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Marburger Zeitung. Nr. 123, Marburg, 14.10.1909.

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Die Einzelnummer kostet 10 Heller.




Nr. 123 Donnerstag, 14. Oktober 1909 48. Jahrgang.



[Spaltenumbruch]
Von der Staatssprache herunter
zur Landessprache.

Noch in dem denkwürdigen Pfingstprogramme
der deutschen Parteien war die deutsche Staatssprache
im Mittelpunkte der politischen Forderungen. Ver-
klungen sind die Zeiten, in denen Freiherr v. Schar-
schmid und Graf Wurmbrand ihre Vorschläge über
die deutsche Staatssprache unterbreiteten. Ein weiteres
Stück von dem amtlichen Gebrauche der deutschen
Sprache wurde im vorigen Jahre unter der Koalition
weggerissen. Die Reste der deutschen Staatssprache,
soweit diese Einrichtung auf der Grundlage von
alten Gesetzen, historischen Überlieferungen und tat-
sächlichem Gebrauche noch besteht, schrumpfen immer
mehr zusammen. Anträge wegen der Einführung
der deutschen Staatssprache werden kaum noch ge-
stellt, und die niedergehende Entwicklung zeigt sich,
wie ein Wiener Blatt schreibt, am deutlichsten darin,
daß in den Besprechungen zwischen dem Minister-
präsidenten und den Vertretern des deutschfreisinnigen
und des christlichsozialen Verbandes die Möglichkeit
geprüft wurde, ob die deutsche Sprache gesetzlich
mindestens als Landessprache ein kleines Ausgedinge
bekommen könne. Nicht die Staatssprache, aber
Landessprache für Niederösterreich, Oberösterreich,
Salzburg und Vorarlberg! Wirklich, die Geschichte
vom herabgekommenen Edelmanne. Wie groß muß
die nationale Gefahr sein, und wie tief mußte das
Selbstgefühl des deutschen Volkes herabgedrückt werden,
ehe das Bedürfnis entstehen konnte, die ausschließ-
liche Landesüblichkeit der deutschen Sprache in
Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg und Vor-
arlberg festzulegen. Der geistige Prozeß, der sich
dabei zeigt, ist sehr bemerkenswert und sehr traurig.
Denn auch der Standpunkt, daß die Sprachenfragen
von der Reichsgesetzgebung entschieden werden müssen,
wird dabei wohl nicht formell, aber tatsächlich um-
[Spaltenumbruch] gangen. Auch dieser verfassungsmäßige Besitzstand
der deutschen Politik scheint immer mehr als kaum
haltbare Festung angesehen zu werden. Die Lösung
der nationalen Fragen wird dem Reiche entwunden,
aus dem Zentralparlamente hinausgeschoben und
in die Landtage verlegt. Ein bewegter Abschnitt der
österreichischen Politik mußte vorausgehen, ehe der
Gedanke auftauchen konnte, die Landesüblichkeit der
deutschen Sprache in den vier reindeutschen Kron-
ländern gesetzlich festzulegen und zu sichern.

Es gehört zu den seltsamsten Ereignissen der
österreichischen Geschichte, daß die deutsche Staats-
sprache als Landessprache der reindeutschen Kron-
länder den gesetzlichen Schutz braucht. Von der
Staatssprache herunter zur Landessprache! Diese
Linie zeichnet das Schicksal des deutschen Volkes
in Österreich.




Die gestern in den Landtagen der reindeutschen
Kronländer Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg
und Vorarlberg eingebrachten beiden nationalen Ge-
setzentwürfe lauten:

§ 1. Die Verhandlungen des Landtages werden
in deutscher Sprache geführt.

§ 2. Die Amts- und Geschäftssprache des
Landesausschusses und der ihm unterstehenden Or-
gane und Angestellten, sowie der Gemeindevertre-
tungen, ihrer Organe und Angestellten ist die deutsche
Sprache. Diese Bestimmung hat auch auf die Städte
mit eigenem Statut Anwendung zu finden.

§ 3. Für Beschlüsse des Landtages über bean-
tragte Änderungen gelten dieselben Vorschriften, wie
für Beschlüsse auf Änderung der Landesordnung.

Das zweite Gesetz, betreffend die Unterrichts-
sprache an den Realschulen, an den Lehrer- und
Lehrerinnenbildungsanstalten, lautet:

§ 1. Die Unterrichtssprache an den Staats-
und Landesrealschulen ist die deutsche, Privatreal-
schulen können das Recht zur Ausstellung staats-
[Spaltenumbruch] gültiger Zeugnisse nur dann erhalten, wenn deren
Unterrichtssprache die deutsche ist.

§ 2. Die Unterrichtssprache an den staatlichen
und vom Lande erhaltenen Lehrer- und Lehrerinnen-
bildungsanstalten ist die deutsche. Andere Privat-
Lehrer- und -Lehreinnenbildungsanstalten können das
Recht auf Ausstellung staatsgiltiger Zeugnisse nur
dann erhalten, wenn ihre Unterrichtssprache die
deutsche ist.

