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Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856.

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[Beginn Spaltensatz] geistigen Zuge keineswegs zuwider laufen. Gibt es
nun aber Richtungen, in denen sich die poetische Pro-
duktion frei bewegen kann, so gibt es andere, die durch
die große geistige Bewegung der letzten Menschenalter
überhaupt erst möglich geworden sind. So ist denn
namentlich und zunächst die Dorfgeschichte offenbar
geradezu das literarische Corollarium aus wissenschaft-
lichen Sätzen, die dem Menschen erst jetzt vollkommen
klar geworden sind, das Produkt von Anschauungen, die
einer früheren, einer kurz verflossenen Zeit nicht anders
als ferne seyn konnten.

Die Cultur mußte sich merkwürdig zugleich ver-
breitern und vertiefen, bis es die gebildete lesende Dame
ganz in der Ordnung fand, daß sich die Herzen hinter
Stallthüren und Heuschobern, zwischen Mistpfützen und
Melkkübeln gerade so anziehen und abstoßen, plagen
und beglücken, wie in Festsälen, hinter Theetischen und
in den lauschigen Boskets köstlicher Villen; bis Hans
und Grete der Tochter so heiße und so süße Thränen
entlockte wie der Mutter einst der Assessor und des Präsiden-
ten Tochter; bis zum Gefühl wurde, was der Verstand
begriff, daß beidemal das menschliche Geschick so gut eine
und dieselbe Substanz ist, wie das Thränenwasser.

Die Poesie hatte früher keineswegs eine Scheu, sich
wenigstens gelegentlich mit den niedern Schichten der
Gesellschaft zu befassen, aber sie that es in ihrer Weise
und nach ihrem Vermögen. Das Zeitalter der Auf-
klärung, des religiösen und socialen Rationalismus, des
aristokratischen Verstandes und des aufgeklärten Despo-
tismus hatte noch viel zu viel mit dem Menschen als
Masse zu thun, um für die geistigen und gesellschaft-
lichen Spielarten desselben ein scharfes Auge zu haben.
Es hatte den besten Willen, das Volk, nachdem dieses
seine Schuldigkeit gethan, zu beglücken, so weit es thun-
lich war; aber der sentimentale Philanthropismus ist
ein sehr schlechter Beobachter. Daß der Bauer ein
Mensch ist, unterlag keinem Zweifel, aber er war es
eben nur, wie es auch der Chinese ist, und von beider
Seyn und Wesen wußte man ungefähr gleich viel und
machte es sich gleich leicht, wenn man es zu schildern
unternahm. Von der Schäferpoesie soll gar nicht die
Rede seyn; dieses süße idyllische Hirtenvolk war nichts
als die dii minorum gentium, die Faunen und Nym-
phen des idealisirten, frisirten Gesellschaftsolymps. Aber
noch weit später hat alles, was der Dichter an Land-
und Bettelvolk, Zigeunern, Banditen u. dgl. vorführt,
etwas Gemachtes, Conventionelles, absichtlich Verkleidetes,
Theatermäßiges an sich. An der ausführlichen oder gelegent-
lichen heimischen ländlichen Scenerie, die der Roman
vorführt, bemerkt man nicht viel mehr Lokalfarbe und
Naturwahrheit, ja kaum mehr guten Willen dazu, als
[Spaltenumbruch] in den damals üblichen philosophischen Romanen, in
denen antike, arabische, indische oder indianische Zu-
stände kritischen und satirischen Absichten aller Art zur
Folie dienen mußten. Der Dichter, der sich zum Volk
herab ließ, konnte es nur fassen, indem er es zu sich
in höhere Sphären heraufzog; verzerrte er es dadurch,
wie er nicht anders konnte, so machte er den Schaden
dadurch gut, daß er die verzogenen Figuren überfirnißte.
Alles, was in der damaligen Literatur mehr oder we-
niger auf unsere Dorf= und Bauerngeschichte hinausläuft,
erinnert so an die wohlbekannten englischen colorirten
Kupferstiche aus dem vorigen Jahrhundert, auf denen
alle Gestalten gleich geleckt, frisch und rosig erscheinen,
ob sie in der Hütte oder im Palast wohnen.

