Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Das wohlfeilste Panorama des Universums. Nr. 52. Prag, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Panorama des Universums.
[Beginn Spaltensatz]
Die Kathedrale von Amiens.

Amiens, eine volkreiche Stadt in Frankreich,
ist die Hauptstadt der ehemaligen Pikardie und ge-
genwärtig des Departements der Somme, am Fluße
gleiches Namens gelegen. Die Stadt ist sehr alt;
schon zu Cäsars Zeiten hat sie den Fortschritten
der römischen Waffen bedeutenden Widerstand ent-
gegengestellt, auch wird sie schon damals als einer
der Orte in Gallien bezeichnet, wo gute Waffen
verfertigt werden. Man rechnet sie gegenwärtig zu
den befestigten Orten dritten Ranges. Die Einwoh-
ner treiben bedeutenden Handel mit Linnen, Kotto-
nen und Sammten, die in der Nachbarschaft verfer-
tiget werden. Die Stadt ist ziemlich gut gebaut,
sie hat verschiedene regelmäßige Plätze und einige
merkwürdige öffentliche Gebäude; das Hauptgebäude
jedoch, dessen sie sich besonders rühmt, ist ihre gothi-
sche Kathedrale.

Die erste Kirche, die man eine Kathedrale von
Amiens nennen konnte, wurde in der Mitte des
vierten Jahrhunderts unter der Regierung des rö-
mischen Kaisers Grazian errichtet. Der Ort, auf
welchem sie stund, war ein Theil des Grundes,
welcher von seinem Besitzer zum Begräbnißplatze für
die gefallenen Opfer des Christenthums geweiht
wurde, worunter sich auch der Leib des heiligen Fir-
min,
ersten Bischofs von Amiens befand, der im
Jahre 303 eines Martyrtodes starb.

Es scheint, daß im Verlaufe der Zeit der Ort
ganz unbekannt wurde, wo die Ueberreste dieses
heiligen Martyrers ruhten; denn schon zu Anfange
des siebenten Jahrhunderts ließ der damalige Bi-
schof Nachsuchungen anstellen, und die Auffindung
derselben wird noch in der Legende erhalten, wor-
nach sich bei dieser Gelegenheit mehrere Wunder
ereignet haben sollen. Ein übernatürlicher Lichtstrahl
soll nämlich die Suchenden zu der bestimmten Stelle
geleitet haben; angenehme Düfte verbreiteten sich
in der Luft; die Siechen gesundeten; der Schnee,
welcher den Boden bedeckte, zerschmolz und an seiner
Stelle erblühte plötzlich das herrlichste Frühlings-
grün.

Der Ruf dieser Wunder verbreitete sich schnell
in der Umgegend, und der Erfolg war natürlich
nicht ohne Bedeutung. Man strömte in Haufen her-
bei, um dem Heiligen seine Verehrung zu bezeigen,
und die Geschenke, welche von den Gläubigen dar-
gebracht wurden, waren so zahlreich, daß man be-
schloß, eine neue Kirche zu erbauen, welche dem
heiligen Firmin gewidmet und an derselben Stelle
errichtet werden sollte, wo er den Martyrertod
erduldet hatte.

Diese zweite Kathedrale, welche größtentheils
von Holz erbaut war, wurde schon im Jahre
881 von den Normannen verbrannt, hernach wie-
der aufgebaut und mehrere Male erneuert. End-
lich wurde sie im Jahre 1218 gänzlich vom Blitze
zerstört, wobei zugleich auch das Archiv des Bis-
thums mit zu Grunde ging. Zwei Jahre lang wurde
kein Versuch gemacht sie wieder herzustellen; bis
endlich die Nothwendigkeit einen angemessenen Ort
für den Leib des heiligen Firmin erheischte, so
wie auch noch für eine andere Reliquie, das angeb-
liche Haupt des heiligen Johann des Täufers,
welches nicht lange zuvor aus Konstantinopel
von einem Edelmanne aus der Pikardie mitgebracht
worden war, der sich mit unter den Kreuzfahrern
[Spaltenumbruch] befunden, welche im Jahre 1204 jene Stadt mit
Sturm eroberten. Der damalige Bischof Eberhard
forderte daher das Volk zu Beiträgen für diesen
Zweck auf, welche auch so reichlich einfloßen, daß
der Baumeister Robert de Lusarches noch in
demselben Jahre den Grundstein zu dem Gebäude
legen konnte. Jedoch weder er selbst noch der Bi-
schoff erlebten die Beendigung des begonnenen Wer-
kes; denn erst nach einem Zeitraume von 68 Jah-
ren wurde das Gebäude vollendet, und mit wenigen
Veränderungen ist dieß dasselbe Gebäude, welches
noch heut zu Tage besteht.