Der oberösterreichische Verfassungsausschuß hat
beschlossen, den Landesausschuß anzuweisen, einen
Bericht vorzulegen, durch den auch die Festlegung
der deutschen Unterrichtssprache an den Volks- und
Bürgerschulen des Landes gesetzlich vorgenommen
werden soll. Ein Beschluß des Verfassungsaus-
schusses geht dahin, der Landesausschuß möge einen
Antrag vorlegen, wonach künftighin nur solche Lrhrer
anzustellen sind, die an einer deutschen Lehrerbil-
dungsanstalt herangebildet worden sind und an einer
solchen die Lehramtsprüfung abgelegt haben.

Der Statthalter erklärte, daß die Regierung
gegen die oben erwähnten beiden Gesetzentwürfe
keine Einwendung erheben und sie zur Sanktion
empfehlen werde.




Obige gesetzliche Bestimmungen reichen natürlich
nicht aus, um den deutschen Charakter der rein-
deutschen Kronländer für alle Zeit zu erhalten;
einen solchen Schutz hätte nur die Lex Kolisko-
Axmann gewähren können, wenigstens hinsichtlich
des Volks schulwesens. Aber eben deshalb, weil
die Lex Kolisko hiezu geeignet gewesen wäre, wurde
sie von der Regierung nicht der kaiserlichen Sanktion
"unterbreitet", während sie für die obigen Gesetz-
entwürfe, welche die von unten herauf erfolgende
Slawisierung keineswegs behindern, sofort die
Sanktion zusagte. Man will offenbar der Bevölkerung
Sand in die Augen streuen und sie national
wieder einlullen!




[Spaltenumbruch]
Entlarvt.
Roman von Ludwig Blümcke.

1 (Nachdruck verboten.)

Graf Ewald von Waldengrund saß eifrig
schreibend in einer der Weinlauben des herrlichen
Schloßparkes. Da trat der alte Kastellan Täubner
schlurfenden Schrittes mit überaus wichtiger Miene
zu ihm heran und kündete durch eine vielsagende Geberde
an, daß er etwas ganz Besonderes zu melden hätte.

"Zum Geier, kann man denn nicht eine Stunde
ungestört sein? Was hat Er denn, he? Lasse Er
sein Grimassenschneiden und schieße Er los!" So
fuhr der leicht erregbare Herr seinen Untergebenen
an und schleuderte dabei seinen Gänsekiel recht
unsanft auf den grünen Gartentisch.

"Pst, Herr Graf, die Sache ist von äußerster
Wichtigkeit. Es handelt sich ums edle Weidwerk",
sprach Täubner mit ernster Miene. "Ich bin
zwei gefährlichen Wilderern durch einen Zufall auf
die Spur gekommen."

Da flammte es hell auf in Graf Ewalds
stahlgrauen strengen Augen. Er erhob sich, so schnell
die Gicht das zuließ und trat dicht an den Kastellan
heran. "Ja, Herr Graf, der Täubner ist ein alter
Schlaukopf", fuhr dieser mit listigem Blinzeln fort.
"Der sieht mit seinen scharfen Augen alles. Geh ich
da gestern Abend, nur um frische Luft zu schnappen,
in den Wald und komme an die Schenke. Ehe ich
eintrete, horche ich erst am Fensterladen, ob auch
eine anständige Gesellschaft dort. Da sehe ich denn
ganz deutlich durch einen Spalt Ew. Gnaden
[Spaltenumbruch] Revierförster Otto und den Waldläufer Heyse und
-- den Erzspitzbuben Nathan aus der Stadt, diesen
alten Schmuggler, dem Ew. Gnaden kein Wild
mehr verkaufen wollen, weil er früher die Förster
bestochen hat. Der Mann spendierte Otto
und Heyse eine Flasche Rotwein nach der anderen
und dann schüttelten sie sich die Hände wie zu einer
großen Verbrüderung. Ganz deutlich hörte ich Nathan
sprechen: "Wir werden reich sein in einem Jahr!"
-- Also Herr Graf, ich bin der festen Überzeugung,
die ganzen Wilddiebereien, die Ew. Gnaden so
viel Kummer bereiten, werden von den eigenen
Förstern ausgeübt."

"Das ist allerdings eine Mitteilung, die mir
wichtig scheint!" rief der Graf aus, während seine
wohlgepflegte, aristokratische Rechte nervös über den
grauen Knebelbart fuhr. Seine Reckengestalt richtete
sich hoch auf und mit geballten Fäusten lief er
umher wie ein gereizter Tiger, der seine Beute zu
verschlingen sucht, nachdem er sich erst noch einen
Augenblick an ihrer Hilflosigkeit geweidet.

"Geh Er, Täubner und bestelle mir den Diener",
-- damit war der kluge Kastellan entlassen.

Der Diener Süßmann erschien und erhielt den
Befehl, sofort Förster Otto und den Waldläufer
Heyse aufs Schloß zu beordern.

