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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856.

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[Beginn Spaltensatz] Bewohner angesteckter und ungesunder Häuser in öffentlichen
Anstalten unterbrachten, die Wohnungen desinficirten und
reinigten, den Bedürftigen kräftige gesunde Nahrung ver-
schafften u. s. w. Für die Trefflichkeit der öffentlichen
Anstalten spricht schon die Thatsache, daß das Verhältniß
der Genesungen zu den Erkrankungen im Choleraspital,
wo die Armen behandelt wurden, ein günstigeres war,
als in den Privathäusern, wo der Bemittelte, der von
der Krankheit befallen wurde, sich pflegen ließ. -- Die
Seuche blieb aber nicht im Weichbild Basels, sondern
breitete sich auch in der Landschaft aus, wo hauptsäch-
lich die Eisenbahnarbeiter am nördlichen Fuße des Jura,
die Minirer, welche den achttausend Fuß langen Tunnel
unter dem Hauenstein graben, heimgesucht wurden. Obst,
neuer Wein unreife Kartoffeln, die dumpfe unreine Luft
[Spaltenumbruch] in den tiefen Schachten und Stollen, und die engen über-
füllten Wohnungen bei den umwohnenden Bauern, welche
keineswegs dafür eingerichtet waren, einigen hundert oder
tausend fremden Arbeitern Quattier zu geben, mögen
das ihrige dazu beigetragen haben, dann vielleicht auch
der Schnaps, von welchem die englischen Arbeiter, deren
der Tunnelunternehmer Brassey eine Anzahl mit sich brachte,
erstaunliche Massen vertilgen sollen, in welchem löblichen
Thun sie, wie Fama erzählt, von ihren schöneren Hälften
getreulich unterstützt werden. -- Etwas später als in Basel
brach die Cholera in Zürich aus, wo etwa zweihundert
Erkrankungen und hundert und einige Todesfälle constatirt
wurden. Noch milder trat die Epidemie in Genf und im
südlichsten Theil des Kantons Tessin auf und sporadisch,
in einzelnen Fällen, sonst noch in einigen andern Kantonen.

[Ende Spaltensatz]

( Schluß folgt. )





Goethe und Jung-Stilling.
( Schluß. )
[Beginn Spaltensatz]

Die Straßburger Gesellschaft war unterdessen wie-
der um eine Person vermehrt worden. Lenz, der be-
kannte Dichter, gährend, brausend, extravagant, wie er
damals war, hatte sich eingefunden. Goethe und Lenz,
Lerse und Stilling machten jezt im Straßburger Kreise
einen kleinen, eng geschlossenen Cirkel aus. Jeder freute
sich am andern, jedem Einzelnen ward es erst bei den an-
dern wohl. Stillings tiefe Religiosität war weit davon
entfernt, in eine abstruse, alles andere verdammende Fröm-
melei auszuarten. Sie hinderte ihn keineswegs, auch solche
Männer zu lieben, die freier dachten als er; nur durften
sie keine Spötter seyn. Am wenigsten war dieß der Fall
bei Goethe, in dem schon damals der göttliche Strahl des
Genius immer heller zu leuchten begann. Goethe, der
Dichter der Natur und der Wahrheit, ragt unter seiner
antichristlichen Mit = und Nachwelt schon dadurch vortheil-
haft hervor, daß er freier, edler und toleranter gesinnt,
weder einer einzelnen politischen Partei, noch einer einzelnen
der christlichen Confessionen ausschließlich angehörend, in
jeder ihr Gutes erkannte, vor jeder tüchtigen Jndividuali-
tät, die das Christenthum lebendig in sich aufnahm, Ehr-
furcht hegte, und das Kernhafte im religiösen Leben an-
derer mit dem intuitiven Blicke des ächten Dichters
würdigte, der die Spreu von dem Waizen wohl zu son-
[Spaltenumbruch] dern wußte. Die Milde und Humanität, mit der sein
edler Geist in früheren wie in späteren Jahren über christ-
liche und theologische Fragen urtheilte, erfreut und erquickt
den Unbefangenen noch immer und könnte manchem ortho-
doxen Eiferer zum Muster dienen.

