren populäre Namen, die unter dem alten
Regime für die große Sache des Volkes und der Freiheit „ gelit-
ten “ hatten, und dies schien hinlänglich, um durch ihre Berufung
zu den Ministerportefeuilles ein beruhigendes Oel in das Unge-
stüm aufgeregter Volkselemente zu gießen.

Nun galt es aber, sich auf den solchergestalt errungenen Mi-
nistersitzen zu befestigen. Nur der Beifall der Massen, welcher
dahin geführt hatte, konnte auch dort erhalten. Man sah, wie
deutsche Minister, krampfhaft sich festklammernd an das Porte-
feuille, welches so lange das Ziel ihrer heißesten Wünsche gewesen
war, die ehrwürdigsten Attribute des monarchischen Principes
preisgaben der verflachenden Richtung unserer Tage. Der Nim-
bus, welcher die geheiligte Person des Fürsten umgibt und das
Gewand seiner Majestät bildet, ohne welchen die Monarchie in
der That nichts ist, als eine Republik mit erblichem 1) Präsiden-
ten, wurde von den Ministern selbst zerrissen; das Prädicat „von
Gottes Gnaden“ wurde mit in den Kauf gegeben; und war da-
mit auch nur eine Jdee zerstört, so war doch immerhin der Fürst
um ein, schon seines ehrwürdigen Alters wegen, hochachtbares
Recht ärmer, und kein Bettler um eine Mahlzeit reicher gewor-
[Spaltenumbruch] den. Den von Tag zu Tag frecher hervortretenden Pöbelexcessen
den Ernst des Strafgesetzes entgegen zu kehren, das schien nicht
rathsam; aber Proclamationen voll süßer Phrasen, mit der Un-
terschrift des volksfreundlichen Ministers und etwa mit einer
Omission beim Namenszuge, um nicht unzeitgemäß daran zu erin-
nern, daß der Minister dem Adelsstande angehöre, flogen durch
Stadt und Land. Concessionen wurden hinausgeschleudert; Alles,
was seit Jahrzehnten in den Oppositionsreden der Kammern, in
den Spalten entsittlichender, an den Wurzeln aller Ordnung in
Staat und Kirche nagender Tagesblätter lügnerisch als Palladium
der Volksfreiheit aufgepflanzt, was der leicht zu bethörenden
Menge in trügender Ferne als ein ihr despotisch vorenthaltenes
Gut gezeigt worden war, um nur Haß gegen die Regierungen zu
wecken und das bürgerliche Leben als verkümmert und unter dem
Drucke unfreier Zustände hinsiechend darzustellen — das wurde
nun im reichsten Uebermaße und mit einer Hast gewährt, die jede
Ueberlegung, mit welchen Garantien die Gesetzgebung die neu-
geschaffenen Freiheiten zu umgeben habe, um deren Mißbrauch
zu verhüten, absolut ausschloß. Von der französischen Februar-
revolution, gleichwie von einer allmächtigen Fee angehaucht, schien
das deutsche Volk über Nacht zur äußersten Grenze politischer
Reife plötzlich herangeblüht zu seyn. Die Schatzkammern der
Gesetzgebung wurden förmlich geplündert; was diese verwahrten,
um es einem natürlichen Entwickelungsgange gemäß und nach
der erforderlichen Vorbereitung im Leben und in der Schule fort-
schreitend in den Staatsorganismus einzureihen, das wurde mit
einem Male unfertig, erst halb gestaltet, lebensunfähig in die
Zustände hinein geworfen. Die in den Märztagen verheißenen
Jnstitutionen sollten schleunigst in's Leben treten, ohne daß man
sich die Zeit nahm, vollständige Gesetzeswerke nach den Anfor-
derungen unseres Standes der Wissenschaft vorzubereiten und
durch das Zusammenwirken der constitutionellen Factoren der
Legislation zu Stande zu bringen. Das Jnstitut der Jury, ge-
pfropft auf den noch fortbestehenden gemeinrechtlichen Jnquisitions-
