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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] erringen, oder den Heldentod zu sterben; aber die Ge-
schichte meldet nicht, daß sie eines von beiden gefunden.
Die dreifarbige Nationalfahne, die man Ferruccios Bild-
säule unter dem Palast degli Uffizj in Florenz in die
Hand gesteckt, ist ihm entfallen und das Marmorantlitz
des Helden scheint wie mit stummer Verachtung auf
die entartete Generation zu blicken, die ihr Wesen zu
seinen Füßen treibt.

Das Corno alle Scale.

Der folgende Tag war zu einem Ausflug in's
Hochgebirg bestimmt. Nach der Empfehlung Herrn Cinis
hatten wir statt des Libro aperto, dem wir einen Be-
such zugedacht, das höhere und leichter zu ersteigende
Corno alle Scale gewählt. Aber als wir in der Mor-
genfrühe unser Gasthaus verließen, um nach der Sitte
des Südens im Kaffeehaus unser Frühstück einzunehmen,
war die Luft schwer und trübe und dichte Nebelwolken
hingen drohend um die Gipfel der nahen Berge. Einige
Cittadini von San Marcello, mit denen wir inzwischen
Bekanntschaft gemacht hatten und die wir als Ortskun-
dige um Rath fragten, riethen uns auf's dringendste
von unserem Vorhaben ab. Wir würden nicht nur nichts
sehen, sondern uns auch der größten Gefahr aussetzen,
in unergründliche Abgründe zu stürzen, an den steilen
Hängen auszugleiten Zwar war nur Einer von
ihnen je dort oben gewesen; dieser machte aber eine
Beschreibung von den Mühseligkeiten und Gefahren der
Besteigung, daß man an die Jungfrau oder den Mont-
blanc hätte denken mögen. Wir ließen uns jedoch in
unserem Entschluß nicht wankend machen, da wir die
Ueberschätzung derartiger Beschwerden seitens der Lan-
desbewohner bereits genugsam kannten. Nirgends tritt die
Verweichlichung dieses Volks so stark hervor, als in ihrer
Abneigung gegen Fuß=, zumal Gebirgswanderungen. Es
ist eine Seltenheit, daß einer von ihnen -- es sey denn
ein Jünger der Wissenschaft -- auch nur die nächsten
Berge um seine Heimath bestiegen hat, sey der Blick
von dort oben noch so herrlich, die Gegend noch so
reich an den mannigfaltigsten Naturschönheiten. Keiner
meiner Florentiner Bekannten war je auf dem drei Stun-
den von der Hauptstadt entfernten Gipfel des Monte
Morello gewesen, der die Apenninenkette, das tosca-
nische Hügelland und das Arnothal weithin beherrscht,
und selbst die Segel auf dem fernen Mittelmeer erken-
nen läßt. Die, welche ich einst, nicht ohne Mühe, be-
redet, einen Ausflug mit mir dahin zu unternehmen,
erzählten später davon wie von einem ewig denkwürdigen
Wagniß.

Ein Führer, des Weges genau kundig, war bald
[Spaltenumbruch] um billigen Preis geworben. Er war der Begleiter des
Professors Savi von Pisa, eines der gelehrten Welt
rühmlich bekannten Naturforschers gewesen, der zu bo-
tanischen und mineralogischen Zwecken das Corno mehr-
mals bestiegen hatte, und war nicht wenig stolz auf
seine dabei erworbenen topographischen und naturwissen-
schaftlichen Kenntnisse. Zwar verstümmelte und ver-
wechselte er Stein = und Pflanzennamen auf die drolligste
Weise, war aber im übrigen ein Mann von gesundem
Mutterwitz, und trotz seiner grauen Haare und seiner
gebückten Haltung ein tüchtiger und unermüdlicher
Bergsteiger.