Die realen Mißsarben der Landwirthschaft geradezu
auf die Palette zu setzen und ganz nach der Natur, und
wo möglich mit poetischem Gefühl so ein Bauernwesen
grau in grau und braun in braun zu malen -- das
konnte dem Dichter so wenig einfallen, als sein Pu-
blikum es ertragen hätte. Und jetzt erträgt man es
nicht nur, man verlangt es, aus keinem andern Grund,
als weil die Wissenschaft bei ihrem tieferen Studium
alles Menschlichen auch den dritten Stand angefaßt,
seinen Boden mit dem Begriff durchpflügt und zu poe-
tischer Ertragsfähigkeit aufgelockert hat.

Die Sprachwissenschaft hatte im Walde, in dem
sie nach alten Formen und Vocabeln botanisirte, aus
dem Volksliede und der Volkssage lange nicht viel mehr
gemacht als aus andern Gewächsen, die sie beroch und
betastete. Die wachsende wissenschaftliche und ästhetische
Cultur gab auf einmal Blick und Gefühl für den Werth
und die Bedeutung dieser duftenden Blüthen früheren
Volkslebens. Seitdem wird in der Literatur mit Be-
gierde diesen Schätzen nachgegraben, und hundert Kenner
und Liebhaber in allen Provinzen werden nicht müde,
auch die letzten gestammelten Laute alter Lieder und
Sagen von den Lippen des lebenden Volkes aufzufan-
gen. So bildete sich eine ganze Literatur, und durch diese
wurde das gebildete Publikum mit einer sehr natürlichen
und selbstverständlichen Vorstellung vertraut gemacht, die
ihm bisher sehr fern gelegen hatte. Jst nicht Kopf und
Herz des Volkes noch immer derselbe Boden, aus dem
einst so herrliche Blüthen der Poesie erwachsen sind,
daß ihr Duft noch heute die Würze des vertrockneten
Lebens ist? Dichtet doch die heutige Ritterschaft auch
keine Nibelungen mehr und will doch ungefähr aus
demselben Zeuge seyn wie die alte. Sind aber in der
Brust des Volkes noch immer die alten Saiten aufge-
spannt, so darf nur der freie Himmelshauch hinein-
fahren, von dem man nicht meiß, von wannen er kommt
und wohin er geht, und will er nicht kommen, so ist
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] geistigen Zuge keineswegs zuwider laufen. Gibt es
nun aber Richtungen, in denen sich die poetische Pro-
duktion frei bewegen kann, so gibt es andere, die durch
die große geistige Bewegung der letzten Menschenalter
überhaupt erst möglich geworden sind. So ist denn
namentlich und zunächst die Dorfgeschichte offenbar
geradezu das literarische Corollarium aus wissenschaft-
lichen Sätzen, die dem Menschen erst jetzt vollkommen
klar geworden sind, das Produkt von Anschauungen, die
einer früheren, einer kurz verflossenen Zeit nicht anders
als ferne seyn konnten.

Die Cultur mußte sich merkwürdig zugleich ver-
breitern und vertiefen, bis es die gebildete lesende Dame
ganz in der Ordnung fand, daß sich die Herzen hinter
Stallthüren und Heuschobern, zwischen Mistpfützen und
Melkkübeln gerade so anziehen und abstoßen, plagen
und beglücken, wie in Festsälen, hinter Theetischen und
in den lauschigen Boskets köstlicher Villen; bis Hans
und Grete der Tochter so heiße und so süße Thränen
entlockte wie der Mutter einst der Assessor und des Präsiden-
ten Tochter; bis zum Gefühl wurde, was der Verstand
begriff, daß beidemal das menschliche Geschick so gut eine
und dieselbe Substanz ist, wie das Thränenwasser.