Das Aeußere dieser Kathedrale hat nicht so viel
Außerordentliches, wie manches andere Gebäude dieser
Art; die westliche Hauptfronte, welche genau auf
unserem Bilde dargestellt ist, ist jedoch sehr reich
ausgeschmückt und hat viele Aehnlichkeit mit der
Notre-Dame zu Paris. Die Thürme, die von
ungleicher Höhe sind, indem der südliche niedriger
ist als der westliche, sollen erst hundert Jahre spä-
ter, als das Hauptgebäude aufgesetzt und deßhalb
von verschiedener Höhe errichtet worden seyn, weil
nach einer damaligen Verordnung nur bloß Kathe-
dralen, die zum Sitze eines Erzbischofes und jene,
die zu gewissen Kollegiatstiften oder zu Abteien von
königlichen Stiftungen gehörten, Thürme von glei-
cher Höhe haben sollten. Jn der Türkei zwar ist
das Privilegium mehr als einen Thurm zu haben,
lediglich auf die kaiserlichen Moscheen beschränkt; ob
aber auch je eine Verordnung der Art über den
Bau christlicher Kirchen bestanden, muß sehr bezwei-
felt werden.

Das Jnnere dieser Kathedrale ist äußerst pracht-
voll, und es gibt wenige Kirchen, die mit einer
solchen Größe zugleich so viel Pracht vereinen.

Bei anderen und besonders bei englischen Kir-
chen wird meistens das Auge nur auf einen einzigen
Punkt geleitet und der Haupteffekt liegt nur längs
dieser Richtung hin. Hier jedoch scheint der Blick
nach allen Richtungen hinzudringen, wodurch er eine
Menge von Ansichten gewinnt, die zwar dem Haupt-
effekte untergeordnet, jedoch insgesammt sehr schön
sind, und für den Beschauer durch die verschiedene
Stellung der einzelnen Theile die größte Mannig-
faltigkeit darbieten. Wenn man sich im Schiffe der
Kirche befindet, da wo das Kreuz sich durchschneidet,
wird der Blick besonders durch zwei Fensterrosen
gefesselt, die sich an den beiden Seitenflügeln befinden.
Man kann sich nicht leicht einen Begriff von der
Schönheit dieser Fenster machen. Die glänzenden
Farben des Glases, die unter der reichen Verklei-
dung hervorschimmern, zeigen eine Pracht, die nicht
leicht irgendwo gefunden wird. Die Rose gen We-
sten bildet zugleich inwendig ein Zifferblatt, dessen
Ziffern mehr als 7 Fuß lang sind, und der Zeiger
daran bewegt sich in einer Minute fast ein und einen
halben Zoll weit.

Die Kirche ist in Form eines lateinischen Kreu-
zes gebaut; ihre ganze Länge beträgt 442 Fuß die
größte Breite 104 und die Höhe des Schiffes bis
zur Kuppel 140 Fuß.

Eine der merkwürdigsten Eigenheiten des Schif-
fes bildet die schöne Reihe von Seitenkapellen, wel-
che sich um dasselbe herumziehen; sie wurden erst
später als das Hauptgebäude errichtet, und man
schreibt ihre Entstehung einem ganz besonderen Um-
stande zu. Jm Jahre 1244 soll nämlich Gottfried
von Milly, Gerichtspräsident von Amiens, fünf
[Ende Spaltensatz]

Panorama des Universums.
[Beginn Spaltensatz]
Die Kathedrale von Amiens.

Amiens, eine volkreiche Stadt in Frankreich,
ist die Hauptstadt der ehemaligen Pikardie und ge-
genwärtig des Departements der Somme, am Fluße
gleiches Namens gelegen. Die Stadt ist sehr alt;
schon zu Cäsars Zeiten hat sie den Fortschritten
der römischen Waffen bedeutenden Widerstand ent-
gegengestellt, auch wird sie schon damals als einer
der Orte in Gallien bezeichnet, wo gute Waffen
verfertigt werden. Man rechnet sie gegenwärtig zu
den befestigten Orten dritten Ranges. Die Einwoh-
ner treiben bedeutenden Handel mit Linnen, Kotto-
nen und Sammten, die in der Nachbarschaft verfer-
tiget werden. Die Stadt ist ziemlich gut gebaut,
sie hat verschiedene regelmäßige Plätze und einige
merkwürdige öffentliche Gebäude; das Hauptgebäude
jedoch, dessen sie sich besonders rühmt, ist ihre gothi-
sche Kathedrale.

Die erste Kirche, die man eine Kathedrale von
Amiens nennen konnte, wurde in der Mitte des
vierten Jahrhunderts unter der Regierung des rö-
mischen Kaisers Grazian errichtet. Der Ort, auf
welchem sie stund, war ein Theil des Grundes,
welcher von seinem Besitzer zum Begräbnißplatze für
die gefallenen Opfer des Christenthums geweiht
wurde, worunter sich auch der Leib des heiligen Fir-
min,
ersten Bischofs von Amiens befand, der im
Jahre 303 eines Martyrtodes starb.

