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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.

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Sommerwanderungen um Newyork.
[Beginn Spaltensatz]
Ein Seebad.

Neben den fashionabeln Seebädern Newport und
Cape May, in welche die reichen Amerikaner ihre Lange-
weile, ihre Krankheiten und ihren Luxus tragen, gibt
es noch viele anmuthige Plätze in unmittelbarer Nähe
von Newyork am nördlichen Ende der Küste von New-
Jersey, die von vielen Newyorkern zum Sommeraufent-
halt für ihre Familien ausersehen werden, welche sie
am Sonntag dort besuchen. Long Branch, Ocean Point
und die Highlands of Neversink sind vielbesuchte Punkte,
und letztere waren dießmal mein Ziel.

Am North River, unten in der Stadt liegt der
"Christopher," einer jener kleinen Seedampfer, welche
nach allen Richtungen zu Lustfahrten benutzt werden.
Welch ein Getümmel und Gedränge von Wagen und
Fußgängern, welch ein Lärmen und Schreien, welch ein
Durcheinander der verschiedensten Gerüche -- mit Aus-
nahme aller angenehmen -- längs dem Kai! Man
täuscht sich, wenn man glaubt, in Newyork ein wenn
auch nur homöopathisches Quantum Seewindes zu ge-
nießen. Obgleich die Stadt, wie die Landkarte unwi-
derleglich darthut, auf drei Seiten von Wasser umge-
geben ist, so bilden doch die häuserhohen Aufstapelungen
von Schiffbauholz, welche sich fast die ganzen Kais
entlang erstrecken, und noch mehr die oft in sechsfachen
Reihen liegenden Schiffe mit ihrem undurchdringlichen
Mastenwald eine Art chinesischer Mauer, welche schwer-
lich ein Atom reiner Luft durchläßt. Auch auf dem
Pier ist eine solche Anhäufung von Karren, Menschen,
Pferden und Wagen, daß man sich nur mit Mühe
durchwindet. Endlich gelangt man zum Christopher,
der sich bis zur Stunde der Abfahrt mit Menschen
vollpfropft. Auch ein Sänger erscheint, eine Gestalt,
ähnlich jenen vom Regen fast bis zur Unkenntlichkeit
verwaschenen Sandsteinstatuen, die man nicht selten, halb
zerbrochen und von ihren Postamenten gefallen, in den
Gärten alter Schlösser findet. Er trägt eine abgenutzte
Guitarre, deren Resonanzboden ganz dem seiner Stimme
entspricht, der längst einen Sprung erhalten hat, und
mit einem gewissen dramatischen Pathos singt er die
Marseillaise und die Parisienne. Seine Aussprache --
aux armes "chitoyens ", und abreuve nos "chillons " --
verräth den Jtaliäner, vielleicht ein Stück von den
Trümmern irgend einer vor Jahren gescheiterten Opern-
[Spaltenumbruch] gesellschaft. Nachdem er seine Ernte bei den Passagie-
ren eingesammelt, entfernt er sich, um auf irgend einem
andern Boot seine Kunstleistung zu wiederholen, und
bald darauf, mit dem Schlage halb fünf, setzt sich der
Christopher in Bewegung.

Erst geht die Fahrt auf dem Fluß den untern
Theil der Stadt entlang, bis zur Batterie, wo der
North River und East River sich vereinigen und
Brooklyn am jenseitigen Ufer des letztern sich erhebt.
Jn jedem andern Theil des Landes würde Brooklyn,
welches gegenwärtig an 150,000 Einwohner zählen soll,
eine Stadt ersten Ranges seyn; hier hingegen, in der
unmittelbaren Nähe Newyorks, verhält es sich ungefähr
wie Altona zu Hamburg.