prozeß, wie er aus der peinlichen Gerichtsordnung Karl's V. und
aus dem tanonischen Rechte hervorgegangen ist, eine Verbindung,
die bei den schroffsten principiellen Gegensätzen wahrhaft mon-
strös ist; — ein in der Rechtsgeschichte aller Culturperioden un-
erhörtes Zwitterding von Anklage= und Jnquisitionsprozeß, von
mündlichem und schriftlichem Verfahren; — das Jnstitut der
Staatsanwaltschaft bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt; — eine
bürgerliche Prozeßordnung auf der Grundlage der Oeffentlichkeit
und Mündlichkeit, aber ohne ein modernes Civilgesetzbuch, öffent-
liche Debatten in Civilstreitigkeiten, wobei die Anwälte ihre
Plaidoyers mit Jnterpretationen schwieriger Pandectenfragmente
und mit der Lectüre belegender Stellen aus den Folianten von
Cujaz und Donellus zum großen Amüsement des Publicums
würzen werden; — Preßfreiheit ohne Preßgesetz — solche legis-
lative Verkehrtheiten sind theils schon errungen, theils uns in
nahe Aussicht gestellt. Daneben eine Organisation der
Administrativbehörde,
die nur darauf berechnet ist, der
Verwaltung einen volksthümlichen Anstrich zu geben, mag auch
der Geschäftsgang schleppend, die Bewegung der Behörde ge-
lähmt, der Unverstand von Leuten, denen es zur Beurtheilung
solcher Angelegenheiten an Bildung und Erfahrung mangelt, ent-
scheidend seyn für das Wohl und Wehe ganzer Verwaltungsbe-
zirke, — kurz eine Organisation, die nur das Dilemma läßt,
daß ihr Urheber entweder aller Einsicht baar und ledig ist, oder
um jeden Preis zur Befestigung seiner Popularität einen solchen
inwendig zerrissenen Flitter dem Volke hinwerfen wollte.

Wer mit Aufmerksamkeit den Umgestaltungen im Jnnern der
einzelnen Staaten Deutschlands seit dem März vorigen Jahres
gefolgt ist, muß überzeugt seyn, daß dies keine naturgemäße Ent-
wickelung der Zustände ist. Diese Ueberstürzung, dieses Nieder-
reißen, das man nur ebenso unberechtigt, als oberflächlich mit
dem Zustande der Revolution zu entschuldigen suchen kann, muß,
wenn ihm nicht bald Einhalt geschieht, unsere Staaten in Ruinen,
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1) Und nicht einmal Das!
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Sie suchten den Triumph über den Fall der Staatsmänner, nach welchen sie unter dem ihnen so kostbaren Beifalle des großen Haufens und einer demoralisirten Tages- presse so lange Hieb auf Hieb geführt hatten, zu verbergen unter der Maske einer gewissen großmüthigen Trauer über die Gefah- ren, in welche das alte Regierungssystem und der hartnäckige Widerstand seiner Träger gegen die „gerechten Forderungen eines seit drei Decennien geknechteten Volkes“ die Throne gestürzt hatte. Den Fürsten riefen sie zu: Warum bliebet ihr so lange taub für die Rathschläge unserer wohlmeinenden Opposition, die nicht ge- gen Euch gerichtet war, die vielmehr euere eigenen Jnteressen zu- gleich mit denen des Volkes gegen die Verblendung, Kurzsichtigkeit und Corruption euerer Räthe in Schutz nahm! Diese Herren erreichten ihren Zweck. Die Ministerien mußten geändert, an die Spitze der Geschäfte mußten Namen berufen werden, die beim Volke Klang hatten, deren vita anteacta hin- längliche Garantie gewährte, daß ihre Verwaltung eine „ volks- freundliche “ und von aller Achtung für die so lange unterdrückten Rechte des Bürgers durchdrungen