Endlich sollte sich auch dieser Kreis von edlen Herzen
und hellen Köpfen lösen. Während Stilling seine medi-
cinischen Studien mit Eifer fortsezte, disputirte Goethe im
folgenden Jahr öffentlich und reiste in die Vaterstadt.
Mit welchen Schmerzen er sich von Straßburg, den lieben
Freunden, dem schönen Elsaß und dem lieblichen Sesenheim
trennte, ist uns allen aus seinem Leben hinlänglich be-
kannt. Er und Stilling schlossen einen engen Freund-
schaftsbund, und daß dieser sich in Rath und That be-
währte, wird die Folge lehren.

Jm folgenden Winter las Stilling mit Erlaubniß des
Professors Spielmann selbst ein Collegium über die Chemie,
präparirte auf der Anatomie vollends durch, was ihm noch
fehlte, repetirte noch das Eine und Andere, schrieb seine
medicinische Dissertation, die er seinem gnädigsten Landes-
herrn, dem Kurfürsten von der Pfalz, dedicirte, ließ sich
examiniren und rüstete sich zur Abreise. Als nun endlich
von seinem Schwiegervater das erwartete Geld ankam,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] Bewohner angesteckter und ungesunder Häuser in öffentlichen
Anstalten unterbrachten, die Wohnungen desinficirten und
reinigten, den Bedürftigen kräftige gesunde Nahrung ver-
schafften u. s. w. Für die Trefflichkeit der öffentlichen
Anstalten spricht schon die Thatsache, daß das Verhältniß
der Genesungen zu den Erkrankungen im Choleraspital,
wo die Armen behandelt wurden, ein günstigeres war,
als in den Privathäusern, wo der Bemittelte, der von
der Krankheit befallen wurde, sich pflegen ließ. — Die
Seuche blieb aber nicht im Weichbild Basels, sondern
breitete sich auch in der Landschaft aus, wo hauptsäch-
lich die Eisenbahnarbeiter am nördlichen Fuße des Jura,
die Minirer, welche den achttausend Fuß langen Tunnel
unter dem Hauenstein graben, heimgesucht wurden. Obst,
neuer Wein unreife Kartoffeln, die dumpfe unreine Luft
[Spaltenumbruch] in den tiefen Schachten und Stollen, und die engen über-
füllten Wohnungen bei den umwohnenden Bauern, welche
keineswegs dafür eingerichtet waren, einigen hundert oder
tausend fremden Arbeitern Quattier zu geben, mögen
das ihrige dazu beigetragen haben, dann vielleicht auch
der Schnaps, von welchem die englischen Arbeiter, deren
der Tunnelunternehmer Brassey eine Anzahl mit sich brachte,
erstaunliche Massen vertilgen sollen, in welchem löblichen
Thun sie, wie Fama erzählt, von ihren schöneren Hälften
getreulich unterstützt werden. — Etwas später als in Basel
brach die Cholera in Zürich aus, wo etwa zweihundert
Erkrankungen und hundert und einige Todesfälle constatirt
wurden. Noch milder trat die Epidemie in Genf und im
südlichsten Theil des Kantons Tessin auf und sporadisch,
in einzelnen Fällen, sonst noch in einigen andern Kantonen.

