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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856.

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[Beginn Spaltensatz] sie von allen Seiten einschließt. Wir sehen die zier-
liche neue Kettenbrücke sich über den Fluß schwingen
und verfolgen ihn aufwärts, bis wo er die Städtchen
Berga, Castelnuovo u. a. wie Perlen an seinem glän-
zenden Silberbande aufreiht. Oestlich und nördlich
drängen sich die zahllosen Kuppen und Spitzen der die
Lima begleitenden Gebirge eine neben der andern hervor,
von einzelnen Gipfeln des Hochgebirgs überragt, um
deren ernste Häupter ein Kranz von parasitischen Wol-
ken schwebt. Nur der gewaltige Dom des Prato fiorito,
den steilen Felsabfall uns zugekehrt, zeichnet seine schöne
grüne Wölbung in scharfen Umrissen auf dem dunkel-
blauen Horizont. Wer von meinen Lesern je die Bä-
der von Lucca besuchen sollte, dem rathe ich, sie ja
nicht wieder zu verlassen, ehe er den Gipfel der " blü-
henden Wiese" bestiegen. Zwar ist der Weg weder
kurz noch ohne Beschwerde, häufig steil, doch nirgends
eigentlich gefährlich. Aber der prachtvolle Blick von dort
oben auf die gegenüber liegende Hauptkette der Apen-
ninen einerseits, auf Berg= und Hügelland, auf Ebene
und Meer andererseits wird ihn reichlich entschädigen,
selbst wenn er weder Botaniker noch Entomolog ist,
um in dieser Hinsicht die reichen Schätze des Berges
zu würdigen.

Ein alter Bauer hatte sich zu uns gesellt, wäh-
rend wir da oben lagerten, und mit der unbefangenen
Geschwätzigkeit seiner Landsleute alsbald eine Unter-
haltung mit uns eingefädelt. "Ja," erwiederte er auf
unsere dießfallsige Frage, "von dem Ertrage des klei-
nen Stückchen Feldes, das wir hier oben haben, könnten
wir freilich nicht leben. Etwas verdienen wir aller-
dings noch mit dem Verkauf von Kastanien, und zu-
mal von Erdbeeren und Schwämmen, die wir im Som-
mer und Herbst hinunter nach Lucca, ja, seit die Ei-
senbahn da ist, bis nach Pisa, Livorno und Florenz
bringen. Aber unser Hauptverdienst liegt draußen.
Jeden Herbst wandern alle jungen Leute des Dorfs, die
etwas auf sich halten, aus in die Fremde, die einen
in die Maremmen unten, die andern nach Corsika, auch
wohl nach Sardinien. Noch andere aber ziehen mit
einem Maestro fort in das ferne Ausland, um den
Fremden italienische Gypsfiguren zu verkaufen, und
schlagen sich jahrelang elend durch, um am Ende von
dem Meister ein kleines, vorher contraktlich festgestell-
tes Kapital zu erhalten, um das sie von den gewissen-
losen Herren auch noch oft genug geprellt werden, so
daß sie noch ärmer und abgerissener heimkommen, als
sie ausgezogen sind. Die aber hier in Jtalien bleiben,
kommen meist im Frühjahr mit vollen Taschen zurück,
liegen den ganzen Sommer auf der Bärenhaut, spie-
len, trinken und laufen den Mädchen nach, bis sie
[Spaltenumbruch] im Herbst wieder arm wie die Kirchenmäuse abziehen,
um von vorne anzufangen. Ja, liebe Herren, wir
könnten Alle reiche Leute seyn, so viel Geld wird ver-
dient, und doch sind wir nichts als arme Schlucker.
Und es ist wahrhaftig kein Spaß, dort unten in den
Sümpfen die schwere Arbeit zu thun und sich in der
giftigen Luft zehrende Fieber zu holen, oder gar den
wilden Corsen sein Leben anzuvertrauen. Das ist ein
schreckliches Volk!"

Dabei malte er uns ein schauerliches Bild des
Lebens auf Corsika und Sardinien, auf welcher letz-
teren Jnsel das Räuberhandwerk ganz öffentlich getrieben
werde und Mord und Todtschlag an der Tagesordnung
sey. Allerdings steht der gutmüthige, biegsame und
mehr oder weniger feige Charakter der Toscaner und
Lucchesen mit der wilden und rohen Natur jener Jn-
selbewohner im stärksten Contrast.