Graf Ewald von Waldengrund war, seit er
sich von dem Tun und Treiben der großen Welt
gänzlich zurückgezogen, ein rechter, echter Sonderling
geworden. Die Mauern seines stolzen Ahnenschlosses,
das durch seine romantische Lage zu den größten
Sehenswürdigkeiten im Fürstentum gehörte, verließ
er nur, wenn es galt, seiner Jagdleidenschaft zu
[Spaltenumbruch] fröhnen oder wenn er am Geburtstage des Landes-
herrn zu Hofe geladen wurde, wo er ein gern ge-
sehener Gast war. Er war in seinen jungen Jahren
preußischer Offizier gewesen, hatte an den Freiheits-
kriegen rühmlichen Anteil genommen und wurde dann,
weil eine Verwundung ihn zwang, die Kriegsdienste
aufzugeben, aus einem flotten Husarenrittmeister
ein Sonderling. Sein Herz war deutsch und edel,
aber trotzdem besaß er viele Eigenschaften, die ihn
bei seiner engeren Umgebung für einen gestrengen,
in seinem Urteil sehr voreiligen und oft ungerechten
Herrn gelten ließen.

Da kam Briefträger Abel. Der Graf sah ihn
durch den Staketenzaun und rief ihn heran.

"Außer der Zeitung vier Briefe", sagte der
Postbote froh lächelnd, eines guten Trinkgeldes
gewärtig. Das erhielt er mit nervöser Hast vom
erwartungsvollen Empfänger.

Briefe gehörten auf Schloß Waldengrund
nämlich zu den Seltenheiten. "Hm, es handelt
sich um eine ausgeschriebene Oberförsterstelle",
murmelte der Schloßherr vor sich hin. "Und der
hier, der ist von Ilse!"

Dabei verklärte sich sein faltenreiches, ver-
wittertes Antlitz. Ilse war seine jüngste Tochter und
weilte zur Zeit bei ihrer älteren Schwester Annette,
der Gattin des fürstlichen Kammerherrn Freiherrn
von Schmachtenberg, um Großstadtluft zu atmen
und gute Sitte im Sinne der oberen Zehntausend
des Fürstentums zu erlernen, denn die ging dem
in der freien Gottesnatur aufgewachsenen Wildfang
noch vollkommen ab. Lächelnd legte der Graf


Marburger Beitung.



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Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg:
Ganzjährig 12 K, halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat-
lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr.

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Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und
Samstag abends.

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11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4.

Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon Nr. 24.)


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und koſtet die fünfmal geſpaltene Kleinzeile 12 h.

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Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags.

Die Einzelnummer koſtet 10 Heller.




Nr. 123 Donnerstag, 14. Oktober 1909 48. Jahrgang.



[Spaltenumbruch]
Von der Staatssprache herunter
zur Landessprache.

Noch in dem denkwürdigen Pfingſtprogramme
der deutſchen Parteien war die deutſche Staatsſprache
im Mittelpunkte der politiſchen Forderungen. Ver-
klungen ſind die Zeiten, in denen Freiherr v. Schar-
ſchmid und Graf Wurmbrand ihre Vorſchläge über
die deutſche Staatsſprache unterbreiteten. Ein weiteres
Stück von dem amtlichen Gebrauche der deutſchen
Sprache wurde im vorigen Jahre unter der Koalition
weggeriſſen. Die Reſte der deutſchen Staatsſprache,
ſoweit dieſe Einrichtung auf der Grundlage von
alten Geſetzen, hiſtoriſchen Überlieferungen und tat-
ſächlichem Gebrauche noch beſteht, ſchrumpfen immer
mehr zuſammen. Anträge wegen der Einführung
der deutſchen Staatsſprache werden kaum noch ge-
ſtellt, und die niedergehende Entwicklung zeigt ſich,
wie ein Wiener Blatt ſchreibt, am deutlichſten darin,
daß in den Beſprechungen zwiſchen dem Miniſter-
präſidenten und den Vertretern des deutſchfreiſinnigen
und des chriſtlichſozialen Verbandes die Möglichkeit
geprüft wurde, ob die deutſche Sprache geſetzlich
mindeſtens als Landesſprache ein kleines Ausgedinge
bekommen könne. Nicht die Staatsſprache, aber
Landesſprache für Niederöſterreich, Oberöſterreich,
Salzburg und Vorarlberg! Wirklich, die Geſchichte
vom herabgekommenen Edelmanne. Wie groß muß
die nationale Gefahr ſein, und wie tief mußte das
Selbſtgefühl des deutſchen Volkes herabgedrückt werden,
ehe das Bedürfnis entſtehen konnte, die ausſchließ-
liche Landesüblichkeit der deutſchen Sprache in
Niederöſterreich, Oberöſterreich, Salzburg und Vor-
arlberg feſtzulegen. Der geiſtige Prozeß, der ſich
dabei zeigt, iſt ſehr bemerkenswert und ſehr traurig.
Denn auch der Standpunkt, daß die Sprachenfragen
von der Reichsgeſetzgebung entſchieden werden müſſen,
wird dabei wohl nicht formell, aber tatſächlich um-
[Spaltenumbruch] gangen. Auch dieſer verfaſſungsmäßige Beſitzſtand
der deutſchen Politik ſcheint immer mehr als kaum
haltbare Feſtung angeſehen zu werden. Die Löſung
der nationalen Fragen wird dem Reiche entwunden,
aus dem Zentralparlamente hinausgeſchoben und
in die Landtage verlegt. Ein bewegter Abſchnitt der
öſterreichiſchen Politik mußte vorausgehen, ehe der
Gedanke auftauchen konnte, die Landesüblichkeit der
deutſchen Sprache in den vier reindeutſchen Kron-
ländern geſetzlich feſtzulegen und zu ſichern.

