Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. 30. November 1856. Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seyen nun ganz roh, halbcul-Goethe. Die Wissenschaft und die Dorfgeschichte. [Beginn Spaltensatz]
Bei Gelegenheit von Berthold Auerbachs neuester Erzählung. ( Barfüßele, von B. Auerbach. J. G. Cotta'scher Verlag. 1856. ) Der Roman ist der beste und bequemste Cultur- Ja, wir haben seit ein paar Menschenaltern ganz Vom Gesichtspunkt der höheren Stände, also dem Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. 30. November 1856. Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seyen nun ganz roh, halbcul-Goethe. Die Wissenschaft und die Dorfgeschichte. [Beginn Spaltensatz]
Bei Gelegenheit von Berthold Auerbachs neuester Erzählung. ( Barfüßele, von B. Auerbach. J. G. Cotta'scher Verlag. 1856. ) Der Roman ist der beste und bequemste Cultur- Ja, wir haben seit ein paar Menschenaltern ganz Vom Gesichtspunkt der höheren Stände, also dem <TEI> <text> <front> <pb facs="#f0001" n="[1129]"/> <titlePage type="heading"> <docTitle> <titlePart type="main"> <hi rendition="#b #fr #g #larger">Morgenblatt</hi><lb/> <space dim="vertical"/> <hi rendition="#smaller">für</hi><lb/> <space dim="vertical"/> <hi rendition="#b #fr #g"><hi rendition="#g">gebildete Leser</hi>.</hi> </titlePart> </docTitle><lb/> <space dim="vertical"/> <docImprint> <hi rendition="#fr">Nr. 48.</hi> <docDate> <hi rendition="#right">30. November 1856.</hi> </docDate> </docImprint><lb/> </titlePage> <space dim="vertical"/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </front> <body> <div n="1"> <epigraph> <cit> <quote><space dim="horizontal"/>Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seyen nun ganz roh, halbcul-<lb/> tivirt, oder bei Abänderung einer Cultur; so daß man also sagen kann, die Wirkung<lb/> der Neuheit finde durchaus statt. </quote> <bibl> <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Goethe</hi>.</hi> </bibl> </cit> </epigraph> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="jArticle" n="1"> <head><hi rendition="#fr">Die <choice><sic>Wissenschast</sic><corr>Wissenschaft</corr></choice> und die Dorfgeschichte.</hi><lb/><hi rendition="#g">Bei Gelegenheit von Berthold Auerbachs neuester Erzählung.</hi><lb/> ( Barfüßele, von B. Auerbach. J. G. Cotta'scher Verlag. <date>1856</date>. )</head><lb/> <cb type="start"/> <p>Der Roman ist der beste und bequemste Cultur-<lb/> messer. Am Roman, wie ihn jedes Zeitalter hervor-<lb/> bringt und erträgt, liest man den Stand des jedesma-<lb/> ligen Glaubens und Wissens und der ganzen Sittlichkeit<lb/> wie an einem kunstreichen und doch einfachen physikali-<lb/> schen Jnstrumente ab. Des lebendigsten, bezeichnendsten<lb/> Moments, der Sprache, bedarf es dabei nicht einmal.<lb/> Man nehme das nächste beste Capitel einer nicht deut-<lb/> schen oder einer nicht modern deutschen Novelle; man<lb/> tödte es gleichsam, indem man die Form zerstößt und<lb/> im Neudeutschen auflöst: wer da nicht dennoch am Co-<lb/> lorit des socialen Glaubens und Aberglaubens, an der<lb/> Textur der Standes= und Geschlechtsverhältnisse, an<lb/> Figur und Farbe jeder Sittenmolecüle die Geburtszeit<lb/> des Dinges so sicher erkennt, wie der Chemiker die ver-<lb/> schiedenen Metalle an der Färbung ihrer bezeichnenden<lb/> Niederschläge, der mag immerhin Romane lesen, wenn<lb/> er nur barmherzig genug ist, keine weder zu kritisiren<lb/> noch selber zu schreiben. Daß aber die Figuren eines<lb/> ganzen Romans die Cultur seiner Zeit nach allen Rich-<lb/> tungen gerade so versinnlichen, wie der plastische Schmuck<lb/> eines gothischen Portals einen Ausschnitt der heiligen<lb/><cb n="2"/> Geschichten und der Heilswahrheiten — das ist ein<lb/> Satz, der in einer Zeit, welche so erstaunlich viel lernt,<lb/> weil sie begriffen hat, wie unendlich viel zu lernen ist,<lb/> sogar denen einleuchtet, welche in kleinen Städten die<lb/> Feuilletons der Lokalblätter besorgen.