Glühend versank die Sonne hinter den hohen
Spitzen der apuanischen Alp. Auf dem brennenden
Hintergrunde schienen die gewaltigen dunkeln Kegel
flammensprühende Vulkane. Auf den östlichen Bergen
ruhte jener warme, orangefarbige Duft, der, allmählig
in eine sanftere Veilchenfarbe übergehend, den Haupt-
reiz italienischer Abendbeleuchtungen bildet. -- Nicht
ohne Gefährde klommen wir schon in tiefem Dunkel die
steilen Waldwege hinab. Jm Thale angelangt, weilten
wir noch lange am moosigen Fuße der alten hohlen
Kastanie, die über den im Mondschein glitzernden Wel-
len der Lima hing. Es war ein herrlicher Sommer-
abend, voll Duft und träumerischer Stille. Es war
als ob das Thal unten mit seinen vielen hie und da
aufblitzenden Lichtern den wolkenlosen Sternenhimmel
widerspiegle, zwischen beiden die hohen, waldigen Hänge,
wie eine gewaltige Scheidewand zwischen Himmel und
Erde.

Es ist wunderbar, welchen Zauber die stille, fried-
liche Majestät der nächtlichen Natur auf die Gemüther
ausübt. Menschen, die bei Tage jeder tieferen Em-
pfindung unzugänglich schienen, Witzbolde, Spötter und
kalte Verstandesmenschen werden ernst und feierlich be-
wegt, wenn der Schleier der Nacht herabsinkt und die
Stimmen des Lebens um sie her verstummen.

Lange saßen wir so, der Engländer, der Proven-
cale und ich, unter dem alten Kastanienbaum am Ufer,
ein jeder in seiner Muttersprache Gedanken und Em-
pfindungen Raum gebend, die er vielleicht zu profani-
ren gefürchtet hätte, hätte er sie beim hellen Schein
des Tageslichts ausgesprochen. Ein jeder erzählte von
den Schauplätzen seiner Kindheit und von den Schön-
heiten der heimathlichen Natur und von allem, was er
Theures daheim im Vaterlande gelassen; und waren
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[Beginn Spaltensatz] sie von allen Seiten einschließt. Wir sehen die zier-
liche neue Kettenbrücke sich über den Fluß schwingen
und verfolgen ihn aufwärts, bis wo er die Städtchen
Berga, Castelnuovo u. a. wie Perlen an seinem glän-
zenden Silberbande aufreiht. Oestlich und nördlich
drängen sich die zahllosen Kuppen und Spitzen der die
Lima begleitenden Gebirge eine neben der andern hervor,
von einzelnen Gipfeln des Hochgebirgs überragt, um
deren ernste Häupter ein Kranz von parasitischen Wol-
ken schwebt. Nur der gewaltige Dom des Prato fiorito,
den steilen Felsabfall uns zugekehrt, zeichnet seine schöne
grüne Wölbung in scharfen Umrissen auf dem dunkel-
blauen Horizont. Wer von meinen Lesern je die Bä-
der von Lucca besuchen sollte, dem rathe ich, sie ja
nicht wieder zu verlassen, ehe er den Gipfel der „ blü-
henden Wiese“ bestiegen. Zwar ist der Weg weder
kurz noch ohne Beschwerde, häufig steil, doch nirgends
eigentlich gefährlich. Aber der prachtvolle Blick von dort
oben auf die gegenüber liegende Hauptkette der Apen-
ninen einerseits, auf Berg= und Hügelland, auf Ebene
und Meer andererseits wird ihn reichlich entschädigen,
selbst wenn er weder Botaniker noch Entomolog ist,
um in dieser Hinsicht die reichen Schätze des Berges
zu würdigen.

Ein alter Bauer hatte sich zu uns gesellt, wäh-
rend wir da oben lagerten, und mit der unbefangenen
Geschwätzigkeit seiner Landsleute alsbald eine Unter-
haltung mit uns eingefädelt. „Ja,“ erwiederte er auf
unsere dießfallsige Frage, „von dem Ertrage des klei-
nen Stückchen Feldes, das wir hier oben haben, könnten
wir freilich nicht leben. Etwas verdienen wir aller-
dings noch mit dem Verkauf von Kastanien, und zu-
mal von Erdbeeren und Schwämmen, die wir im Som-
mer und Herbst hinunter nach Lucca, ja, seit die Ei-
senbahn da ist, bis nach Pisa, Livorno und Florenz
bringen. Aber unser Hauptverdienst liegt draußen.
Jeden Herbst wandern alle jungen Leute des Dorfs, die
etwas auf sich halten, aus in die Fremde, die einen
in die Maremmen unten, die andern nach Corsika, auch
wohl nach Sardinien. Noch andere aber ziehen mit
einem Maestro fort in das ferne Ausland, um den
Fremden italienische Gypsfiguren zu verkaufen, und
schlagen sich jahrelang elend durch, um am Ende von
dem Meister ein kleines, vorher contraktlich festgestell-
tes Kapital zu erhalten, um das sie von den gewissen-
losen Herren auch noch oft genug geprellt werden, so
daß sie noch ärmer und abgerissener heimkommen, als
sie ausgezogen sind. Die aber hier in Jtalien bleiben,
kommen meist im Frühjahr mit vollen Taschen zurück,
liegen den ganzen Sommer auf der Bärenhaut, spie-
len, trinken und laufen den Mädchen nach, bis sie
[Spaltenumbruch] im Herbst wieder arm wie die Kirchenmäuse abziehen,
um von vorne anzufangen. Ja, liebe Herren, wir
könnten Alle reiche Leute seyn, so viel Geld wird ver-
dient, und doch sind wir nichts als arme Schlucker.
Und es ist wahrhaftig kein Spaß, dort unten in den
Sümpfen die schwere Arbeit zu thun und sich in der
giftigen Luft zehrende Fieber zu holen, oder gar den
wilden Corsen sein Leben anzuvertrauen. Das ist ein
schreckliches Volk!“