Wir befinden uns jetzt auf der Bai von Newyork
und fahren an Shephard's Jsland und Governor's
Jsland vorbei. An verschiedenen Punkten erheben sich
kleine Forts, deren Bestimmung es ist, den Hafen zu
vertheidigen, welche aber selbst nach dem Geständniß
der Amerikaner niemals vom mindesten Nutzen seyn
können. Eine offene Stadt und ein offener Hafen sind
ja auch der freundlichste, einladendste Eingang in ein
gastfreies Land und zu einer freien, im Bewußtseyn
ihrer Kraft sorglosen Nation, und deßhalb möchte man
jene unnützen Forts, welche an Versetzstücke auf der
Bühne erinnern, lieber ganz wegwünschen. Uebrigens
habe ich schon die Ueberzeugung aussprechen hören,
Newyork besitze stärkere Vertheidigungsmittel in sich selbst,
und sollten in der That ein paar feindliche Kriegs-
schiffe den Eingang erzwingen, so würden sie schwerlich
wieder zurückkehren; denn so wenig man auch die Mit-
tel besäße, ihnen den Zugang zu wehren, und so viel
Schaden sie auch während einiger Stunden der Stadt
zufügen möchten, so würde das Volk, sobald es sich
vom ersten Schreck erholt hätte, ihnen auf allem, was
nur den Namen Fahrzeug trüge, entgegenströmen, um
den Feind mit Sturm zu überwältigen. Tausende möch-
ten fallen, aber endlich würde man doch die Schuß-
linie durchbrechen und Mann gegen Mann den Gegner
bekämpfen, von dem am andern Tag ein paar rauchende
Wracks und umherschwimmende Leichen die einzige Kunde
geben würden.

Wir sind jetzt die Bai herunter und gelangen zu
den Narrows, der Enge, die von den Jnseln Long Js-
land und Staten Jsland gebildet wird. Auf der letzteren
[Ende Spaltensatz]



Sommerwanderungen um Newyork.
[Beginn Spaltensatz]
Ein Seebad.

Neben den fashionabeln Seebädern Newport und
Cape May, in welche die reichen Amerikaner ihre Lange-
weile, ihre Krankheiten und ihren Luxus tragen, gibt
es noch viele anmuthige Plätze in unmittelbarer Nähe
von Newyork am nördlichen Ende der Küste von New-
Jersey, die von vielen Newyorkern zum Sommeraufent-
halt für ihre Familien ausersehen werden, welche sie
am Sonntag dort besuchen. Long Branch, Ocean Point
und die Highlands of Neversink sind vielbesuchte Punkte,
und letztere waren dießmal mein Ziel.

Am North River, unten in der Stadt liegt der
„Christopher,“ einer jener kleinen Seedampfer, welche
nach allen Richtungen zu Lustfahrten benutzt werden.
Welch ein Getümmel und Gedränge von Wagen und
Fußgängern, welch ein Lärmen und Schreien, welch ein
Durcheinander der verschiedensten Gerüche — mit Aus-
nahme aller angenehmen — längs dem Kai! Man
täuscht sich, wenn man glaubt, in Newyork ein wenn
auch nur homöopathisches Quantum Seewindes zu ge-
nießen. Obgleich die Stadt, wie die Landkarte unwi-
derleglich darthut, auf drei Seiten von Wasser umge-
geben ist, so bilden doch die häuserhohen Aufstapelungen
von Schiffbauholz, welche sich fast die ganzen Kais
entlang erstrecken, und noch mehr die oft in sechsfachen
Reihen liegenden Schiffe mit ihrem undurchdringlichen
Mastenwald eine Art chinesischer Mauer, welche schwer-
lich ein Atom reiner Luft durchläßt. Auch auf dem
Pier ist eine solche Anhäufung von Karren, Menschen,
Pferden und Wagen, daß man sich nur mit Mühe
durchwindet. Endlich gelangt man zum Christopher,
der sich bis zur Stunde der Abfahrt mit Menschen
vollpfropft. Auch ein Sänger erscheint, eine Gestalt,
ähnlich jenen vom Regen fast bis zur Unkenntlichkeit
verwaschenen Sandsteinstatuen, die man nicht selten, halb
zerbrochen und von ihren Postamenten gefallen, in den
Gärten alter Schlösser findet. Er trägt eine abgenutzte
Guitarre, deren Resonanzboden ganz dem seiner Stimme
entspricht, der längst einen Sprung erhalten hat, und
mit einem gewissen dramatischen Pathos singt er die
Marseillaise und die Parisienne. Seine Aussprache —
aux armes »chitoyens «, und abreuve nos »chillons « —
verräth den Jtaliäner, vielleicht ein Stück von den
Trümmern irgend einer vor Jahren gescheiterten Opern-
[Spaltenumbruch] gesellschaft. Nachdem er seine Ernte bei den Passagie-
ren eingesammelt, entfernt er sich, um auf irgend einem
andern Boot seine Kunstleistung zu wiederholen, und
bald darauf, mit dem Schlage halb fünf, setzt sich der
Christopher in Bewegung.

