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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856.

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[Beginn Spaltensatz] hochconservative Oberwallis gewählt hat, welches sonst
von allen Gauen und Thälern der Schweiz am zähesten
am Bestehenden festhielt; daß sie gerade dort damit an-
sing, die Kirchen zu demoliren und die Altäre umzustürzen,
wo die Kirche bisher in den Gemüthern einen Grund
und Boden gefunden hatte, der durch keinerlei ketzerische
Stöße je zum Wanken gebracht worden war.

Jhr Korrespondent saß an jenem Julitage unserer
Erdrevolution, gleich der ungeheuern Mehrzahl der Eidge-
nossen, eben bei Tische, etwa fünfundzwanzig Wegstunden
in gerader Linie von Visp, dem Centrum unseres Erdbe-
benperimeters entfernt, als jener mit allem, was darauf
stand, in schaukelnde Bewegung zu gerathen begann und
während fünfzehn bis zwanzig Sekunden drei oder viermal
sich auf= und abwärts zu wiegen für gut fand, wobei
Wasser= und Weinflasche auf höchst auffallende Weise die
Köpfe zusammensteckten und Pfeffer = und Salzfaß sich
gegenseitig höchst unsanft mit den Ellenbogen in die Rip-
pen fuhren; zugleich rollte tief unten ein unterirdischer
Donner, als ob die Fässer im Keller mit einander eine
Galoppade tanzten, und die Hausglocke klingelte, von un-
sichtbarer Hand angezogen, schrill und ängstlich. Sie kön-
nen sich die Aufregung der Hunderttausende denken, die
solchermaßen von ihrem ruhigen Mittagessen aufgestört
wurden, und die sich keineswegs legte, als sich nun die
Stöße fast Tag für Tag wiederholten, Dutzende von Schorn-
steinen in sich selbst und in die unten kochenden Suppen-
töpfe zusammenstürzten und die hohen Kirchthürme alle
ob diesem tollen Treiben auf die bedenklichste Weise ihre
Häupter schüttelten. Aber man gewöhnt sich an Alles.
Da die alte Mutter Erde nach Wochen und Monaten wie-
der und wieder Gänsehaut bekam und zusammenschauerte,
wurde es etwas alltägliches. Die Furcht, das unheimliche
Grauen verschwand allmählig und nun singt, musicirt,
malt, tanzt und spielt man Komödie für die armen ob-
dachlosen Bewohner von Visp, Stalden und St. Niklaus.
Eine Erderschütterung, die vor wenigen Tagen wieder
stattfand und hauptsächlich an den Ufern der Aar, in Jn-
terlacken, Solothurn, Aarau gespürt wurde, ward mit
größter Gemüthsruhe hingenommen; höchstens, daß einer
zum andern sagte: "Wir werden wieder Neues aus dem
Wallis hören!"

Erlassen Sie mir, Jhnen die Wirkungen des Erd-
bebens im schwer heimgesuchten Visperthal zu schildern,
da ich es doch nicht aus eigener Anschanung zu thun im
Stande wäre. Dafür will ich Jhnen davon melden, wie
bei uns das "Volk," d. h. diejenigen, welche Humboldts
Kosmos nicht studirt haben, dieses Naturereigniß anschauen
und was sie daraus folgern.