[Ende Spaltensatz]

( Schluß folgt. )





Goethe und Jung-Stilling.
( Schluß. )
[Beginn Spaltensatz]

Die Straßburger Gesellschaft war unterdessen wie-
der um eine Person vermehrt worden. Lenz, der be-
kannte Dichter, gährend, brausend, extravagant, wie er
damals war, hatte sich eingefunden. Goethe und Lenz,
Lerse und Stilling machten jezt im Straßburger Kreise
einen kleinen, eng geschlossenen Cirkel aus. Jeder freute
sich am andern, jedem Einzelnen ward es erst bei den an-
dern wohl. Stillings tiefe Religiosität war weit davon
entfernt, in eine abstruse, alles andere verdammende Fröm-
melei auszuarten. Sie hinderte ihn keineswegs, auch solche
Männer zu lieben, die freier dachten als er; nur durften
sie keine Spötter seyn. Am wenigsten war dieß der Fall
bei Goethe, in dem schon damals der göttliche Strahl des
Genius immer heller zu leuchten begann. Goethe, der
Dichter der Natur und der Wahrheit, ragt unter seiner
antichristlichen Mit = und Nachwelt schon dadurch vortheil-
haft hervor, daß er freier, edler und toleranter gesinnt,
weder einer einzelnen politischen Partei, noch einer einzelnen
der christlichen Confessionen ausschließlich angehörend, in
jeder ihr Gutes erkannte, vor jeder tüchtigen Jndividuali-
tät, die das Christenthum lebendig in sich aufnahm, Ehr-
furcht hegte, und das Kernhafte im religiösen Leben an-
derer mit dem intuitiven Blicke des ächten Dichters
würdigte, der die Spreu von dem Waizen wohl zu son-
[Spaltenumbruch] dern wußte. Die Milde und Humanität, mit der sein
edler Geist in früheren wie in späteren Jahren über christ-
liche und theologische Fragen urtheilte, erfreut und erquickt
den Unbefangenen noch immer und könnte manchem ortho-
doxen Eiferer zum Muster dienen.

Endlich sollte sich auch dieser Kreis von edlen Herzen
und hellen Köpfen lösen. Während Stilling seine medi-
cinischen Studien mit Eifer fortsezte, disputirte Goethe im
folgenden Jahr öffentlich und reiste in die Vaterstadt.
Mit welchen Schmerzen er sich von Straßburg, den lieben
Freunden, dem schönen Elsaß und dem lieblichen Sesenheim
trennte, ist uns allen aus seinem Leben hinlänglich be-
kannt. Er und Stilling schlossen einen engen Freund-
schaftsbund, und daß dieser sich in Rath und That be-
währte, wird die Folge lehren.

Jm folgenden Winter las Stilling mit Erlaubniß des
Professors Spielmann selbst ein Collegium über die Chemie,
präparirte auf der Anatomie vollends durch, was ihm noch
fehlte, repetirte noch das Eine und Andere, schrieb seine
medicinische Dissertation, die er seinem gnädigsten Landes-
herrn, dem Kurfürsten von der Pfalz, dedicirte, ließ sich
examiniren und rüstete sich zur Abreise. Als nun endlich
von seinem Schwiegervater das erwartete Geld ankam,
[Ende Spaltensatz]