Es gehört zu den ſeltſamſten Ereigniſſen der
öſterreichiſchen Geſchichte, daß die deutſche Staats-
ſprache als Landesſprache der reindeutſchen Kron-
länder den geſetzlichen Schutz braucht. Von der
Staatsſprache herunter zur Landesſprache! Dieſe
Linie zeichnet das Schickſal des deutſchen Volkes
in Öſterreich.




Die geſtern in den Landtagen der reindeutſchen
Kronländer Niederöſterreich, Oberöſterreich, Salzburg
und Vorarlberg eingebrachten beiden nationalen Ge-
ſetzentwürfe lauten:

§ 1. Die Verhandlungen des Landtages werden
in deutſcher Sprache geführt.

§ 2. Die Amts- und Geſchäftsſprache des
Landesausſchuſſes und der ihm unterſtehenden Or-
gane und Angeſtellten, ſowie der Gemeindevertre-
tungen, ihrer Organe und Angeſtellten iſt die deutſche
Sprache. Dieſe Beſtimmung hat auch auf die Städte
mit eigenem Statut Anwendung zu finden.

§ 3. Für Beſchlüſſe des Landtages über bean-
tragte Änderungen gelten dieſelben Vorſchriften, wie
für Beſchlüſſe auf Änderung der Landesordnung.

Das zweite Geſetz, betreffend die Unterrichts-
ſprache an den Realſchulen, an den Lehrer- und
Lehrerinnenbildungsanſtalten, lautet:

§ 1. Die Unterrichtsſprache an den Staats-
und Landesrealſchulen iſt die deutſche, Privatreal-
ſchulen können das Recht zur Ausſtellung ſtaats-
[Spaltenumbruch] gültiger Zeugniſſe nur dann erhalten, wenn deren
Unterrichtsſprache die deutſche iſt.

§ 2. Die Unterrichtsſprache an den ſtaatlichen
und vom Lande erhaltenen Lehrer- und Lehrerinnen-
bildungsanſtalten iſt die deutſche. Andere Privat-
Lehrer- und -Lehreinnenbildungsanſtalten können das
Recht auf Ausſtellung ſtaatsgiltiger Zeugniſſe nur
dann erhalten, wenn ihre Unterrichtsſprache die
deutſche iſt.

Der oberöſterreichiſche Verfaſſungsausſchuß hat
beſchloſſen, den Landesausſchuß anzuweiſen, einen
Bericht vorzulegen, durch den auch die Feſtlegung
der deutſchen Unterrichtsſprache an den Volks- und
Bürgerſchulen des Landes geſetzlich vorgenommen
werden ſoll. Ein Beſchluß des Verfaſſungsaus-
ſchuſſes geht dahin, der Landesausſchuß möge einen
Antrag vorlegen, wonach künftighin nur ſolche Lrhrer
anzuſtellen ſind, die an einer deutſchen Lehrerbil-
dungsanſtalt herangebildet worden ſind und an einer
ſolchen die Lehramtsprüfung abgelegt haben.

Der Statthalter erklärte, daß die Regierung
gegen die oben erwähnten beiden Geſetzentwürfe
keine Einwendung erheben und ſie zur Sanktion
empfehlen werde.




Obige geſetzliche Beſtimmungen reichen natürlich
nicht aus, um den deutſchen Charakter der rein-
deutſchen Kronländer für alle Zeit zu erhalten;
einen ſolchen Schutz hätte nur die Lex Kolisko-
Axmann gewähren können, wenigſtens hinſichtlich
des Volks ſchulweſens. Aber eben deshalb, weil
die Lex Kolisko hiezu geeignet geweſen wäre, wurde
ſie von der Regierung nicht der kaiſerlichen Sanktion
„unterbreitet“, während ſie für die obigen Geſetz-
entwürfe, welche die von unten herauf erfolgende
Slawiſierung keineswegs behindern, ſofort die
Sanktion zuſagte. Man will offenbar der Bevölkerung
Sand in die Augen ſtreuen und ſie national
wieder einlullen!




[Spaltenumbruch]
Entlarvt.
Roman von Ludwig Blümcke.