Erst geht die Fahrt auf dem Fluß den untern
Theil der Stadt entlang, bis zur Batterie, wo der
North River und East River sich vereinigen und
Brooklyn am jenseitigen Ufer des letztern sich erhebt.
Jn jedem andern Theil des Landes würde Brooklyn,
welches gegenwärtig an 150,000 Einwohner zählen soll,
eine Stadt ersten Ranges seyn; hier hingegen, in der
unmittelbaren Nähe Newyorks, verhält es sich ungefähr
wie Altona zu Hamburg.

Wir befinden uns jetzt auf der Bai von Newyork
und fahren an Shephard's Jsland und Governor's
Jsland vorbei. An verschiedenen Punkten erheben sich
kleine Forts, deren Bestimmung es ist, den Hafen zu
vertheidigen, welche aber selbst nach dem Geständniß
der Amerikaner niemals vom mindesten Nutzen seyn
können. Eine offene Stadt und ein offener Hafen sind
ja auch der freundlichste, einladendste Eingang in ein
gastfreies Land und zu einer freien, im Bewußtseyn
ihrer Kraft sorglosen Nation, und deßhalb möchte man
jene unnützen Forts, welche an Versetzstücke auf der
Bühne erinnern, lieber ganz wegwünschen. Uebrigens
habe ich schon die Ueberzeugung aussprechen hören,
Newyork besitze stärkere Vertheidigungsmittel in sich selbst,
und sollten in der That ein paar feindliche Kriegs-
schiffe den Eingang erzwingen, so würden sie schwerlich
wieder zurückkehren; denn so wenig man auch die Mit-
tel besäße, ihnen den Zugang zu wehren, und so viel
Schaden sie auch während einiger Stunden der Stadt
zufügen möchten, so würde das Volk, sobald es sich
vom ersten Schreck erholt hätte, ihnen auf allem, was
nur den Namen Fahrzeug trüge, entgegenströmen, um
den Feind mit Sturm zu überwältigen. Tausende möch-
ten fallen, aber endlich würde man doch die Schuß-
linie durchbrechen und Mann gegen Mann den Gegner
bekämpfen, von dem am andern Tag ein paar rauchende
Wracks und umherschwimmende Leichen die einzige Kunde
geben würden.

Wir sind jetzt die Bai herunter und gelangen zu
den Narrows, der Enge, die von den Jnseln Long Js-
land und Staten Jsland gebildet wird. Auf der letzteren
[Ende Spaltensatz]

