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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

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Morgenblatt

für

gebildete Leser.

Nr. 46. 16. November 1856.



    -- Scribendi recte sapere est et principium et fons. Horaz:


Goethe
von
Emerson.
[Beginn Spaltensatz]

Jn Nr. 12 und 13 d. J. haben wir mitgetheilt, was
der Amerikaner Emerson über Shakespeare sagt, der ihm
in seiner Galerie von representative men der Typus des
Dichters ist. Wir geben nun im Folgenden den Artikel
über Goethe, den Schriftsteller par excellence, und
verweisen auf das bei jener Gelegenheit über Emerson
Gesagte.

Die kleine Abhandlung über Goethe ist wohl noch
merkwürdiger als die über Shakespeare, wenn auch hie
und da eben so dunkel und orakelmäßig. Es scheint uns
aber der Mühe werth, sich dadurch nicht abschrecken zu
lassen und dem geistvollen Amerikaner auf seinem oft et-
was seltsamen amerikanischen Gedankengange zu folgen.



Die Weltordnung bietet dem Schriftsteller oder
Schriftführer, der die Wirkungen des wunderbaren,
überall pochenden und schaffenden Lebensgeistes zu ver-
zeichnen hat, eine Fülle von Stoff dar. Sein Amt ist
es, die Thatsachen in seinem Geist aufzunehmen und
sodann eine Auswahl der hervorragenden, charakteristi-
stischen Eindrücke zu treffen.

[Spaltenumbruch]

Die Natur will wiedergegeben seyn. Jedes Ding
schreibt selbst seine Geschichte. Von seinem Schatten
begleitet, rollt Planet und Kiesel, der stürzende Fels
hinterläßt seinen Riß im Berg, der Fluß sein Rinn-
sal im Boden, das Thier seine Knochen in der Schicht,
Farrenkraut und Laub ihre bescheidene Grabschrift in
der Kohle. Der fallende Tropfen gräbt seine Spur in
Sand und Stein. Kein Fuß tritt in den Schnee oder
bewegt sich über den Grund hin, ohne daß nachher aus
den Abdrücken der Sohle die Richtung seines Weges in
mehr oder weniger dauernden Zügen zu lesen wäre.
Jede Handlung des Menschen schreibt sich in das Ge-
dächtniß seiner Genossen und in sein eigenes Wesen und
Angesicht. Die Luft ist voller Klänge, der Himmel
voller Merkmale, der Erdboden ganz Erinnerung und
Kennzeichen, und jeder Gegenstand ist mit Andeutungen
bedeckt, die zu dem Verständigen sprechen.

Diese Selbstregistrirung währt in der Natur fort
und fort, und dieser Bericht ist ein Siegelabdruck;
er vergrößert weder, noch verkürzt er das Geschehene.
Aber die Natur strebt aufwärts und im Jnnern des
Menschen gestaltet sich das Wiedergeben zu etwas
[Ende Spaltensatz]

Morgenblatt

für

gebildete Leser.

Nr. 46. 16. November 1856.



    — Scribendi recte sapere est et principium et fons. Horaz:


Goethe
von
Emerson.
[Beginn Spaltensatz]

Jn Nr. 12 und 13 d. J. haben wir mitgetheilt, was
der Amerikaner Emerson über Shakespeare sagt, der ihm
in seiner Galerie von representative men der Typus des
Dichters ist. Wir geben nun im Folgenden den Artikel
über Goethe, den Schriftsteller par excellence, und
verweisen auf das bei jener Gelegenheit über Emerson
Gesagte.

Die kleine Abhandlung über Goethe ist wohl noch
merkwürdiger als die über Shakespeare, wenn auch hie
und da eben so dunkel und orakelmäßig. Es scheint uns
aber der Mühe werth, sich dadurch nicht abschrecken zu
lassen und dem geistvollen Amerikaner auf seinem oft et-
was seltsamen amerikanischen Gedankengange zu folgen.



Die Weltordnung bietet dem Schriftsteller oder
Schriftführer, der die Wirkungen des wunderbaren,
überall pochenden und schaffenden Lebensgeistes zu ver-
zeichnen hat, eine Fülle von Stoff dar. Sein Amt ist
es, die Thatsachen in seinem Geist aufzunehmen und
sodann eine Auswahl der hervorragenden, charakteristi-
stischen Eindrücke zu treffen.

[Spaltenumbruch]

Die Natur will wiedergegeben seyn. Jedes Ding
schreibt selbst seine Geschichte. Von seinem Schatten
begleitet, rollt Planet und Kiesel, der stürzende Fels
hinterläßt seinen Riß im Berg, der Fluß sein Rinn-
sal im Boden, das Thier seine Knochen in der Schicht,
Farrenkraut und Laub ihre bescheidene Grabschrift in
der Kohle. Der fallende Tropfen gräbt seine Spur in
Sand und Stein. Kein Fuß tritt in den Schnee oder
bewegt sich über den Grund hin, ohne daß nachher aus
den Abdrücken der Sohle die Richtung seines Weges in
mehr oder weniger dauernden Zügen zu lesen wäre.
Jede Handlung des Menschen schreibt sich in das Ge-
dächtniß seiner Genossen und in sein eigenes Wesen und
Angesicht. Die Luft ist voller Klänge, der Himmel
voller Merkmale, der Erdboden ganz Erinnerung und
Kennzeichen, und jeder Gegenstand ist mit Andeutungen
bedeckt, die zu dem Verständigen sprechen.

Diese Selbstregistrirung währt in der Natur fort
und fort, und dieser Bericht ist ein Siegelabdruck;
er vergrößert weder, noch verkürzt er das Geschehene.
Aber die Natur strebt aufwärts und im Jnnern des
Menschen gestaltet sich das Wiedergeben zu etwas
[Ende Spaltensatz]

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. [1081]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/1>, abgerufen am 21.11.2024.