1 (Nachdruck verboten.)

Graf Ewald von Waldengrund ſaß eifrig
ſchreibend in einer der Weinlauben des herrlichen
Schloßparkes. Da trat der alte Kaſtellan Täubner
ſchlurfenden Schrittes mit überaus wichtiger Miene
zu ihm heran und kündete durch eine vielſagende Geberde
an, daß er etwas ganz Beſonderes zu melden hätte.

„Zum Geier, kann man denn nicht eine Stunde
ungeſtört ſein? Was hat Er denn, he? Laſſe Er
ſein Grimaſſenſchneiden und ſchieße Er los!“ So
fuhr der leicht erregbare Herr ſeinen Untergebenen
an und ſchleuderte dabei ſeinen Gänſekiel recht
unſanft auf den grünen Gartentiſch.

„Pſt, Herr Graf, die Sache iſt von äußerſter
Wichtigkeit. Es handelt ſich ums edle Weidwerk“,
ſprach Täubner mit ernſter Miene. „Ich bin
zwei gefährlichen Wilderern durch einen Zufall auf
die Spur gekommen.“

Da flammte es hell auf in Graf Ewalds
ſtahlgrauen ſtrengen Augen. Er erhob ſich, ſo ſchnell
die Gicht das zuließ und trat dicht an den Kaſtellan
heran. „Ja, Herr Graf, der Täubner iſt ein alter
Schlaukopf“, fuhr dieſer mit liſtigem Blinzeln fort.
„Der ſieht mit ſeinen ſcharfen Augen alles. Geh ich
da geſtern Abend, nur um friſche Luft zu ſchnappen,
in den Wald und komme an die Schenke. Ehe ich
eintrete, horche ich erſt am Fenſterladen, ob auch
eine anſtändige Geſellſchaft dort. Da ſehe ich denn
ganz deutlich durch einen Spalt Ew. Gnaden
[Spaltenumbruch] Revierförſter Otto und den Waldläufer Heyſe und
— den Erzſpitzbuben Nathan aus der Stadt, dieſen
alten Schmuggler, dem Ew. Gnaden kein Wild
mehr verkaufen wollen, weil er früher die Förſter
beſtochen hat. Der Mann ſpendierte Otto
und Heyſe eine Flaſche Rotwein nach der anderen
und dann ſchüttelten ſie ſich die Hände wie zu einer
großen Verbrüderung. Ganz deutlich hörte ich Nathan
ſprechen: „Wir werden reich ſein in einem Jahr!“
— Alſo Herr Graf, ich bin der feſten Überzeugung,
die ganzen Wilddiebereien, die Ew. Gnaden ſo
viel Kummer bereiten, werden von den eigenen
Förſtern ausgeübt.“

„Das iſt allerdings eine Mitteilung, die mir
wichtig ſcheint!“ rief der Graf aus, während ſeine
wohlgepflegte, ariſtokratiſche Rechte nervös über den
grauen Knebelbart fuhr. Seine Reckengeſtalt richtete
ſich hoch auf und mit geballten Fäuſten lief er
umher wie ein gereizter Tiger, der ſeine Beute zu
verſchlingen ſucht, nachdem er ſich erſt noch einen
Augenblick an ihrer Hilfloſigkeit geweidet.

„Geh Er, Täubner und beſtelle mir den Diener“,
— damit war der kluge Kaſtellan entlaſſen.

Der Diener Süßmann erſchien und erhielt den
Befehl, ſofort Förſter Otto und den Waldläufer
Heyſe aufs Schloß zu beordern.

Graf Ewald von Waldengrund war, ſeit er
ſich von dem Tun und Treiben der großen Welt
gänzlich zurückgezogen, ein rechter, echter Sonderling
geworden. Die Mauern ſeines ſtolzen Ahnenſchloſſes,
das durch ſeine romantiſche Lage zu den größten
Sehenswürdigkeiten im Fürſtentum gehörte, verließ
er nur, wenn es galt, ſeiner Jagdleidenſchaft zu
[Spaltenumbruch] fröhnen oder wenn er am Geburtstage des Landes-
herrn zu Hofe geladen wurde, wo er ein gern ge-
ſehener Gaſt war. Er war in ſeinen jungen Jahren
preußiſcher Offizier geweſen, hatte an den Freiheits-
kriegen rühmlichen Anteil genommen und wurde dann,
weil eine Verwundung ihn zwang, die Kriegsdienſte
aufzugeben, aus einem flotten Huſarenrittmeiſter
ein Sonderling. Sein Herz war deutſch und edel,
aber trotzdem beſaß er viele Eigenſchaften, die ihn
bei ſeiner engeren Umgebung für einen geſtrengen,
in ſeinem Urteil ſehr voreiligen und oft ungerechten
Herrn gelten ließen.

Da kam Briefträger Abel. Der Graf ſah ihn
durch den Staketenzaun und rief ihn heran.