Unser Weg führte anfangs durch lichten Kasta-
nienwald auf steinigem Wege steil aufwärts. Eine hei-
mische Vegetation bedeckte den Waldboden und die Ab-
hänge der von zahlreichen Wildbächen tief gerissenen
Schluchten. Zwischen dem Wollkraut ( Verbascum thapsus
und nigrum ) , der Dürrwurz ( Conyza squarrosa ) , dem
Fingerhut ( Digitalis grandiflora ) und den Nelken ( Dian-
thus Carthusianorum
) zeigten sich bald, anfangs noch
kümmerlich, ohne Früchte, einzelne Heidelbeersträucher,
von meinem Begleiter, einem Provencalen, der nie
dergleichen gesehen, mit Freude begrüßt. An den schat-
tigen Lehnen wuchs das Alpenvergißmeinnicht in üppiger
Fülle. Nach dreiviertelstündigem Steigen erreichten wir
in etwa 3500 Fuß Höhe den Rücken des Bergzugs.
Hier öffnete sich ein weiter und überraschender Blick.
Unter uns senkten sich die Berge steil in ein tiefes,
muldenförmiges Thal, das von einem von dem uns
gerade gegenüberliegenden Corno herkommenden Bache
durchströmt wurde. Rechts zog sich der Kamm, auf
dem wir standen, weiter, stets an Höhe zunehmend,
schwang sich dann fast halbkreisförmig wieder nach links
und erreichte uns gerade gegenüber seine größte Höhe.
Hier überlagern ihn die Massen des Corno selbst, das
gewaltig und majestätisch, den Gipfel von düstern Wol-
ken umhangen, auf uns herabschaute. Eine zweite Kette
zieht von ihm zu unserer Linken herab, mit der ersteren
ein riesiges Hufeisen bildend, das sich an seinem unteren
Ende, wo wir stehen, fast beckenförmig wieder schließt
und kaum dem Bache Platz läßt, in enger Thalschlucht
sich seinen Weg nach der Lima zu bahnen, eine Bil-
dung, die im nördlichen Apennin öfters stattfindet, und
besonders dazu beiträgt, den Uebergang über das Ge-
birge mühsam und zeitraubend zu machen.

Während uns bis hieher der Kastanienwald be-
gleitet hatte, tritt auf der Kammhöhe plötzlich die Buche
wieder auf, die von hier bis zur Baumgrenze die un-
beschränkte Alleinherrschaft ausübt. Aber auf der schrof-
fen, nur mit einer dünnen Humusschicht bedeckten
Höhe, den eisigen Luftströmen ausgesetzt, die von dem
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] erringen, oder den Heldentod zu sterben; aber die Ge-
schichte meldet nicht, daß sie eines von beiden gefunden.
Die dreifarbige Nationalfahne, die man Ferruccios Bild-
säule unter dem Palast degli Uffizj in Florenz in die
Hand gesteckt, ist ihm entfallen und das Marmorantlitz
des Helden scheint wie mit stummer Verachtung auf
die entartete Generation zu blicken, die ihr Wesen zu
seinen Füßen treibt.

Das Corno alle Scale.

