Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 46. Stuttgart/Tübingen, 16. November 1856.[Beginn Spaltensatz]
sehen, daß die wohlgesinnte zutrauliche Unbefangenheit, ( Schluß folgt. ) Korrespondenz-Nachrichten. Paris, Oktober. ( Schluß. ) Die Armen. -- Theater. -- Literatur. Was man durch die öffentlichen Arbeiten hatte ver- [Beginn Spaltensatz]
sehen, daß die wohlgesinnte zutrauliche Unbefangenheit, ( Schluß folgt. ) Korrespondenz-Nachrichten. Paris, Oktober. ( Schluß. ) Die Armen. — Theater. — Literatur. Was man durch die öffentlichen Arbeiten hatte ver- <TEI> <text> <body> <div type="jCulturalNews" n="1"> <p><pb facs="#f0022" n="1102"/><fw type="pageNum" place="top">1102</fw><cb type="start"/> sehen, daß die wohlgesinnte zutrauliche Unbefangenheit,<lb/> welche dem Liebeswahn des Mannes so reichliche Nahrung<lb/> gibt, ihr gutes Theil strafbarer Koketterie in sich birgt.<lb/> Wie schön daher auch am Ende die Dankbarkeit gegen den<lb/> Bräutigam Lilis, in dem der Maler plötzlich seinen un-<lb/> bekannten Retter aus schwerer geistiger Lebensnoth ent-<lb/> decken muß, als Motiv der Resignation eingeführt sey,<lb/> können wir uns doch eines starken Verdrusses über all<lb/> den fruchtlosen Aufwand sympathischer Berührungen nicht<lb/> verwehren. Und dieser Verdruß würde durch den Gedan-<lb/><cb n="2"/> ken, der Dichter habe uns um des sanften Schlußaccords<lb/> willen den Glauben an einen in Wahrheit nicht stichhal-<lb/> tigen edeln Selbstbezwingungsentschluß zugemuthet, weniger<lb/> gereizt werden als durch das heimliche Gefühl einer ge-<lb/> wissen Kaltblütigkeit, vermöge deren es dem leer Ausge-<lb/> henden ohne große Mühe gelinge, den erlittenen Schmerz<lb/> von sich abzustreifen und aus den Gemüthsbewegungen der<lb/> ländlichen Episode mit anständiger Fassung in das ge-<lb/> wohnte Treiben der Hauptstadt zurückzukehren. </p><lb/> <cb type="end"/> <p> <hi rendition="#c">( Schluß folgt. )</hi> </p> </div><lb/> <space dim="vertical"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <space dim="vertical"/> <div type="jArticle" n="1"> <head><hi rendition="#fr">Korrespondenz-Nachrichten.</hi><lb/> Paris, <date>Oktober.</date><lb/> ( Schluß. )</head><lb/> <argument> <p>Die Armen. — Theater. — Literatur.</p> </argument><lb/> <cb type="start"/> <p>Was man durch die öffentlichen Arbeiten hatte ver-<lb/> meiden wollen, ist gerade die Folge derselben: größere An-<lb/> häufung der Arbeiterbevölkerung, größere Theuerung und<lb/> größere Unzufriedenheit bei größerer Masse. Vorzugsweise<lb/> ist es der Miethzins, der der Regierung große Sorgen<lb/> verursacht. Die neuen Bauten machten das Niederreißen<lb/> ganzer alter Stadttheile, die ehemals von den Armen be-<lb/> wohnt gewesen, nothwendig und erhöhten den Hauszins.<lb/> Aber man tröstete sich; das konnte ja nicht lange dauern;<lb/> die alten niedergerissenen Häuser mußten ja durch neue<lb/> bequemere und gesündere ersetzt werden. Dieß ist nun<lb/> freilich der Fall, aber die neuen Gassen und Quartiere<lb/> mit ihren bequemeren und gesünderen Wohnungen kom-<lb/> men nicht den ausquartierten Armen zu Gute; sie sind<lb/> Herrenquartiere und von den Wohlhabenden im Sturm<lb/> besetzt worden. Die Armen können die hohen Miethzinse<lb/> der neuen Häuser nicht erschwingen und die Folgen sind<lb/> aufrührerische Plakate, die jede Nacht an die Straßenecken<lb/> geklebt werden, und sehr verfängliche Jnterjektionen gegen<lb/> Hauseigenthümer, theures Brod, theuren Wein und theure<lb/> Regierung enthalten. Man muß darum nicht überrascht<lb/> seyn, wenn man von einem durchs Fenster hinausgewor-<lb/> fenen Hauseigenthümer hört, oder wenn man erfährt, daß<lb/> vor dem 15. Oktober, dem Ausziehtermin, Polizeikom-<lb/><cb n="2"/> missäre in den Faubourgs von Haus zu Haus gingen und<lb/> den Hauseigenthümern verboten, nicht zahlungsfähige<lb/> Miethsleute auszuquartieren. Eben so wenig muß man<lb/> überrascht seyn, wenn man an einem schönen Tage, der<lb/> auf dem Boulevard des Jtaliens so friedlich als möglich<lb/> aussieht, dem Holze von Vincennes entgegen wandernd,<lb/> das Faubourg St. Antoine von zahlreichen Truppen besetzt<lb/> sieht, als befände man sich im Kriegszustande. Die Holz-<lb/> häuschen, diese idyllischen Hütten, die aussehen, als ob<lb/> nur das reinste Glück in ihnen wohnen könnte, sind mit-<lb/> ten im modernen Babel eine rührende Rückkehr zur Na-<lb/> tur; aber die undankbaren Arbeiter rühren sie am we-<lb/> nigsten, denn sie helfen nicht dem zehntausendsten Theil<lb/> des Elends ab. Rührender sinde ich die holde Jllusion<lb/> der schönen Kaiserin, die, wie man erzählt, in verschie-<lb/> denen Vorstädten eine Anzahl von Häusern gemiethet hat,<lb/> um sie mit Verlust den Arbeitern zu überlassen. Sie<lb/> wird sich durch diese, wir hoffen mehr weibliche als po-<lb/> litische Handlungsweise gewiß sehr beliebt und populär<lb/> machen, aber es ist eben auch nur ein Palliativ und kein<lb/> Heilmittel. Wo dieses überhaupt zu finden, wissen wir<lb/> nicht und weiß auch die Regierung nicht; wir wollten hier<lb/> mit dem Gesagten nur einiges zur Bezeichnung der Lage<lb/> anführen, ohne weitere Consequenzen daraus zu ziehen, oder<lb/><cb type="end"/> </p> </div> </body> </text> </TEI> [1102/0022]
1102
sehen, daß die wohlgesinnte zutrauliche Unbefangenheit,
welche dem Liebeswahn des Mannes so reichliche Nahrung
gibt, ihr gutes Theil strafbarer Koketterie in sich birgt.