„Außer der Zeitung vier Briefe“, ſagte der
Poſtbote froh lächelnd, eines guten Trinkgeldes
gewärtig. Das erhielt er mit nervöſer Haſt vom
erwartungsvollen Empfänger.

Briefe gehörten auf Schloß Waldengrund
nämlich zu den Seltenheiten. „Hm, es handelt
ſich um eine ausgeſchriebene Oberförſterſtelle“,
murmelte der Schloßherr vor ſich hin. „Und der
hier, der iſt von Ilſe!“

Dabei verklärte ſich ſein faltenreiches, ver-
wittertes Antlitz. Ilſe war ſeine jüngſte Tochter und
weilte zur Zeit bei ihrer älteren Schweſter Annette,
der Gattin des fürſtlichen Kammerherrn Freiherrn
von Schmachtenberg, um Großſtadtluft zu atmen
und gute Sitte im Sinne der oberen Zehntauſend
des Fürſtentums zu erlernen, denn die ging dem
in der freien Gottesnatur aufgewachſenen Wildfang
noch vollkommen ab. Lächelnd legte der Graf


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[[1]/0001] Marburger Beitung. Der Preis des Blattes beträgt: Für Marburg: Ganzjährig 12 K, halbjährig 6 K, vierteljährig 3 K, monat- lich 1 K. Bei Zuſtellung ins Haus monatlich 20 h mehr. Mit Poſtverſendung: Ganzjährig 14 K, halbjährig 7 K, vierteljährig 3 K 50 h. Das Abonnement dauert bis zur ſchriftlichen Abbeſtellung. Erſcheint jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag abends. Sprechſtunden des Schriftleiters an allen Wochentagen von 11—12 Uhr vorm. und von 5—6 Uhr nachm. Poſtgaſſe 4. Die Verwaltung befindet ſich: Poſtgaſſe 4. (Telephon Nr. 24.) Anzeigen werden im Verlage des Blattes und von allen größeren Annoncen-Expeditionen entgegengenommen und koſtet die fünfmal geſpaltene Kleinzeile 12 h. Schluß für Einſchaltungen: Dienstag, Donnerstag, Samstag 10 Uhr vormittags. Die Einzelnummer koſtet 10 Heller. Nr. 123 Donnerstag, 14. Oktober 1909 48. Jahrgang. Von der Staatssprache herunter zur Landessprache. Noch in dem denkwürdigen Pfingſtprogramme der deutſchen Parteien war die deutſche Staatsſprache im Mittelpunkte der politiſchen Forderungen. Ver- klungen ſind die Zeiten, in denen Freiherr v. Schar- ſchmid und Graf Wurmbrand ihre Vorſchläge über die deutſche Staatsſprache unterbreiteten. Ein weiteres Stück von dem amtlichen Gebrauche der deutſchen Sprache wurde im vorigen Jahre unter der Koalition weggeriſſen. Die Reſte der deutſchen Staatsſprache, ſoweit dieſe Einrichtung auf der Grundlage von alten Geſetzen, hiſtoriſchen Überlieferungen und tat- ſächlichem Gebrauche noch beſteht, ſchrumpfen immer mehr zuſammen. Anträge wegen der Einführung der deutſchen Staatsſprache werden kaum noch ge- ſtellt, und die niedergehende Entwicklung zeigt ſich, wie ein Wiener Blatt ſchreibt, am deutlichſten darin, daß in den Beſprechungen zwiſchen dem Miniſter- präſidenten und den Vertretern des deutſchfreiſinnigen und des chriſtlichſozialen Verbandes die Möglichkeit geprüft wurde, ob die deutſche Sprache geſetzlich mindeſtens als Landesſprache ein kleines Ausgedinge bekommen könne. Nicht die Staatsſprache, aber Landesſprache für Niederöſterreich, Oberöſterreich, Salzburg und Vorarlberg! Wirklich, die Geſchichte vom herabgekommenen Edelmanne. Wie groß muß die nationale Gefahr ſein, und wie tief mußte das Selbſtgefühl des deutſchen Volkes herabgedrückt werden, ehe das Bedürfnis entſtehen konnte, die ausſchließ- liche Landesüblichkeit der deutſchen Sprache in Niederöſterreich, Oberöſterreich, Salzburg und Vor- arlberg feſtzulegen. Der geiſtige Prozeß, der ſich dabei zeigt, iſt ſehr bemerkenswert und ſehr traurig. Denn auch der Standpunkt, daß die Sprachenfragen von der Reichsgeſetzgebung entſchieden werden müſſen, wird dabei wohl nicht formell, aber tatſächlich um- gangen. Auch dieſer verfaſſungsmäßige Beſitzſtand der deutſchen Politik ſcheint immer mehr als kaum haltbare Feſtung angeſehen zu werden. Die Löſung der nationalen Fragen wird dem Reiche entwunden, aus dem Zentralparlamente hinausgeſchoben und in die Landtage verlegt. Ein bewegter Abſchnitt der öſterreichiſchen Politik mußte vorausgehen, ehe der Gedanke auftauchen