Der folgende Tag war zu einem Ausflug in's
Hochgebirg bestimmt. Nach der Empfehlung Herrn Cinis
hatten wir statt des Libro aperto, dem wir einen Be-
such zugedacht, das höhere und leichter zu ersteigende
Corno alle Scale gewählt. Aber als wir in der Mor-
genfrühe unser Gasthaus verließen, um nach der Sitte
des Südens im Kaffeehaus unser Frühstück einzunehmen,
war die Luft schwer und trübe und dichte Nebelwolken
hingen drohend um die Gipfel der nahen Berge. Einige
Cittadini von San Marcello, mit denen wir inzwischen
Bekanntschaft gemacht hatten und die wir als Ortskun-
dige um Rath fragten, riethen uns auf's dringendste
von unserem Vorhaben ab. Wir würden nicht nur nichts
sehen, sondern uns auch der größten Gefahr aussetzen,
in unergründliche Abgründe zu stürzen, an den steilen
Hängen auszugleiten Zwar war nur Einer von
ihnen je dort oben gewesen; dieser machte aber eine
Beschreibung von den Mühseligkeiten und Gefahren der
Besteigung, daß man an die Jungfrau oder den Mont-
blanc hätte denken mögen. Wir ließen uns jedoch in
unserem Entschluß nicht wankend machen, da wir die
Ueberschätzung derartiger Beschwerden seitens der Lan-
desbewohner bereits genugsam kannten. Nirgends tritt die
Verweichlichung dieses Volks so stark hervor, als in ihrer
Abneigung gegen Fuß=, zumal Gebirgswanderungen. Es
ist eine Seltenheit, daß einer von ihnen — es sey denn
ein Jünger der Wissenschaft — auch nur die nächsten
Berge um seine Heimath bestiegen hat, sey der Blick
von dort oben noch so herrlich, die Gegend noch so
reich an den mannigfaltigsten Naturschönheiten. Keiner
meiner Florentiner Bekannten war je auf dem drei Stun-
den von der Hauptstadt entfernten Gipfel des Monte
Morello gewesen, der die Apenninenkette, das tosca-
nische Hügelland und das Arnothal weithin beherrscht,
und selbst die Segel auf dem fernen Mittelmeer erken-
nen läßt. Die, welche ich einst, nicht ohne Mühe, be-
redet, einen Ausflug mit mir dahin zu unternehmen,
erzählten später davon wie von einem ewig denkwürdigen
Wagniß.

Ein Führer, des Weges genau kundig, war bald
[Spaltenumbruch] um billigen Preis geworben. Er war der Begleiter des
Professors Savi von Pisa, eines der gelehrten Welt
rühmlich bekannten Naturforschers gewesen, der zu bo-
tanischen und mineralogischen Zwecken das Corno mehr-
mals bestiegen hatte, und war nicht wenig stolz auf
seine dabei erworbenen topographischen und naturwissen-
schaftlichen Kenntnisse. Zwar verstümmelte und ver-
wechselte er Stein = und Pflanzennamen auf die drolligste
Weise, war aber im übrigen ein Mann von gesundem
Mutterwitz, und trotz seiner grauen Haare und seiner
gebückten Haltung ein tüchtiger und unermüdlicher
Bergsteiger.

Unser Weg führte anfangs durch lichten Kasta-
nienwald auf steinigem Wege steil aufwärts. Eine hei-
mische Vegetation bedeckte den Waldboden und die Ab-
hänge der von zahlreichen Wildbächen tief gerissenen
Schluchten. Zwischen dem Wollkraut ( Verbascum thapsus
und nigrum ) , der Dürrwurz ( Conyza squarrosa ) , dem
Fingerhut ( Digitalis grandiflora ) und den Nelken ( Dian-
thus Carthusianorum
) zeigten sich bald, anfangs noch
kümmerlich, ohne Früchte, einzelne Heidelbeersträucher,
von meinem Begleiter, einem Provençalen, der nie
dergleichen gesehen, mit Freude begrüßt. An den schat-
tigen Lehnen wuchs das Alpenvergißmeinnicht in üppiger
Fülle. Nach dreiviertelstündigem Steigen erreichten wir
in etwa 3500 Fuß Höhe den Rücken des Bergzugs.
Hier öffnete sich ein weiter und überraschender Blick.
Unter uns senkten sich die Berge steil in ein tiefes,
muldenförmiges Thal, das von einem von dem uns
gerade gegenüberliegenden Corno herkommenden Bache
durchströmt wurde. Rechts zog sich der Kamm, auf
dem wir standen, weiter, stets an Höhe zunehmend,
schwang sich dann fast halbkreisförmig wieder nach links
und erreichte uns gerade gegenüber seine größte Höhe.
Hier überlagern ihn die Massen des Corno selbst, das
gewaltig und majestätisch, den Gipfel von düstern Wol-
ken umhangen, auf uns herabschaute. Eine zweite Kette
zieht von ihm zu unserer Linken herab, mit der ersteren
ein riesiges Hufeisen bildend, das sich an seinem unteren
Ende, wo wir stehen, fast beckenförmig wieder schließt
und kaum dem Bache Platz läßt, in enger Thalschlucht
sich seinen Weg nach der Lima zu bahnen, eine Bil-
dung, die im nördlichen Apennin öfters stattfindet, und
besonders dazu beiträgt, den Uebergang über das Ge-
birge mühsam und zeitraubend zu machen.

