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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856.

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[Beginn Spaltensatz] merklich unebenen Straßen zu durchwandern, und selbst
die Burg Windeck auf ihrem mäßigen Kegel zu ersteigen.
Von ihren Ruinen blickten wir nicht nur in das herrliche
Rheinland hinaus, sondern auch in zwei Thäler, nämlich
in das eben durchwanderte von Birkenau und in das von
Gorxheim, das so reich an idyllischen Reizen ist, wie jenes
an romantischen. Ueberhaupt ist dieses Weinheim ein
prächtiger Aufenthalt, einer von denen, wo Weinstock und
Kastanie neben einander stehen, wo Berge und Hügel,
Thäler und Ebene sich vereinen, um dem Auge die lieb-
lichste Abwechslung zu bieten. Man begreift leicht, wie
Kaiser Joseph einst hier sagen konnte: "Was braucht dieser
Kurfürst von der Pfalz Gärten anzulegen? Hat er doch
hier an seinem Lande den schönsten Lustgarten, den er nur
wünschen mag." Man begreift, daß Weinheim von sol-
chen, die Erholung suchen, gern zum Sommeraufenthalt
gewählt werden würde, auch wenn keine Kaltwasserheil-
anstalt sich daselbst befände, auch wenn die Stahlquelle
am Virnheimer Wege gar nicht existirte. Man kann sich
hier so ganz ländlich einrichten, und lebt doch nicht so ein-
sam, wie an manchem entlegenen Kurorte, an dem einige
Regentage schon hinreichen, die tödtlichste Langeweile zur
Beherrscherin der Saison zu machen. Man hat ja doch
eine Stadt, wenn auch nur eine kleine, und größere
Städte, wie Heidelberg und Mannheim, sind durch den
Schienenweg in unmittelbare Nähe gerückt. Auch hat
diese kleine Stadt selbst ihr Jnteressantes. Hier ist ein
geräumiger Marktplatz mit einem alten Rathhause, am
höchsten Punkte dieses Platzes Kirche, Kloster und Schloß,
nicht fern davon ein schöner alter Thurm mit durchbro-
chenem gothischem Kranzgesimse, und außer diesem stehen
noch einige alte Mauerthürme als Zeugen früherer Befe-
stigung umher. Weinheim war kurpfälzisch und theilte
mit den andern Städten der Pfalz manch herbes Mißge-
schick, so im dreißigjährigen Kriege, wie später in den
Drangsalszeiten, welche Ludwig XIV. von Frankreich über
das Land am Rhein gebracht. Vor allen dürfte sich Wein-
heim der Zeit erinnern, in welcher es mit seiner ganzen
Umgebung weithin vom Marschall Türenne heimgesucht
[Spaltenumbruch] ward ( 1674 ) . Damals war der wackere, aber machtlose
Kurfürst Karl Ludwig, der von Mannheim aus zusehen
mußte, wie man sein schönes Land verheerte, so tief ent-
rüstet, daß er dem Marschall eine Herausforderung zum
Zweikampf sandte, den dieser freilich glatt und höflich
ablehnte. -- Jm Jahr 1698, nach der Zerstörung des
Heidelberger Schlosses, hatte sogar Kurfürst Johann
Wilhelm seine Residenz nach Weinheim verlegt. Noch
steht das kurfürstliche Schloß, ihm gegenüber das der
Gräfin Waldner = Freundstein, zwischen beiden ein Thor
mit schönem Pavillon und vor diesem ein schöner, wohl
gepflegter Garten mit prächtiger Fernsicht.

Das alles sahen wir freilich nur im Fluge. Der
Mittag rief uns in den comfortablen Pfälzer Hof, ganz
nahe an der Eisenbahn. Dort blätterte ich einen Augen-
blick im Fremdenbuche und traf unter manchen interessan-
ten Namen auch den des berühmten Cobden, der am
24. August vorigen Jahres im Gasthofe übernachtet hatte.
Es war damals, als er seinen Sohn nach Weinheim in
das Bender'sche Jnstitut brachte, dem solches Vertrauen
von Seite dieses Englishman zu nicht geringer Empfeh-
lung gereicht. Er hat ihn leider nicht wieder nach Albion
hinüber holen können, denn der junge Mensch ist zu An-
fang des verflossenen April gestorben.