Trotz alledem und alledem ist denn doch die Mutter
Erde im Bewußtseyn des "Volkes" kein bloßer Klumpen
Kies und Lehm, sondern ein individuelles Wesen, welches
ungefähr wie der Mensch, der darauf herumkrabbelt, lebt
und fühlt, gesund und krank seyn kann. Daß Mutter Erde
einigermaßen unpäßlich sey, war bei diesem selben Volke
[Spaltenumbruch] schon seit Jahren eine ausgemachte Sache. Woher wäre
sonst die Kartoffelkrankheit gekommen, und später die Trau-
benfäule, und endlich die Seuche der Kirschbäume, der Lin-
den und mancher anderer Organismen, welche in der Erde
wurzeln? Fühlt sich einer unwohl, so raisonnirte ferner
das "Volk," so bessert es sich gewöhnlich nicht, bis der
Körper den Krankheitsstoff herausgeschwitzt oder auf an-
dere Weise sich davon entledigt hat, weßhalb man, wenn
man krank ist, zum Arzte geht, der dann je nach Um-
ständen purgirt, schröpft oder zur Ader läßt. Mutter
Erde werde es wohl auch so haben, wie andere Kinder
des Staubes; sey sie unpaß, so müsse, was sie krank
mache, heraus, und da man ihr weder Brechweinstein noch
Bittersalz einflößen könne, so sey ihr nicht zu verdenken,
wenn sie sich auf andere Weise zu erleichtern suche. Da
kollere es denn im Leib der alten Dame, es setze Grim-
men und Krämpfe ab; daher die Erdbeben. Nun die
Erde ihre Krankheitskrisis überstanden habe, werde es sich
mit der Erdäpfelfäule wohl bessern, sagte das "Volk." --
Sie werden mir gestehen müssen, daß dieses Raisonne-
ment nicht ohne Logik ist und nicht weniger für sich hat
als manche scharf= und tiefsinnige Erklärung der Gelehr-
ten, welche -- sit venia verbo -- doch nicht im Stande
waren, den Hund hinter dem Ofen hervorzulocken, d. h.
die Erdäpfel, die Trauben u. s. w. wieder gesund zu ma-
chen. Das "Volk" räumt den Gelehrten nun um so we-
niger das Feld, als die Kartoffelernte des fünfundfünf-
ziger Jahres seit zehn Jahren die erste war, an welcher
der Landmann wieder einmal seine Freude haben konnte.

Es ist nicht zu läugnen, daß diese Pflanzenepidemien
etwas unheimlich Grauenhaftes haben. Dieses plötzliche
Schwarzwerden ganzer Aecker, dieser über den Feldern
brütende Leichengeruch, diese wie mit Asche bestreuten
Weinberge mit ihren zerplatzten, verkümmerten und rosti-
gen Beeren schienen die stummen Zeugen eines unsicht-
baren dämonischen Einflusses zu seyn. Und dann, wie
bedrohlich und unerklärlich das Ueberspringen der Krank-
heit von einer Pflanzenspecies auf die andere! So ist in
der Gegend, welche ich bewohne, das Geschlecht der Kirsch-
bäume beinahe ausgestorben. Die Kirsche, diese liebliche
Frucht, das Labsal der Sperlinge und Kinder, wird auf
unsern Märkten bald seltener seyn, als die Orange; das
Kirschwasser, dieser duftige schweizerische Nationalschnaps,
ist so zu sagen nur noch eine Mythe. Die Bäume, welche
im letzt verstossenen Frühling ihre letzten Kräfte zusam-
mengerafft hatten, die weiße Blüthenstandarte auf jedem
Hügel aufzupflanzen, ließen ihre Früchte vor der Reife
fallen; schon im Juni wurden ihre Blätter falb, und kaum
war die Sommersonnenwende vorbei, so standen sie mit
nackten Zweigen da wie mitten im Winter, -- die mei-
sten um nicht wieder zu grünen. Auch an die Linde machte
sich die Seuche. Jhre Blätter bekamen braune Rostflecken
und fielen vor der Zeit. Selbst manche Birnbäume wur-
den von der Krankheit angegriffen und mancher Garten
sah einem Spitale gleich, in welchem Kohl, Möhren,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] hochconservative Oberwallis gewählt hat, welches sonst
von allen Gauen und Thälern der Schweiz am zähesten
am Bestehenden festhielt; daß sie gerade dort damit an-
sing, die Kirchen zu demoliren und die Altäre umzustürzen,
wo die Kirche bisher in den Gemüthern einen Grund
und Boden gefunden hatte, der durch keinerlei ketzerische
Stöße je zum Wanken gebracht worden war.