Während uns bis hieher der Kastanienwald be-
gleitet hatte, tritt auf der Kammhöhe plötzlich die Buche
wieder auf, die von hier bis zur Baumgrenze die un-
beschränkte Alleinherrschaft ausübt. Aber auf der schrof-
fen, nur mit einer dünnen Humusschicht bedeckten
Höhe, den eisigen Luftströmen ausgesetzt, die von dem
[Ende Spaltensatz]

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Es ist eine Seltenheit, daß einer von ihnen — es sey denn ein Jünger der Wissenschaft — auch nur die nächsten Berge um seine Heimath bestiegen hat, sey der Blick von dort oben noch so herrlich, die Gegend noch so reich an den mannigfaltigsten Naturschönheiten. Keiner meiner Florentiner Bekannten war je auf dem drei Stun- den von der Hauptstadt entfernten Gipfel des Monte Morello gewesen, der die Apenninenkette, das tosca- nische Hügelland und das Arnothal weithin beherrscht, und selbst die Segel auf dem fernen Mittelmeer erken- nen läßt. Die, welche ich einst, nicht ohne Mühe, be- redet, einen Ausflug mit mir dahin zu unternehmen, erzählten später davon wie von einem ewig denkwürdigen Wagniß. Ein Führer, des Weges genau kundig, war bald um billigen Preis geworben. Er war der Begleiter des Professors Savi von Pisa, eines der gelehrten Welt rühmlich bekannten Naturforschers gewesen, der zu bo- tanischen und mineralogischen Zwecken das Corno mehr- mals bestiegen hatte, und war nicht wenig stolz auf seine dabei erworbenen topographischen und naturwissen- schaftlichen Kenntnisse. Zwar verstümmelte und ver- wechselte er Stein = und Pflanzennamen auf die drolligste Weise, war aber im übrigen ein Mann von gesundem Mutterwitz, und trotz seiner grauen Haare und seiner gebückten Haltung ein tüchtiger und unermüdlicher Bergsteiger. Unser Weg führte anfangs durch lichten Kasta- nienwald auf steinigem Wege steil aufwärts. Eine hei- mische Vegetation bedeckte den Waldboden und die Ab- hänge der von zahlreichen Wildbächen tief gerissenen Schluchten. 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Hier überlagern ihn die Massen des Corno selbst, das gewaltig und majestätisch, den Gipfel von düstern Wol- ken umhangen, auf uns herabschaute. Eine zweite Kette zieht von ihm zu unserer Linken herab, mit der ersteren ein riesiges Hufeisen bildend, das sich an seinem unteren Ende, wo wir stehen, fast beckenförmig wieder schließt und kaum dem Bache Platz läßt, in enger Thalschlucht sich seinen Weg nach der Lima zu bahnen, eine Bil- dung, die im nördlichen Apennin öfters stattfindet, und besonders dazu beiträgt, den Uebergang über das Ge- birge mühsam und zeitraubend zu machen. Während uns bis hieher der Kastanienwald be- gleitet hatte, tritt auf der Kammhöhe plötzlich die Buche wieder auf, die von hier bis zur Baumgrenze die un- beschränkte Alleinherrschaft ausübt. Aber auf der schrof- fen, nur mit einer dünnen Humusschicht bedeckten Höhe, den eisigen Luftströmen ausgesetzt, die von dem

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/13>, abgerufen am 21.11.2024.