Dabei malte er uns ein schauerliches Bild des
Lebens auf Corsika und Sardinien, auf welcher letz-
teren Jnsel das Räuberhandwerk ganz öffentlich getrieben
werde und Mord und Todtschlag an der Tagesordnung
sey. Allerdings steht der gutmüthige, biegsame und
mehr oder weniger feige Charakter der Toscaner und
Lucchesen mit der wilden und rohen Natur jener Jn-
selbewohner im stärksten Contrast.

Glühend versank die Sonne hinter den hohen
Spitzen der apuanischen Alp. Auf dem brennenden
Hintergrunde schienen die gewaltigen dunkeln Kegel
flammensprühende Vulkane. Auf den östlichen Bergen
ruhte jener warme, orangefarbige Duft, der, allmählig
in eine sanftere Veilchenfarbe übergehend, den Haupt-
reiz italienischer Abendbeleuchtungen bildet. — Nicht
ohne Gefährde klommen wir schon in tiefem Dunkel die
steilen Waldwege hinab. Jm Thale angelangt, weilten
wir noch lange am moosigen Fuße der alten hohlen
Kastanie, die über den im Mondschein glitzernden Wel-
len der Lima hing. Es war ein herrlicher Sommer-
abend, voll Duft und träumerischer Stille. Es war
als ob das Thal unten mit seinen vielen hie und da
aufblitzenden Lichtern den wolkenlosen Sternenhimmel
widerspiegle, zwischen beiden die hohen, waldigen Hänge,
wie eine gewaltige Scheidewand zwischen Himmel und
Erde.

Es ist wunderbar, welchen Zauber die stille, fried-
liche Majestät der nächtlichen Natur auf die Gemüther
ausübt. Menschen, die bei Tage jeder tieferen Em-
pfindung unzugänglich schienen, Witzbolde, Spötter und
kalte Verstandesmenschen werden ernst und feierlich be-
wegt, wenn der Schleier der Nacht herabsinkt und die
Stimmen des Lebens um sie her verstummen.

Lange saßen wir so, der Engländer, der Proven-
çale und ich, unter dem alten Kastanienbaum am Ufer,
ein jeder in seiner Muttersprache Gedanken und Em-
pfindungen Raum gebend, die er vielleicht zu profani-
ren gefürchtet hätte, hätte er sie beim hellen Schein
des Tageslichts ausgesprochen. Ein jeder erzählte von
den Schauplätzen seiner Kindheit und von den Schön-
heiten der heimathlichen Natur und von allem, was er
Theures daheim im Vaterlande gelassen; und waren
[Ende Spaltensatz]

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Menschen, die bei Tage jeder tieferen Em- pfindung unzugänglich schienen, Witzbolde, Spötter und kalte Verstandesmenschen werden ernst und feierlich be- wegt, wenn der Schleier der Nacht herabsinkt und die Stimmen des Lebens um sie her verstummen. Lange saßen wir so, der Engländer, der Proven- çale und ich, unter dem alten Kastanienbaum am Ufer, ein jeder in seiner Muttersprache Gedanken und Em- pfindungen Raum gebend, die er vielleicht zu profani- ren gefürchtet hätte, hätte er sie beim hellen Schein des Tageslichts ausgesprochen. Ein jeder erzählte von den Schauplätzen seiner Kindheit und von den Schön- heiten der heimathlichen Natur und von allem, was er Theures daheim im Vaterlande gelassen; und waren

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 31. Stuttgart/Tübingen, 3. August 1856, S. 734. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt31_1856/14>, abgerufen am 03.12.2024.