Wie schön daher auch am Ende die Dankbarkeit gegen den
Bräutigam Lilis, in dem der Maler plötzlich seinen un-
bekannten Retter aus schwerer geistiger Lebensnoth ent-
decken muß, als Motiv der Resignation eingeführt sey,
können wir uns doch eines starken Verdrusses über all
den fruchtlosen Aufwand sympathischer Berührungen nicht
verwehren. Und dieser Verdruß würde durch den Gedan-
ken, der Dichter habe uns um des sanften Schlußaccords
willen den Glauben an einen in Wahrheit nicht stichhal-
tigen edeln Selbstbezwingungsentschluß zugemuthet, weniger
gereizt werden als durch das heimliche Gefühl einer ge-
wissen Kaltblütigkeit, vermöge deren es dem leer Ausge-
henden ohne große Mühe gelinge, den erlittenen Schmerz
von sich abzustreifen und aus den Gemüthsbewegungen der
ländlichen Episode mit anständiger Fassung in das ge-
wohnte Treiben der Hauptstadt zurückzukehren.
( Schluß folgt. )
Korrespondenz-Nachrichten.
Paris, Oktober.
( Schluß. )
Die Armen. — Theater. — Literatur.
Was man durch die öffentlichen Arbeiten hatte ver-
meiden wollen, ist gerade die Folge derselben: größere An-
häufung der Arbeiterbevölkerung, größere Theuerung und
größere Unzufriedenheit bei größerer Masse. Vorzugsweise
ist es der Miethzins, der der Regierung große Sorgen
verursacht. Die neuen Bauten machten das Niederreißen
ganzer alter Stadttheile, die ehemals von den Armen be-
wohnt gewesen, nothwendig und erhöhten den Hauszins.
Aber man tröstete sich; das konnte ja nicht lange dauern;
die alten niedergerissenen Häuser mußten ja durch neue
bequemere und gesündere ersetzt werden. Dieß ist nun
freilich der Fall, aber die neuen Gassen und Quartiere
mit ihren bequemeren und gesünderen Wohnungen kom-
men nicht den ausquartierten Armen zu Gute; sie sind
Herrenquartiere und von den Wohlhabenden im Sturm
besetzt worden. Die Armen können die hohen Miethzinse
der neuen Häuser nicht erschwingen und die Folgen sind
aufrührerische Plakate, die jede Nacht an die Straßenecken
geklebt werden, und sehr verfängliche Jnterjektionen gegen
Hauseigenthümer, theures Brod, theuren Wein und theure
Regierung enthalten. Man muß darum nicht überrascht
seyn, wenn man von einem durchs Fenster hinausgewor-
fenen Hauseigenthümer hört, oder wenn man erfährt, daß
vor dem 15. Oktober, dem Ausziehtermin, Polizeikom-
missäre in den Faubourgs von Haus zu Haus gingen und
den Hauseigenthümern verboten, nicht zahlungsfähige
Miethsleute auszuquartieren. Eben so wenig muß man
überrascht seyn, wenn man an einem schönen Tage, der
auf dem Boulevard des Jtaliens so friedlich als möglich
aussieht, dem Holze von Vincennes entgegen wandernd,
das Faubourg St. Antoine von zahlreichen Truppen besetzt
sieht, als befände man sich im Kriegszustande. Die Holz-
häuschen, diese idyllischen Hütten, die aussehen, als ob
nur das reinste Glück in ihnen wohnen könnte, sind mit-
ten im modernen Babel eine rührende Rückkehr zur Na-
tur; aber die undankbaren Arbeiter rühren sie am we-
nigsten, denn sie helfen nicht dem zehntausendsten Theil
des Elends ab. Rührender sinde ich die holde Jllusion
der schönen Kaiserin, die, wie man erzählt, in verschie-
denen Vorstädten eine Anzahl von Häusern gemiethet hat,
um sie mit Verlust den Arbeitern zu überlassen. Sie
wird sich durch diese, wir hoffen mehr weibliche als po-
litische Handlungsweise gewiß sehr beliebt und populär
machen, aber es ist eben auch nur ein Palliativ und kein
Heilmittel. Wo dieses überhaupt zu finden, wissen wir
nicht und weiß auch die Regierung nicht; wir wollten hier
mit dem Gesagten nur einiges zur Bezeichnung der Lage
anführen, ohne weitere Consequenzen daraus zu ziehen, oder
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