Nach Tisch flogen wir auf der Eisenbahn nach Mann-
heim, um von dort über Ludwigshafen und Frankenthal
nach Worms zurückzukehren; scheinbar ein weiter Umweg,
und doch für uns der nächste. -- So endeten unsere Ni-
belungenfahrten recht angenehm, so hatte ich meine we-
nigen Ausflugtage in recht interessanter und genußreicher
Weise benützt. Jndem ich nun im Begriff bin, die Fe-
der niederzulegen, kommt mir eine Todesnachricht zu Ge-
sicht. Friedrich Heinrich von der Hagen ist heimgegan-
gen in hohem Greisenalter. Der Mann hat Nibelun-
genfahrten gemacht! Er ist es, welcher auch mich, wie
so viel hundert andere, durch seine Schriften zuerst in
den Kreis jenes großen und so manches andern deutschen
Liedes eingeführt hat. Jch dank' es ihm von Herzen --
sey ihm die Erde leicht!

[Ende Spaltensatz]



Newyork, Juli.

Erfrorene Laubhölzer. -- Blackwells = Jsland. -- Die Deutschen. -- Die Geistlichen. -- Kirchenprofanation. -- Yankee = Justiz. -- Das
schwarze Buch und die politischen Flüchtlinge.

[Beginn Spaltensatz]

Bliebe nicht die immer gütige, immer schöne Natur,
das Leben in diesem Lande könnte zur Unerträglichkeit
werden, und sogar die Natur gibt Veranlassung zur Trauer.
So hat der vergangene harte Winter ein paar der schön-
[Spaltenumbruch] sten Laubbaumarten hiesiger Gegend fast gänzlich vernichtet.
Es wird behauptet, daß neunzehn Zwanzigtheile der Pa-
piermaulbeerbäume ( Broussonetia papyrisera ) und drei
Viertheile des Alianthus zu Grunde gerichtet seyen,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] merklich unebenen Straßen zu durchwandern, und selbst
die Burg Windeck auf ihrem mäßigen Kegel zu ersteigen.
Von ihren Ruinen blickten wir nicht nur in das herrliche
Rheinland hinaus, sondern auch in zwei Thäler, nämlich
in das eben durchwanderte von Birkenau und in das von
Gorxheim, das so reich an idyllischen Reizen ist, wie jenes
an romantischen. Ueberhaupt ist dieses Weinheim ein
prächtiger Aufenthalt, einer von denen, wo Weinstock und
Kastanie neben einander stehen, wo Berge und Hügel,
Thäler und Ebene sich vereinen, um dem Auge die lieb-
lichste Abwechslung zu bieten. Man begreift leicht, wie
Kaiser Joseph einst hier sagen konnte: „Was braucht dieser
Kurfürst von der Pfalz Gärten anzulegen? Hat er doch
hier an seinem Lande den schönsten Lustgarten, den er nur
wünschen mag.“ Man begreift, daß Weinheim von sol-
chen, die Erholung suchen, gern zum Sommeraufenthalt
gewählt werden würde, auch wenn keine Kaltwasserheil-
anstalt sich daselbst befände, auch wenn die Stahlquelle
am Virnheimer Wege gar nicht existirte. Man kann sich
hier so ganz ländlich einrichten, und lebt doch nicht so ein-
sam, wie an manchem entlegenen Kurorte, an dem einige
Regentage schon hinreichen, die tödtlichste Langeweile zur
Beherrscherin der Saison zu machen. Man hat ja doch
eine Stadt, wenn auch nur eine kleine, und größere
Städte, wie Heidelberg und Mannheim, sind durch den
Schienenweg in unmittelbare Nähe gerückt. Auch hat
diese kleine Stadt selbst ihr Jnteressantes. Hier ist ein
geräumiger Marktplatz mit einem alten Rathhause, am
höchsten Punkte dieses Platzes Kirche, Kloster und Schloß,
nicht fern davon ein schöner alter Thurm mit durchbro-
chenem gothischem Kranzgesimse, und außer diesem stehen
noch einige alte Mauerthürme als Zeugen früherer Befe-
stigung umher. Weinheim war kurpfälzisch und theilte
mit den andern Städten der Pfalz manch herbes Mißge-
schick, so im dreißigjährigen Kriege, wie später in den
Drangsalszeiten, welche Ludwig XIV. von Frankreich über
das Land am Rhein gebracht. Vor allen dürfte sich Wein-
heim der Zeit erinnern, in welcher es mit seiner ganzen
Umgebung weithin vom Marschall Türenne heimgesucht
[Spaltenumbruch] ward ( 1674 ) . Damals war der wackere, aber machtlose
Kurfürst Karl Ludwig, der von Mannheim aus zusehen
mußte, wie man sein schönes Land verheerte, so tief ent-
rüstet, daß er dem Marschall eine Herausforderung zum
Zweikampf sandte, den dieser freilich glatt und höflich
ablehnte. — Jm Jahr 1698, nach der Zerstörung des
Heidelberger Schlosses, hatte sogar Kurfürst Johann
Wilhelm seine Residenz nach Weinheim verlegt. Noch
steht das kurfürstliche Schloß, ihm gegenüber das der
Gräfin Waldner = Freundstein, zwischen beiden ein Thor
mit schönem Pavillon und vor diesem ein schöner, wohl
gepflegter Garten mit prächtiger Fernsicht.