Die Poesie hatte früher keineswegs eine Scheu, sich
wenigstens gelegentlich mit den niedern Schichten der
Gesellschaft zu befassen, aber sie that es in ihrer Weise
und nach ihrem Vermögen. Das Zeitalter der Auf-
klärung, des religiösen und socialen Rationalismus, des
aristokratischen Verstandes und des aufgeklärten Despo-
tismus hatte noch viel zu viel mit dem Menschen als
Masse zu thun, um für die geistigen und gesellschaft-
lichen Spielarten desselben ein scharfes Auge zu haben.
Es hatte den besten Willen, das Volk, nachdem dieses
seine Schuldigkeit gethan, zu beglücken, so weit es thun-
lich war; aber der sentimentale Philanthropismus ist
ein sehr schlechter Beobachter. Daß der Bauer ein
Mensch ist, unterlag keinem Zweifel, aber er war es
eben nur, wie es auch der Chinese ist, und von beider
Seyn und Wesen wußte man ungefähr gleich viel und
machte es sich gleich leicht, wenn man es zu schildern
unternahm. Von der Schäferpoesie soll gar nicht die
Rede seyn; dieses süße idyllische Hirtenvolk war nichts
als die dii minorum gentium, die Faunen und Nym-
phen des idealisirten, frisirten Gesellschaftsolymps. Aber
noch weit später hat alles, was der Dichter an Land-
und Bettelvolk, Zigeunern, Banditen u. dgl. vorführt,
etwas Gemachtes, Conventionelles, absichtlich Verkleidetes,
Theatermäßiges an sich. An der ausführlichen oder gelegent-
lichen heimischen ländlichen Scenerie, die der Roman
vorführt, bemerkt man nicht viel mehr Lokalfarbe und
Naturwahrheit, ja kaum mehr guten Willen dazu, als
[Spaltenumbruch] in den damals üblichen philosophischen Romanen, in
denen antike, arabische, indische oder indianische Zu-
stände kritischen und satirischen Absichten aller Art zur
Folie dienen mußten. Der Dichter, der sich zum Volk
herab ließ, konnte es nur fassen, indem er es zu sich
in höhere Sphären heraufzog; verzerrte er es dadurch,
wie er nicht anders konnte, so machte er den Schaden
dadurch gut, daß er die verzogenen Figuren überfirnißte.
Alles, was in der damaligen Literatur mehr oder we-
niger auf unsere Dorf= und Bauerngeschichte hinausläuft,
erinnert so an die wohlbekannten englischen colorirten
Kupferstiche aus dem vorigen Jahrhundert, auf denen
alle Gestalten gleich geleckt, frisch und rosig erscheinen,
ob sie in der Hütte oder im Palast wohnen.

Die realen Mißsarben der Landwirthschaft geradezu
auf die Palette zu setzen und ganz nach der Natur, und
wo möglich mit poetischem Gefühl so ein Bauernwesen
grau in grau und braun in braun zu malen — das
konnte dem Dichter so wenig einfallen, als sein Pu-
blikum es ertragen hätte. Und jetzt erträgt man es
nicht nur, man verlangt es, aus keinem andern Grund,
als weil die Wissenschaft bei ihrem tieferen Studium
alles Menschlichen auch den dritten Stand angefaßt,
seinen Boden mit dem Begriff durchpflügt und zu poe-
tischer Ertragsfähigkeit aufgelockert hat.

Die Sprachwissenschaft hatte im Walde, in dem
sie nach alten Formen und Vocabeln botanisirte, aus
dem Volksliede und der Volkssage lange nicht viel mehr
gemacht als aus andern Gewächsen, die sie beroch und
betastete. Die wachsende wissenschaftliche und ästhetische
Cultur gab auf einmal Blick und Gefühl für den Werth
und die Bedeutung dieser duftenden Blüthen früheren
Volkslebens. Seitdem wird in der Literatur mit Be-
gierde diesen Schätzen nachgegraben, und hundert Kenner
und Liebhaber in allen Provinzen werden nicht müde,
auch die letzten gestammelten Laute alter Lieder und
Sagen von den Lippen des lebenden Volkes aufzufan-
gen. So bildete sich eine ganze Literatur, und durch diese
wurde das gebildete Publikum mit einer sehr natürlichen
und selbstverständlichen Vorstellung vertraut gemacht, die
ihm bisher sehr fern gelegen hatte. Jst nicht Kopf und
Herz des Volkes noch immer derselbe Boden, aus dem
einst so herrliche Blüthen der Poesie erwachsen sind,
daß ihr Duft noch heute die Würze des vertrockneten
Lebens ist? Dichtet doch die heutige Ritterschaft auch
keine Nibelungen mehr und will doch ungefähr aus
demselben Zeuge seyn wie die alte. Sind aber in der
Brust des Volkes noch immer die alten Saiten aufge-
spannt, so darf nur der freie Himmelshauch hinein-
fahren, von dem man nicht meiß, von wannen er kommt
und wohin er geht, und will er nicht kommen, so ist
[Ende Spaltensatz]