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[141/0021] 141 Bewohner angesteckter und ungesunder Häuser in öffentlichen Anstalten unterbrachten, die Wohnungen desinficirten und reinigten, den Bedürftigen kräftige gesunde Nahrung ver- schafften u. s. w. Für die Trefflichkeit der öffentlichen Anstalten spricht schon die Thatsache, daß das Verhältniß der Genesungen zu den Erkrankungen im Choleraspital, wo die Armen behandelt wurden, ein günstigeres war, als in den Privathäusern, wo der Bemittelte, der von der Krankheit befallen wurde, sich pflegen ließ. — Die Seuche blieb aber nicht im Weichbild Basels, sondern breitete sich auch in der Landschaft aus, wo hauptsäch- lich die Eisenbahnarbeiter am nördlichen Fuße des Jura, die Minirer, welche den achttausend Fuß langen Tunnel unter dem Hauenstein graben, heimgesucht wurden. Obst, neuer Wein unreife Kartoffeln, die dumpfe unreine Luft in den tiefen Schachten und Stollen, und die engen über- füllten Wohnungen bei den umwohnenden Bauern, welche keineswegs dafür eingerichtet waren, einigen hundert oder tausend fremden Arbeitern Quattier zu geben, mögen das ihrige dazu beigetragen haben, dann vielleicht auch der Schnaps, von welchem die englischen Arbeiter, deren der Tunnelunternehmer Brassey eine Anzahl mit sich brachte, erstaunliche Massen vertilgen sollen, in welchem löblichen Thun sie, wie Fama erzählt, von ihren schöneren Hälften getreulich unterstützt werden. — Etwas später als in Basel brach die Cholera in Zürich aus, wo etwa zweihundert Erkrankungen und hundert und einige Todesfälle constatirt wurden. Noch milder trat die Epidemie in Genf und im südlichsten Theil des Kantons Tessin auf und sporadisch, in einzelnen Fällen, sonst noch in einigen andern Kantonen. ( Schluß folgt. ) Goethe und Jung-Stilling. ( Schluß. ) Die Straßburger Gesellschaft war unterdessen wie- der um eine Person vermehrt worden. Lenz, der be- kannte Dichter, gährend, brausend, extravagant, wie er damals war, hatte sich eingefunden. Goethe und Lenz, Lerse und Stilling machten jezt im Straßburger Kreise einen kleinen, eng geschlossenen Cirkel aus. Jeder freute sich am andern, jedem Einzelnen ward es erst bei den an- dern wohl. Stillings tiefe Religiosität war weit davon entfernt, in eine abstruse, alles andere verdammende Fröm- melei auszuarten. Sie hinderte ihn keineswegs, auch solche Männer zu lieben, die freier dachten als er; nur durften sie keine Spötter seyn. Am wenigsten war dieß der Fall bei Goethe, in dem schon damals der göttliche Strahl des Genius immer heller zu leuchten begann. Goethe, der Dichter der Natur und der Wahrheit, ragt unter seiner antichristlichen Mit = und Nachwelt schon dadurch vortheil- haft hervor, daß er freier, edler und toleranter gesinnt, weder einer einzelnen politischen Partei, noch einer einzelnen der christlichen Confessionen ausschließlich angehörend, in jeder ihr Gutes erkannte, vor jeder tüchtigen Jndividuali- tät, die das Christenthum lebendig in sich aufnahm, Ehr- furcht hegte, und das Kernhafte im religiösen Leben an- derer mit dem intuitiven Blicke des ächten Dichters würdigte, der die Spreu von dem Waizen wohl zu son- dern wußte. Die Milde und Humanität, mit der sein edler Geist in früheren wie in späteren Jahren über christ- liche und theologische Fragen urtheilte, erfreut und erquickt den Unbefangenen noch immer und könnte manchem ortho- doxen Eiferer zum Muster dienen. Endlich sollte sich auch dieser Kreis von edlen Herzen und hellen Köpfen lösen. Während Stilling seine medi- cinischen Studien mit Eifer fortsezte, disputirte Goethe im folgenden Jahr öffentlich und reiste in die Vaterstadt. Mit welchen Schmerzen er sich von Straßburg, den lieben Freunden, dem schönen Elsaß und dem lieblichen Sesenheim trennte, ist uns allen aus seinem Leben hinlänglich be- kannt. Er und Stilling schlossen einen engen Freund- schaftsbund, und daß dieser sich in Rath und That be- währte, wird die Folge lehren. Jm folgenden Winter las Stilling mit Erlaubniß des Professors Spielmann selbst ein Collegium über die Chemie, präparirte auf der Anatomie vollends durch, was ihm noch fehlte, repetirte noch das Eine und Andere, schrieb seine medicinische Dissertation, die er seinem gnädigsten Landes- herrn, dem Kurfürsten von der Pfalz, dedicirte, ließ sich examiniren und rüstete sich zur Abreise. Als nun endlich von seinem Schwiegervater das erwartete Geld ankam,

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 6. Stuttgart/Tübingen, 10. Februar 1856, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt06_1856/21>, abgerufen am 21.11.2024.