Das alles sahen wir freilich nur im Fluge. Der
Mittag rief uns in den comfortablen Pfälzer Hof, ganz
nahe an der Eisenbahn. Dort blätterte ich einen Augen-
blick im Fremdenbuche und traf unter manchen interessan-
ten Namen auch den des berühmten Cobden, der am
24. August vorigen Jahres im Gasthofe übernachtet hatte.
Es war damals, als er seinen Sohn nach Weinheim in
das Bender'sche Jnstitut brachte, dem solches Vertrauen
von Seite dieses Englishman zu nicht geringer Empfeh-
lung gereicht. Er hat ihn leider nicht wieder nach Albion
hinüber holen können, denn der junge Mensch ist zu An-
fang des verflossenen April gestorben.

Nach Tisch flogen wir auf der Eisenbahn nach Mann-
heim, um von dort über Ludwigshafen und Frankenthal
nach Worms zurückzukehren; scheinbar ein weiter Umweg,
und doch für uns der nächste. — So endeten unsere Ni-
belungenfahrten recht angenehm, so hatte ich meine we-
nigen Ausflugtage in recht interessanter und genußreicher
Weise benützt. Jndem ich nun im Begriff bin, die Fe-
der niederzulegen, kommt mir eine Todesnachricht zu Ge-
sicht. Friedrich Heinrich von der Hagen ist heimgegan-
gen in hohem Greisenalter. Der Mann hat Nibelun-
genfahrten gemacht! Er ist es, welcher auch mich, wie
so viel hundert andere, durch seine Schriften zuerst in
den Kreis jenes großen und so manches andern deutschen
Liedes eingeführt hat. Jch dank' es ihm von Herzen —
sey ihm die Erde leicht!

[Ende Spaltensatz]



Newyork, Juli.

Erfrorene Laubhölzer. — Blackwells = Jsland. — Die Deutschen. — Die Geistlichen. — Kirchenprofanation. — Yankee = Justiz. — Das
schwarze Buch und die politischen Flüchtlinge.

[Beginn Spaltensatz]

Bliebe nicht die immer gütige, immer schöne Natur,
das Leben in diesem Lande könnte zur Unerträglichkeit
werden, und sogar die Natur gibt Veranlassung zur Trauer.
So hat der vergangene harte Winter ein paar der schön-
[Spaltenumbruch] sten Laubbaumarten hiesiger Gegend fast gänzlich vernichtet.
Es wird behauptet, daß neunzehn Zwanzigtheile der Pa-
piermaulbeerbäume ( Broussonetia papyrisera ) und drei
Viertheile des Alianthus zu Grunde gerichtet seyen,
[Ende Spaltensatz]