konnte, die Landesüblichkeit der deutſchen Sprache in den vier reindeutſchen Kron- ländern geſetzlich feſtzulegen und zu ſichern. Es gehört zu den ſeltſamſten Ereigniſſen der öſterreichiſchen Geſchichte, daß die deutſche Staats- ſprache als Landesſprache der reindeutſchen Kron- länder den geſetzlichen Schutz braucht. Von der Staatsſprache herunter zur Landesſprache! Dieſe Linie zeichnet das Schickſal des deutſchen Volkes in Öſterreich. Die geſtern in den Landtagen der reindeutſchen Kronländer Niederöſterreich, Oberöſterreich, Salzburg und Vorarlberg eingebrachten beiden nationalen Ge- ſetzentwürfe lauten: § 1. Die Verhandlungen des Landtages werden in deutſcher Sprache geführt. § 2. Die Amts- und Geſchäftsſprache des Landesausſchuſſes und der ihm unterſtehenden Or- gane und Angeſtellten, ſowie der Gemeindevertre- tungen, ihrer Organe und Angeſtellten iſt die deutſche Sprache. Dieſe Beſtimmung hat auch auf die Städte mit eigenem Statut Anwendung zu finden. § 3. Für Beſchlüſſe des Landtages über bean- tragte Änderungen gelten dieſelben Vorſchriften, wie für Beſchlüſſe auf Änderung der Landesordnung. Das zweite Geſetz, betreffend die Unterrichts- ſprache an den Realſchulen, an den Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanſtalten, lautet: § 1. Die Unterrichtsſprache an den Staats- und Landesrealſchulen iſt die deutſche, Privatreal- ſchulen können das Recht zur Ausſtellung ſtaats- gültiger Zeugniſſe nur dann erhalten, wenn deren Unterrichtsſprache die deutſche iſt. § 2. Die Unterrichtsſprache an den ſtaatlichen und vom Lande erhaltenen Lehrer- und Lehrerinnen- bildungsanſtalten iſt die deutſche. Andere Privat- Lehrer- und -Lehreinnenbildungsanſtalten können das Recht auf Ausſtellung ſtaatsgiltiger Zeugniſſe nur dann erhalten, wenn ihre Unterrichtsſprache die deutſche iſt. Der oberöſterreichiſche Verfaſſungsausſchuß hat beſchloſſen, den Landesausſchuß anzuweiſen, einen Bericht vorzulegen, durch den auch die Feſtlegung der deutſchen Unterrichtsſprache an den Volks- und Bürgerſchulen des Landes geſetzlich vorgenommen werden ſoll. Ein Beſchluß des Verfaſſungsaus- ſchuſſes geht dahin, der Landesausſchuß möge einen Antrag vorlegen, wonach künftighin nur ſolche Lrhrer anzuſtellen ſind, die an einer deutſchen Lehrerbil- dungsanſtalt herangebildet worden ſind und an einer ſolchen die Lehramtsprüfung abgelegt haben. Der Statthalter erklärte, daß die Regierung gegen die oben erwähnten beiden Geſetzentwürfe keine Einwendung erheben und ſie zur Sanktion empfehlen werde. Obige geſetzliche Beſtimmungen reichen natürlich nicht aus, um den deutſchen Charakter der rein- deutſchen Kronländer für alle Zeit zu erhalten; einen ſolchen Schutz hätte nur die Lex Kolisko- Axmann gewähren können, wenigſtens hinſichtlich des Volks ſchulweſens. Aber eben deshalb, weil die Lex Kolisko hiezu geeignet geweſen wäre, wurde ſie von der Regierung nicht der kaiſerlichen Sanktion „unterbreitet“, während ſie für die obigen Geſetz- entwürfe, welche die von unten herauf erfolgende Slawiſierung keineswegs behindern, ſofort die Sanktion zuſagte. Man will offenbar der Bevölkerung Sand in die Augen ſtreuen und ſie national wieder einlullen! Entlarvt. Roman von Ludwig Blümcke. 1 (Nachdruck verboten.) Graf Ewald von Waldengrund ſaß eifrig ſchreibend in einer der Weinlauben des herrlichen Schloßparkes. Da trat der alte Kaſtellan Täubner ſchlurfenden Schrittes mit überaus wichtiger Miene zu ihm heran und kündete durch eine vielſagende Geberde an, daß er etwas ganz Beſonderes zu melden hätte. „Zum Geier, kann man denn nicht eine Stunde ungeſtört ſein? Was hat Er denn, he? Laſſe Er ſein Grimaſſenſchneiden und ſchieße Er los!“ So fuhr der leicht erregbare Herr ſeinen Untergebenen an und ſchleuderte dabei ſeinen Gänſekiel recht unſanft auf den grünen Gartentiſch. „Pſt, Herr Graf, die Sache iſt von äußerſter Wichtigkeit. Es handelt ſich ums edle Weidwerk“, ſprach Täubner mit ernſter Miene. „Ich bin zwei gefährlichen Wilderern durch einen Zufall auf die Spur gekommen.