Jhr Korrespondent saß an jenem Julitage unserer
Erdrevolution, gleich der ungeheuern Mehrzahl der Eidge-
nossen, eben bei Tische, etwa fünfundzwanzig Wegstunden
in gerader Linie von Visp, dem Centrum unseres Erdbe-
benperimeters entfernt, als jener mit allem, was darauf
stand, in schaukelnde Bewegung zu gerathen begann und
während fünfzehn bis zwanzig Sekunden drei oder viermal
sich auf= und abwärts zu wiegen für gut fand, wobei
Wasser= und Weinflasche auf höchst auffallende Weise die
Köpfe zusammensteckten und Pfeffer = und Salzfaß sich
gegenseitig höchst unsanft mit den Ellenbogen in die Rip-
pen fuhren; zugleich rollte tief unten ein unterirdischer
Donner, als ob die Fässer im Keller mit einander eine
Galoppade tanzten, und die Hausglocke klingelte, von un-
sichtbarer Hand angezogen, schrill und ängstlich. Sie kön-
nen sich die Aufregung der Hunderttausende denken, die
solchermaßen von ihrem ruhigen Mittagessen aufgestört
wurden, und die sich keineswegs legte, als sich nun die
Stöße fast Tag für Tag wiederholten, Dutzende von Schorn-
steinen in sich selbst und in die unten kochenden Suppen-
töpfe zusammenstürzten und die hohen Kirchthürme alle
ob diesem tollen Treiben auf die bedenklichste Weise ihre
Häupter schüttelten. Aber man gewöhnt sich an Alles.
Da die alte Mutter Erde nach Wochen und Monaten wie-
der und wieder Gänsehaut bekam und zusammenschauerte,
wurde es etwas alltägliches. Die Furcht, das unheimliche
Grauen verschwand allmählig und nun singt, musicirt,
malt, tanzt und spielt man Komödie für die armen ob-
dachlosen Bewohner von Visp, Stalden und St. Niklaus.
Eine Erderschütterung, die vor wenigen Tagen wieder
stattfand und hauptsächlich an den Ufern der Aar, in Jn-
terlacken, Solothurn, Aarau gespürt wurde, ward mit
größter Gemüthsruhe hingenommen; höchstens, daß einer
zum andern sagte: „Wir werden wieder Neues aus dem
Wallis hören!“

Erlassen Sie mir, Jhnen die Wirkungen des Erd-
bebens im schwer heimgesuchten Visperthal zu schildern,
da ich es doch nicht aus eigener Anschanung zu thun im
Stande wäre. Dafür will ich Jhnen davon melden, wie
bei uns das „Volk,“ d. h. diejenigen, welche Humboldts
Kosmos nicht studirt haben, dieses Naturereigniß anschauen
und was sie daraus folgern.

Trotz alledem und alledem ist denn doch die Mutter
Erde im Bewußtseyn des „Volkes“ kein bloßer Klumpen
Kies und Lehm, sondern ein individuelles Wesen, welches
ungefähr wie der Mensch, der darauf herumkrabbelt, lebt
und fühlt, gesund und krank seyn kann. Daß Mutter Erde
einigermaßen unpäßlich sey, war bei diesem selben Volke
[Spaltenumbruch] schon seit Jahren eine ausgemachte Sache. Woher wäre
sonst die Kartoffelkrankheit gekommen, und später die Trau-
benfäule, und endlich die Seuche der Kirschbäume, der Lin-
den und mancher anderer Organismen, welche in der Erde
wurzeln? Fühlt sich einer unwohl, so raisonnirte ferner
das „Volk,“ so bessert es sich gewöhnlich nicht, bis der
Körper den Krankheitsstoff herausgeschwitzt oder auf an-
dere Weise sich davon entledigt hat, weßhalb man, wenn
man krank ist, zum Arzte geht, der dann je nach Um-
ständen purgirt, schröpft oder zur Ader läßt. Mutter
Erde werde es wohl auch so haben, wie andere Kinder
des Staubes; sey sie unpaß, so müsse, was sie krank
mache, heraus, und da man ihr weder Brechweinstein noch
Bittersalz einflößen könne, so sey ihr nicht zu verdenken,
wenn sie sich auf andere Weise zu erleichtern suche. Da
kollere es denn im Leib der alten Dame, es setze Grim-
men und Krämpfe ab; daher die Erdbeben. Nun die
Erde ihre Krankheitskrisis überstanden habe, werde es sich
mit der Erdäpfelfäule wohl bessern, sagte das „Volk.“ —
Sie werden mir gestehen müssen, daß dieses Raisonne-
ment nicht ohne Logik ist und nicht weniger für sich hat
als manche scharf= und tiefsinnige Erklärung der Gelehr-
ten, welche — sit venia verbo — doch nicht im Stande
waren, den Hund hinter dem Ofen hervorzulocken, d. h.
die Erdäpfel, die Trauben u. s. w. wieder gesund zu ma-
chen. Das „Volk“ räumt den Gelehrten nun um so we-
niger das Feld, als die Kartoffelernte des fünfundfünf-
ziger Jahres seit zehn Jahren die erste war, an welcher
der Landmann wieder einmal seine Freude haben konnte.