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[748/0022] 748 merklich unebenen Straßen zu durchwandern, und selbst die Burg Windeck auf ihrem mäßigen Kegel zu ersteigen. Von ihren Ruinen blickten wir nicht nur in das herrliche Rheinland hinaus, sondern auch in zwei Thäler, nämlich in das eben durchwanderte von Birkenau und in das von Gorxheim, das so reich an idyllischen Reizen ist, wie jenes an romantischen. Ueberhaupt ist dieses Weinheim ein prächtiger Aufenthalt, einer von denen, wo Weinstock und Kastanie neben einander stehen, wo Berge und Hügel, Thäler und Ebene sich vereinen, um dem Auge die lieb- lichste Abwechslung zu bieten. Man begreift leicht, wie Kaiser Joseph einst hier sagen konnte: „Was braucht dieser Kurfürst von der Pfalz Gärten anzulegen? Hat er doch hier an seinem Lande den schönsten Lustgarten, den er nur wünschen mag.“ Man begreift, daß Weinheim von sol- chen, die Erholung suchen, gern zum Sommeraufenthalt gewählt werden würde, auch wenn keine Kaltwasserheil- anstalt sich daselbst befände, auch wenn die Stahlquelle am Virnheimer Wege gar nicht existirte. Man kann sich hier so ganz ländlich einrichten, und lebt doch nicht so ein- sam, wie an manchem entlegenen Kurorte, an dem einige Regentage schon hinreichen, die tödtlichste Langeweile zur Beherrscherin der Saison zu machen. Man hat ja doch eine Stadt, wenn auch nur eine kleine, und größere Städte, wie Heidelberg und Mannheim, sind durch den Schienenweg in unmittelbare Nähe gerückt. Auch hat diese kleine Stadt selbst ihr Jnteressantes. Hier ist ein geräumiger Marktplatz mit einem alten Rathhause, am höchsten Punkte dieses Platzes Kirche, Kloster und Schloß, nicht fern davon ein schöner alter Thurm mit durchbro- chenem gothischem Kranzgesimse, und außer diesem stehen noch einige alte Mauerthürme als Zeugen früherer Befe- stigung umher. Weinheim war kurpfälzisch und theilte mit den andern Städten der Pfalz manch herbes Mißge- schick, so im dreißigjährigen Kriege, wie später in den Drangsalszeiten, welche Ludwig XIV. von Frankreich über das Land am Rhein gebracht. Vor allen dürfte sich Wein- heim der Zeit erinnern, in welcher es mit seiner ganzen Umgebung weithin vom Marschall Türenne heimgesucht ward ( 1674 ) . Damals war der wackere, aber machtlose Kurfürst Karl Ludwig, der von Mannheim aus zusehen mußte, wie man sein schönes Land verheerte, so tief ent- rüstet, daß er dem Marschall eine Herausforderung zum Zweikampf sandte, den dieser freilich glatt und höflich ablehnte. — Jm Jahr 1698, nach der Zerstörung des Heidelberger Schlosses, hatte sogar Kurfürst Johann Wilhelm seine Residenz nach Weinheim verlegt. Noch steht das kurfürstliche Schloß, ihm gegenüber das der Gräfin Waldner = Freundstein, zwischen beiden ein Thor mit schönem Pavillon und vor diesem ein schöner, wohl gepflegter Garten mit prächtiger Fernsicht. Das alles sahen wir freilich nur im Fluge. Der Mittag rief uns in den comfortablen Pfälzer Hof, ganz nahe an der Eisenbahn. Dort blätterte ich einen Augen- blick im Fremdenbuche und traf unter manchen interessan- ten Namen auch den des berühmten Cobden, der am 24. August vorigen Jahres im Gasthofe übernachtet hatte. Es war damals, als er seinen Sohn nach Weinheim in das Bender'sche Jnstitut brachte, dem solches Vertrauen von Seite dieses Englishman zu nicht geringer Empfeh- lung gereicht. Er hat ihn leider nicht wieder nach Albion hinüber holen können, denn der junge Mensch ist zu An- fang des verflossenen April gestorben. Nach Tisch flogen wir auf der Eisenbahn nach Mann- heim, um von dort über Ludwigshafen und Frankenthal nach Worms zurückzukehren; scheinbar ein weiter Umweg, und doch für uns der nächste. — So endeten unsere Ni- belungenfahrten recht angenehm, so hatte ich meine we- nigen Ausflugtage in recht interessanter und genußreicher Weise benützt. Jndem ich nun im Begriff bin, die Fe- der niederzulegen, kommt mir eine Todesnachricht zu Ge- sicht. Friedrich Heinrich von der Hagen ist heimgegan- gen in hohem Greisenalter. Der Mann hat Nibelun- genfahrten gemacht! Er ist es, welcher auch mich, wie so viel hundert andere, durch seine Schriften zuerst in den Kreis jenes großen und so manches andern deutschen Liedes eingeführt hat. Jch dank' es ihm von Herzen — sey ihm die Erde leicht! Newyork, Juli. Erfrorene Laubhölzer. — Blackwells = Jsland. — Die Deutschen. — Die Geistlichen. — Kirchenprofanation. — Yankee = Justiz. — Das schwarze Buch und die politischen Flüchtlinge. Bliebe nicht die immer gütige, immer schöne Natur, das Leben in diesem Lande könnte zur Unerträglichkeit werden, und sogar die Natur gibt Veranlassung zur Trauer. So hat der vergangene harte Winter ein paar der schön- sten Laubbaumarten hiesiger Gegend fast gänzlich vernichtet. Es wird behauptet, daß neunzehn Zwanzigtheile der Pa- piermaulbeerbäume ( Broussonetia papyrisera ) und drei Viertheile des Alianthus zu Grunde gerichtet seyen,

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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 30. Stuttgart/Tübingen, 27. Juli 1856, S. 748. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt30_1856/22>, abgerufen am 21.11.2024.