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[1094/0014] 1094 Sommerwanderungen um Newyork. Ein Seebad. Neben den fashionabeln Seebädern Newport und Cape May, in welche die reichen Amerikaner ihre Lange- weile, ihre Krankheiten und ihren Luxus tragen, gibt es noch viele anmuthige Plätze in unmittelbarer Nähe von Newyork am nördlichen Ende der Küste von New- Jersey, die von vielen Newyorkern zum Sommeraufent- halt für ihre Familien ausersehen werden, welche sie am Sonntag dort besuchen. Long Branch, Ocean Point und die Highlands of Neversink sind vielbesuchte Punkte, und letztere waren dießmal mein Ziel. Am North River, unten in der Stadt liegt der „Christopher,“ einer jener kleinen Seedampfer, welche nach allen Richtungen zu Lustfahrten benutzt werden. Welch ein Getümmel und Gedränge von Wagen und Fußgängern, welch ein Lärmen und Schreien, welch ein Durcheinander der verschiedensten Gerüche — mit Aus- nahme aller angenehmen — längs dem Kai! Man täuscht sich, wenn man glaubt, in Newyork ein wenn auch nur homöopathisches Quantum Seewindes zu ge- nießen. Obgleich die Stadt, wie die Landkarte unwi- derleglich darthut, auf drei Seiten von Wasser umge- geben ist, so bilden doch die häuserhohen Aufstapelungen von Schiffbauholz, welche sich fast die ganzen Kais entlang erstrecken, und noch mehr die oft in sechsfachen Reihen liegenden Schiffe mit ihrem undurchdringlichen Mastenwald eine Art chinesischer Mauer, welche schwer- lich ein Atom reiner Luft durchläßt. Auch auf dem Pier ist eine solche Anhäufung von Karren, Menschen, Pferden und Wagen, daß man sich nur mit Mühe durchwindet. Endlich gelangt man zum Christopher, der sich bis zur Stunde der Abfahrt mit Menschen vollpfropft. Auch ein Sänger erscheint, eine Gestalt, ähnlich jenen vom Regen fast bis zur Unkenntlichkeit verwaschenen Sandsteinstatuen, die man nicht selten, halb zerbrochen und von ihren Postamenten gefallen, in den Gärten alter Schlösser findet. Er trägt eine abgenutzte Guitarre, deren Resonanzboden ganz dem seiner Stimme entspricht, der längst einen Sprung erhalten hat, und mit einem gewissen dramatischen Pathos singt er die Marseillaise und die Parisienne. Seine Aussprache — aux armes »chitoyens «, und abreuve nos »chillons « — verräth den Jtaliäner, vielleicht ein Stück von den Trümmern irgend einer vor Jahren gescheiterten Opern- gesellschaft. Nachdem er seine Ernte bei den Passagie- ren eingesammelt, entfernt er sich, um auf irgend einem andern Boot seine Kunstleistung zu wiederholen, und bald darauf, mit dem Schlage halb fünf, setzt sich der Christopher in Bewegung. Erst geht die Fahrt auf dem Fluß den untern Theil der Stadt entlang, bis zur Batterie, wo der North River und East River sich vereinigen und Brooklyn am jenseitigen Ufer des letztern sich erhebt. Jn jedem andern Theil des Landes würde Brooklyn, welches gegenwärtig an 150,000 Einwohner zählen soll, eine Stadt ersten Ranges seyn; hier hingegen, in der unmittelbaren Nähe Newyorks, verhält es sich ungefähr wie Altona zu Hamburg. Wir befinden uns jetzt auf der Bai von Newyork und fahren an Shephard's Jsland und Governor's Jsland vorbei. An verschiedenen Punkten erheben sich kleine Forts, deren Bestimmung es ist, den Hafen zu vertheidigen, welche aber selbst nach dem Geständniß der Amerikaner niemals vom mindesten Nutzen seyn können. Eine offene Stadt und ein offener Hafen sind ja auch der freundlichste, einladendste Eingang in ein gastfreies Land und zu einer freien, im Bewußtseyn ihrer Kraft sorglosen Nation, und deßhalb möchte man jene unnützen Forts, welche an Versetzstücke auf der Bühne erinnern, lieber ganz wegwünschen. Uebrigens habe ich schon die Ueberzeugung aussprechen hören, Newyork besitze stärkere Vertheidigungsmittel in sich selbst, und sollten in der That ein paar feindliche Kriegs- schiffe den Eingang erzwingen, so würden sie schwerlich wieder zurückkehren; denn so wenig man auch die Mit- tel besäße, ihnen den Zugang zu wehren, und so viel Schaden sie auch während einiger Stunden der Stadt zufügen möchten, so würde das Volk, sobald es sich vom ersten Schreck erholt hätte, ihnen auf allem, was nur den Namen Fahrzeug trüge, entgegenströmen, um den Feind mit Sturm zu überwältigen. Tausende möch- ten fallen, aber endlich würde man doch die Schuß- linie durchbrechen und Mann gegen Mann den Gegner bekämpfen, von dem am andern Tag ein paar rauchende Wracks und umherschwimmende Leichen die einzige Kunde geben würden. Wir sind jetzt die Bai herunter und gelangen zu den Narrows, der Enge, die von den Jnseln Long Js- land und Staten Jsland gebildet wird. Auf der letzteren

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856, S. 1094. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt46_1856/14>, abgerufen am 21.11.2024.