Es ist nicht zu läugnen, daß diese Pflanzenepidemien
etwas unheimlich Grauenhaftes haben. Dieses plötzliche
Schwarzwerden ganzer Aecker, dieser über den Feldern
brütende Leichengeruch, diese wie mit Asche bestreuten
Weinberge mit ihren zerplatzten, verkümmerten und rosti-
gen Beeren schienen die stummen Zeugen eines unsicht-
baren dämonischen Einflusses zu seyn. Und dann, wie
bedrohlich und unerklärlich das Ueberspringen der Krank-
heit von einer Pflanzenspecies auf die andere! So ist in
der Gegend, welche ich bewohne, das Geschlecht der Kirsch-
bäume beinahe ausgestorben. Die Kirsche, diese liebliche
Frucht, das Labsal der Sperlinge und Kinder, wird auf
unsern Märkten bald seltener seyn, als die Orange; das
Kirschwasser, dieser duftige schweizerische Nationalschnaps,
ist so zu sagen nur noch eine Mythe. Die Bäume, welche
im letzt verstossenen Frühling ihre letzten Kräfte zusam-
mengerafft hatten, die weiße Blüthenstandarte auf jedem
Hügel aufzupflanzen, ließen ihre Früchte vor der Reife
fallen; schon im Juni wurden ihre Blätter falb, und kaum
war die Sommersonnenwende vorbei, so standen sie mit
nackten Zweigen da wie mitten im Winter, — die mei-
sten um nicht wieder zu grünen. Auch an die Linde machte
sich die Seuche. Jhre Blätter bekamen braune Rostflecken
und fielen vor der Zeit. Selbst manche Birnbäume wur-
den von der Krankheit angegriffen und mancher Garten
sah einem Spitale gleich, in welchem Kohl, Möhren,
[Ende Spaltensatz]

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Nun die Erde ihre Krankheitskrisis überstanden habe, werde es sich mit der Erdäpfelfäule wohl bessern, sagte das „Volk.“ — Sie werden mir gestehen müssen, daß dieses Raisonne- ment nicht ohne Logik ist und nicht weniger für sich hat als manche scharf= und tiefsinnige Erklärung der Gelehr- ten, welche — sit venia verbo — doch nicht im Stande waren, den Hund hinter dem Ofen hervorzulocken, d. h. die Erdäpfel, die Trauben u. s. w. wieder gesund zu ma- chen. Das „Volk“ räumt den Gelehrten nun um so we- niger das Feld, als die Kartoffelernte des fünfundfünf- ziger Jahres seit zehn Jahren die erste war, an welcher der Landmann wieder einmal seine Freude haben konnte. Es ist nicht zu läugnen, daß diese Pflanzenepidemien etwas unheimlich Grauenhaftes haben. Dieses plötzliche Schwarzwerden ganzer Aecker, dieser über den Feldern brütende Leichengeruch, diese wie mit Asche bestreuten Weinberge mit ihren zerplatzten, verkümmerten und rosti- gen Beeren schienen die stummen Zeugen eines unsicht- baren dämonischen Einflusses zu seyn. Und dann, wie bedrohlich und unerklärlich das Ueberspringen der Krank- heit von einer Pflanzenspecies auf die andere! So ist in der Gegend, welche ich bewohne, das Geschlecht der Kirsch- bäume beinahe ausgestorben. Die Kirsche, diese liebliche Frucht, das Labsal der Sperlinge und Kinder, wird auf unsern Märkten bald seltener seyn, als die Orange; das Kirschwasser, dieser duftige schweizerische Nationalschnaps, ist so zu sagen nur noch eine Mythe. Die Bäume, welche im letzt verstossenen Frühling ihre letzten Kräfte zusam- mengerafft hatten, die weiße Blüthenstandarte auf jedem Hügel aufzupflanzen, ließen ihre Früchte vor der Reife fallen; schon im Juni wurden ihre Blätter falb, und kaum war die Sommersonnenwende vorbei, so standen sie mit nackten Zweigen da wie mitten im Winter, — die mei- sten um nicht wieder zu grünen. Auch an die Linde machte sich die Seuche. Jhre Blätter bekamen braune Rostflecken und fielen vor der Zeit. Selbst manche Birnbäume wur- den von der Krankheit angegriffen und mancher Garten sah einem Spitale gleich, in welchem Kohl, Möhren,

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt06_1856/19>, abgerufen am 21.11.2024.