seyn werde. Niemand fragte, welche Motive im Hintergrunde der früheren Opposition dieser Herren verborgen gewesen waren; Niemand bekümmerte sich darum, ob die Sehnsucht nach der Aureole, mit welcher die libe- rale Tagespresse so freigebig die Häupter der „kühnen Vorstreiter für Freiheit und Volksrecht“ gekrönt hatte, ob das verbuhlte Haschen nach dem lärmenden Applaus des großen Haufens, ob eine auf kleinlicher Veranlassung beruhende Leidenschaft, ein Pri- vathaß gegen die Person des Ministers u. s. w. die Triebfedern jener in den Ständekammern gehaltenen Philippiken waren, in welchen seiner Zeit die ganze liberale Welt das gesinnungstüchtige Gemüth, das für die freien Jnstitutionen eines hochgebildeten Volkes warm schlagende Herz bewundert hatte. Niemand hielt sich die Frage vor: ob denn diese Männer, weil sie stundenlange Reden voll hohlen Bombastes zu den Gallerien der Ständesäle emporgedonnert hatten, darum auch fähig seyen, die Geschäfte, an deren Spitze sie sich drängten, mit Umsicht zu verwal- ten? Genug, es waren populäre Namen, die unter dem alten Regime für die große Sache des Volkes und der Freiheit „ gelit- ten “ hatten, und dies schien hinlänglich, um durch ihre Berufung zu den Ministerportefeuilles ein beruhigendes Oel in das Unge- stüm aufgeregter Volkselemente zu gießen. Nun galt es aber, sich auf den solchergestalt errungenen Mi- nistersitzen zu befestigen. Nur der Beifall der Massen, welcher dahin geführt hatte, konnte auch dort erhalten. Man sah, wie deutsche Minister, krampfhaft sich festklammernd an das Porte- feuille, welches so lange das Ziel ihrer heißesten Wünsche gewesen war, die ehrwürdigsten Attribute des monarchischen Principes preisgaben der verflachenden Richtung unserer Tage. Der Nim- bus, welcher die geheiligte Person des Fürsten umgibt und das Gewand seiner Majestät bildet, ohne welchen die Monarchie in der That nichts ist, als eine Republik mit erblichem 1) Präsiden- ten, wurde von den Ministern selbst zerrissen; das Prädicat „von Gottes Gnaden“ wurde mit in den Kauf gegeben; und war da- mit auch nur eine Jdee zerstört, so war doch immerhin der Fürst um ein, schon seines ehrwürdigen Alters wegen, hochachtbares Recht ärmer, und kein Bettler um eine Mahlzeit reicher gewor- den. Den von Tag zu Tag frecher hervortretenden Pöbelexcessen den Ernst des Strafgesetzes entgegen zu kehren, das schien nicht rathsam; aber Proclamationen voll süßer Phrasen, mit der Un- terschrift des volksfreundlichen Ministers und etwa mit einer Omission beim Namenszuge, um nicht unzeitgemäß daran zu erin- nern, daß der Minister dem Adelsstande angehöre, flogen durch Stadt und Land. Concessionen wurden hinausgeschleudert; Alles, was seit Jahrzehnten in den Oppositionsreden der Kammern, in den Spalten entsittlichender, an den Wurzeln aller Ordnung in Staat und Kirche nagender Tagesblätter lügnerisch als Palladium der Volksfreiheit aufgepflanzt, was der leicht zu bethörenden Menge in trügender Ferne als ein ihr despotisch vorenthaltenes Gut gezeigt worden war, um nur Haß gegen die Regierungen zu wecken und das bürgerliche Leben als verkümmert und unter dem Drucke unfreier Zustände hinsiechend darzustellen — das wurde nun im reichsten Uebermaße und mit einer Hast gewährt, die jede Ueberlegung, mit welchen Garantien die Gesetzgebung die neu- geschaffenen Freiheiten zu umgeben