“ Da flammte es hell auf in Graf Ewalds ſtahlgrauen ſtrengen Augen. Er erhob ſich, ſo ſchnell die Gicht das zuließ und trat dicht an den Kaſtellan heran. „Ja, Herr Graf, der Täubner iſt ein alter Schlaukopf“, fuhr dieſer mit liſtigem Blinzeln fort. „Der ſieht mit ſeinen ſcharfen Augen alles. Geh ich da geſtern Abend, nur um friſche Luft zu ſchnappen, in den Wald und komme an die Schenke. Ehe ich eintrete, horche ich erſt am Fenſterladen, ob auch eine anſtändige Geſellſchaft dort. Da ſehe ich denn ganz deutlich durch einen Spalt Ew. Gnaden Revierförſter Otto und den Waldläufer Heyſe und — den Erzſpitzbuben Nathan aus der Stadt, dieſen alten Schmuggler, dem Ew. Gnaden kein Wild mehr verkaufen wollen, weil er früher die Förſter beſtochen hat. Der Mann ſpendierte Otto und Heyſe eine Flaſche Rotwein nach der anderen und dann ſchüttelten ſie ſich die Hände wie zu einer großen Verbrüderung. Ganz deutlich hörte ich Nathan ſprechen: „Wir werden reich ſein in einem Jahr!“ — Alſo Herr Graf, ich bin der feſten Überzeugung, die ganzen Wilddiebereien, die Ew. Gnaden ſo viel Kummer bereiten, werden von den eigenen Förſtern ausgeübt.“ „Das iſt allerdings eine Mitteilung, die mir wichtig ſcheint!“ rief der Graf aus, während ſeine wohlgepflegte, ariſtokratiſche Rechte nervös über den grauen Knebelbart fuhr. Seine Reckengeſtalt richtete ſich hoch auf und mit geballten Fäuſten lief er umher wie ein gereizter Tiger, der ſeine Beute zu verſchlingen ſucht, nachdem er ſich erſt noch einen Augenblick an ihrer Hilfloſigkeit geweidet. „Geh Er, Täubner und beſtelle mir den Diener“, — damit war der kluge Kaſtellan entlaſſen. Der Diener Süßmann erſchien und erhielt den Befehl, ſofort Förſter Otto und den Waldläufer Heyſe aufs Schloß zu beordern. Graf Ewald von Waldengrund war, ſeit er ſich von dem Tun und Treiben der großen Welt gänzlich zurückgezogen, ein rechter, echter Sonderling geworden. Die Mauern ſeines ſtolzen Ahnenſchloſſes, das durch ſeine romantiſche Lage zu den größten Sehenswürdigkeiten im Fürſtentum gehörte, verließ er nur, wenn es galt, ſeiner Jagdleidenſchaft zu fröhnen oder wenn er am Geburtstage des Landes- herrn zu Hofe geladen wurde, wo er ein gern ge- ſehener Gaſt war. Er war in ſeinen jungen Jahren preußiſcher Offizier geweſen, hatte an den Freiheits- kriegen rühmlichen Anteil genommen und wurde dann, weil eine Verwundung ihn zwang, die Kriegsdienſte aufzugeben, aus einem flotten Huſarenrittmeiſter ein Sonderling. Sein Herz war deutſch und edel, aber trotzdem beſaß er viele Eigenſchaften, die ihn bei ſeiner engeren Umgebung für einen geſtrengen, in ſeinem Urteil ſehr voreiligen und oft ungerechten Herrn gelten ließen. Da kam Briefträger Abel. Der Graf ſah ihn durch den Staketenzaun und rief ihn heran. „Außer der Zeitung vier Briefe“, ſagte der Poſtbote froh lächelnd, eines guten Trinkgeldes gewärtig. Das erhielt er mit nervöſer Haſt vom erwartungsvollen Empfänger. Briefe gehörten auf Schloß Waldengrund nämlich zu den Seltenheiten. „Hm, es handelt ſich um eine ausgeſchriebene Oberförſterſtelle“, murmelte der Schloßherr vor ſich hin. „Und der hier, der iſt von Ilſe!“ Dabei verklärte ſich ſein faltenreiches, ver- wittertes Antlitz. Ilſe war ſeine jüngſte Tochter und weilte zur Zeit bei ihrer älteren Schweſter Annette, der Gattin des fürſtlichen Kammerherrn Freiherrn von Schmachtenberg, um Großſtadtluft zu atmen und gute Sitte im Sinne der oberen Zehntauſend des Fürſtentums zu erlernen, denn die ging dem in der freien Gottesnatur aufgewachſenen Wildfang noch vollkommen ab. Lächelnd legte der Graf

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grepect GmbH: Bereitstellung der Texttranskription und Textauszeichnung. (2018-01-26T13:38:42Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Marburger Zeitung. Nr. 123, Marburg, 14.10.1909, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_marburger123_1909/1>, abgerufen am 21.11.2024.