</p><lb/> <p>Ja, wir haben seit ein paar Menschenaltern ganz<lb/> erstaunlich viel gelernt, und zu dem, was durch die<lb/> rasche Erweiterung des Horizonts der Erkenntniß mög-<lb/> lich geworden ist, gehört neben so vielem Größeren und<lb/> Wichtigeren etwas, das eben nicht das Schlechteste und<lb/> Geringste ist, das, was man jetzt den „socialen Ro-<lb/> man “ nennt, und zunächst die <hi rendition="#g">Dorfgeschichte.</hi> Vor<lb/> hundert Jahren wäre in der Literatur eine Novelle von<lb/> Jeremias Gotthelf oder Auerbach so unbegreiflich und<lb/> unmöglich gewesen, als wissenschaftlich ein Begriff der<lb/> Erdbildung, wie er sich seit Werner und Cuvier ent-<lb/> wickelt hat.</p><lb/> <p>Vom Gesichtspunkt der höheren Stände, also dem<lb/> des Schriftstellers aus, erschienen damals die Zustände<lb/> der niedern Gesellschaftsschichten wie ein fernes Gebirge,<lb/> an dem man nur die schroffen Formen, aber keine Ein-<lb/> zelnheit des Naturwuchses und des Anbaus wahrnimmt;<lb/><cb type="end"/> </p> </div> </body> </text> </TEI> [[1129]/0001]
Morgenblatt
für
gebildete Leser.
Nr. 48. 30. November 1856.
Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seyen nun ganz roh, halbcul-
tivirt, oder bei Abänderung einer Cultur; so daß man also sagen kann, die Wirkung
der Neuheit finde durchaus statt. Goethe.
Die Wissenschaft und die Dorfgeschichte.
Bei Gelegenheit von Berthold Auerbachs neuester Erzählung.
( Barfüßele, von B. Auerbach. J. G. Cotta'scher Verlag. 1856. )
Der Roman ist der beste und bequemste Cultur-
messer. Am Roman, wie ihn jedes Zeitalter hervor-
bringt und erträgt, liest man den Stand des jedesma-
ligen Glaubens und Wissens und der ganzen Sittlichkeit
wie an einem kunstreichen und doch einfachen physikali-
schen Jnstrumente ab. Des lebendigsten, bezeichnendsten
Moments, der Sprache, bedarf es dabei nicht einmal.
Man nehme das nächste beste Capitel einer nicht deut-
schen oder einer nicht modern deutschen Novelle; man
tödte es gleichsam, indem man die Form zerstößt und
im Neudeutschen auflöst: wer da nicht dennoch am Co-
lorit des socialen Glaubens und Aberglaubens, an der
Textur der Standes= und Geschlechtsverhältnisse, an
Figur und Farbe jeder Sittenmolecüle die Geburtszeit
des Dinges so sicher erkennt, wie der Chemiker die ver-
schiedenen Metalle an der Färbung ihrer bezeichnenden
Niederschläge, der mag immerhin Romane lesen, wenn
er nur barmherzig genug ist, keine weder zu kritisiren
noch selber zu schreiben. Daß aber die Figuren eines
ganzen Romans die Cultur seiner Zeit nach allen Rich-
tungen gerade so versinnlichen, wie der plastische Schmuck
eines gothischen Portals einen Ausschnitt der heiligen
Geschichten und der Heilswahrheiten — das ist ein
Satz, der in einer Zeit, welche so erstaunlich viel lernt,
weil sie begriffen hat, wie unendlich viel zu lernen ist,
sogar denen einleuchtet, welche in kleinen Städten die
Feuilletons der Lokalblätter besorgen.
Ja, wir haben seit ein paar Menschenaltern ganz
erstaunlich viel gelernt, und zu dem, was durch die
rasche Erweiterung des Horizonts der Erkenntniß mög-
lich geworden ist, gehört neben so vielem Größeren und
Wichtigeren etwas, das eben nicht das Schlechteste und
Geringste ist, das, was man jetzt den „socialen Ro-
man “ nennt, und zunächst die Dorfgeschichte. Vor
hundert Jahren wäre in der Literatur eine Novelle von
Jeremias Gotthelf oder Auerbach so unbegreiflich und
unmöglich gewesen, als wissenschaftlich ein Begriff der
Erdbildung, wie er sich seit Werner und Cuvier ent-
wickelt hat.
Vom Gesichtspunkt der höheren Stände, also dem
des Schriftstellers aus, erschienen damals die Zustände
der niedern Gesellschaftsschichten wie ein fernes Gebirge,
an dem man nur die schroffen Formen, aber keine Ein-
zelnheit des Naturwuchses und des Anbaus wahrnimmt;
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