habe, um deren Mißbrauch zu verhüten, absolut ausschloß. Von der französischen Februar- revolution, gleichwie von einer allmächtigen Fee angehaucht, schien das deutsche Volk über Nacht zur äußersten Grenze politischer Reife plötzlich herangeblüht zu seyn. Die Schatzkammern der Gesetzgebung wurden förmlich geplündert; was diese verwahrten, um es einem natürlichen Entwickelungsgange gemäß und nach der erforderlichen Vorbereitung im Leben und in der Schule fort- schreitend in den Staatsorganismus einzureihen, das wurde mit einem Male unfertig, erst halb gestaltet, lebensunfähig in die Zustände hinein geworfen. Die in den Märztagen verheißenen Jnstitutionen sollten schleunigst in's Leben treten, ohne daß man sich die Zeit nahm, vollständige Gesetzeswerke nach den Anfor- derungen unseres Standes der Wissenschaft vorzubereiten und durch das Zusammenwirken der constitutionellen Factoren der Legislation zu Stande zu bringen. Das Jnstitut der Jury, ge- pfropft auf den noch fortbestehenden gemeinrechtlichen Jnquisitions- prozeß, wie er aus der peinlichen Gerichtsordnung Karl's V. und aus dem tanonischen Rechte hervorgegangen ist, eine Verbindung, die bei den schroffsten principiellen Gegensätzen wahrhaft mon- strös ist; — ein in der Rechtsgeschichte aller Culturperioden un- erhörtes Zwitterding von Anklage= und Jnquisitionsprozeß, von mündlichem und schriftlichem Verfahren; — das Jnstitut der Staatsanwaltschaft bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt; — eine bürgerliche Prozeßordnung auf der Grundlage der Oeffentlichkeit und Mündlichkeit, aber ohne ein modernes Civilgesetzbuch, öffent- liche Debatten in Civilstreitigkeiten, wobei die Anwälte ihre Plaidoyers mit Jnterpretationen schwieriger Pandectenfragmente und mit der Lectüre belegender Stellen aus den Folianten von Cujaz und Donellus zum großen Amüsement des Publicums würzen werden; — Preßfreiheit ohne Preßgesetz — solche legis- lative Verkehrtheiten sind theils schon errungen, theils uns in nahe Aussicht gestellt. Daneben eine Organisation der Administrativbehörde, die nur darauf berechnet ist, der Verwaltung einen volksthümlichen Anstrich zu geben, mag auch der Geschäftsgang schleppend, die Bewegung der Behörde ge- lähmt, der Unverstand von Leuten, denen es zur Beurtheilung solcher Angelegenheiten an Bildung und Erfahrung mangelt, ent- scheidend seyn für das Wohl und Wehe ganzer Verwaltungsbe- zirke, — kurz eine Organisation, die nur das Dilemma läßt, daß ihr Urheber entweder aller Einsicht baar und ledig ist, oder um jeden Preis zur Befestigung seiner Popularität einen solchen inwendig zerrissenen Flitter dem Volke hinwerfen wollte. Wer mit Aufmerksamkeit den Umgestaltungen im Jnnern der einzelnen Staaten Deutschlands seit dem März vorigen Jahres gefolgt ist, muß überzeugt seyn, daß dies keine naturgemäße Ent- wickelung der Zustände ist. Diese Ueberstürzung, dieses Nieder- reißen, das man nur ebenso unberechtigt, als oberflächlich mit dem Zustande der Revolution zu entschuldigen suchen kann, muß, wenn ihm nicht bald Einhalt geschieht, unsere Staaten in Ruinen, 1) Und nicht einmal Das!

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Zitationshilfe: Mainzer Journal. Nr. 265. Mainz, 8. November 1849, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_mainzerjournal265_1849/1>, abgerufen am 21.11.2024.