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Das Zeitalter der Auf- klärung, des religiösen und socialen Rationalismus, des aristokratischen Verstandes und des aufgeklärten Despo- tismus hatte noch viel zu viel mit dem Menschen als Masse zu thun, um für die geistigen und gesellschaft- lichen Spielarten desselben ein scharfes Auge zu haben. Es hatte den besten Willen, das Volk, nachdem dieses seine Schuldigkeit gethan, zu beglücken, so weit es thun- lich war; aber der sentimentale Philanthropismus ist ein sehr schlechter Beobachter. Daß der Bauer ein Mensch ist, unterlag keinem Zweifel, aber er war es eben nur, wie es auch der Chinese ist, und von beider Seyn und Wesen wußte man ungefähr gleich viel und machte es sich gleich leicht, wenn man es zu schildern unternahm. Von der Schäferpoesie soll gar nicht die Rede seyn; dieses süße idyllische Hirtenvolk war nichts als die dii minorum gentium, die Faunen und Nym- phen des idealisirten, frisirten Gesellschaftsolymps. 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Alles, was in der damaligen Literatur mehr oder we- niger auf unsere Dorf= und Bauerngeschichte hinausläuft, erinnert so an die wohlbekannten englischen colorirten Kupferstiche aus dem vorigen Jahrhundert, auf denen alle Gestalten gleich geleckt, frisch und rosig erscheinen, ob sie in der Hütte oder im Palast wohnen. Die realen Mißsarben der Landwirthschaft geradezu auf die Palette zu setzen und ganz nach der Natur, und wo möglich mit poetischem Gefühl so ein Bauernwesen grau in grau und braun in braun zu malen — das konnte dem Dichter so wenig einfallen, als sein Pu- blikum es ertragen hätte. Und jetzt erträgt man es nicht nur, man verlangt es, aus keinem andern Grund, als weil die Wissenschaft bei ihrem tieferen Studium alles Menschlichen auch den dritten Stand angefaßt, seinen Boden mit dem Begriff durchpflügt und zu poe- tischer Ertragsfähigkeit aufgelockert hat. Die Sprachwissenschaft hatte im Walde, in dem sie nach alten Formen und Vocabeln botanisirte, aus dem Volksliede und der Volkssage lange nicht viel mehr gemacht als aus andern Gewächsen, die sie beroch und betastete. Die wachsende wissenschaftliche und ästhetische Cultur gab auf einmal Blick und Gefühl für den Werth und die Bedeutung dieser duftenden Blüthen früheren Volkslebens. Seitdem wird in der Literatur mit Be- gierde diesen Schätzen nachgegraben, und hundert Kenner und Liebhaber in allen Provinzen werden nicht müde, auch die letzten gestammelten Laute alter Lieder und Sagen von den Lippen des lebenden Volkes aufzufan- gen. So bildete sich eine ganze Literatur, und durch diese wurde das gebildete Publikum mit einer sehr natürlichen und selbstverständlichen Vorstellung vertraut gemacht, die ihm bisher sehr fern gelegen hatte. Jst nicht Kopf und Herz des Volkes noch immer derselbe Boden, aus dem einst so herrliche Blüthen der Poesie erwachsen sind, daß ihr Duft noch heute die Würze des vertrockneten Lebens ist? Dichtet doch die heutige Ritterschaft auch keine Nibelungen mehr und will doch ungefähr aus demselben Zeuge seyn wie die alte. Sind aber in der Brust des Volkes noch immer die alten Saiten aufge- spannt, so darf nur der freie Himmelshauch hinein- fahren, von dem man nicht meiß, von wannen er kommt und wohin er geht, und will er nicht kommen, so ist

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Zitationshilfe: Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 48. Stuttgart/Tübingen, 30. November 1856, S. 1132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_morgenblatt48_1856/4>, abgerufen am 03.12.2024.