Es scheint, daß im Verlaufe der Zeit der Ort
ganz unbekannt wurde, wo die Ueberreste dieses
heiligen Martyrers ruhten; denn schon zu Anfange
des siebenten Jahrhunderts ließ der damalige Bi-
schof Nachsuchungen anstellen, und die Auffindung
derselben wird noch in der Legende erhalten, wor-
nach sich bei dieser Gelegenheit mehrere Wunder
ereignet haben sollen. Ein übernatürlicher Lichtstrahl
soll nämlich die Suchenden zu der bestimmten Stelle
geleitet haben; angenehme Düfte verbreiteten sich
in der Luft; die Siechen gesundeten; der Schnee,
welcher den Boden bedeckte, zerschmolz und an seiner
Stelle erblühte plötzlich das herrlichste Frühlings-
grün.

Der Ruf dieser Wunder verbreitete sich schnell
in der Umgegend, und der Erfolg war natürlich
nicht ohne Bedeutung. Man strömte in Haufen her-
bei, um dem Heiligen seine Verehrung zu bezeigen,
und die Geschenke, welche von den Gläubigen dar-
gebracht wurden, waren so zahlreich, daß man be-
schloß, eine neue Kirche zu erbauen, welche dem
heiligen Firmin gewidmet und an derselben Stelle
errichtet werden sollte, wo er den Martyrertod
erduldet hatte.

Diese zweite Kathedrale, welche größtentheils
von Holz erbaut war, wurde schon im Jahre
881 von den Normannen verbrannt, hernach wie-
der aufgebaut und mehrere Male erneuert. End-
lich wurde sie im Jahre 1218 gänzlich vom Blitze
zerstört, wobei zugleich auch das Archiv des Bis-
thums mit zu Grunde ging. Zwei Jahre lang wurde
kein Versuch gemacht sie wieder herzustellen; bis
endlich die Nothwendigkeit einen angemessenen Ort
für den Leib des heiligen Firmin erheischte, so
wie auch noch für eine andere Reliquie, das angeb-
liche Haupt des heiligen Johann des Täufers,
welches nicht lange zuvor aus Konstantinopel
von einem Edelmanne aus der Pikardie mitgebracht
worden war, der sich mit unter den Kreuzfahrern
[Spaltenumbruch] befunden, welche im Jahre 1204 jene Stadt mit
Sturm eroberten. Der damalige Bischof Eberhard
forderte daher das Volk zu Beiträgen für diesen
Zweck auf, welche auch so reichlich einfloßen, daß
der Baumeister Robert de Lusarches noch in
demselben Jahre den Grundstein zu dem Gebäude
legen konnte. Jedoch weder er selbst noch der Bi-
schoff erlebten die Beendigung des begonnenen Wer-
kes; denn erst nach einem Zeitraume von 68 Jah-
ren wurde das Gebäude vollendet, und mit wenigen
Veränderungen ist dieß dasselbe Gebäude, welches
noch heut zu Tage besteht.

Das Aeußere dieser Kathedrale hat nicht so viel
Außerordentliches, wie manches andere Gebäude dieser
Art; die westliche Hauptfronte, welche genau auf
unserem Bilde dargestellt ist, ist jedoch sehr reich
ausgeschmückt und hat viele Aehnlichkeit mit der
Notre-Dame zu Paris. Die Thürme, die von
ungleicher Höhe sind, indem der südliche niedriger
ist als der westliche, sollen erst hundert Jahre spä-
ter, als das Hauptgebäude aufgesetzt und deßhalb
von verschiedener Höhe errichtet worden seyn, weil
nach einer damaligen Verordnung nur bloß Kathe-
dralen, die zum Sitze eines Erzbischofes und jene,
die zu gewissen Kollegiatstiften oder zu Abteien von
königlichen Stiftungen gehörten, Thürme von glei-
cher Höhe haben sollten. Jn der Türkei zwar ist
das Privilegium mehr als einen Thurm zu haben,
lediglich auf die kaiserlichen Moscheen beschränkt; ob
aber auch je eine Verordnung der Art über den
Bau christlicher Kirchen bestanden, muß sehr bezwei-
felt werden.

Das Jnnere dieser Kathedrale ist äußerst pracht-
voll, und es gibt wenige Kirchen, die mit einer
solchen Größe zugleich so viel Pracht vereinen.

Bei anderen und besonders bei englischen Kir-
chen wird meistens das Auge nur auf einen einzigen
Punkt geleitet und der Haupteffekt liegt nur längs
dieser Richtung hin. Hier jedoch scheint der Blick
nach allen Richtungen hinzudringen, wodurch er eine
Menge von Ansichten gewinnt, die zwar dem Haupt-
effekte untergeordnet, jedoch insgesammt sehr schön
sind, und für den Beschauer durch die verschiedene
Stellung der einzelnen Theile die größte Mannig-
faltigkeit darbieten. Wenn man sich im Schiffe der
Kirche befindet, da wo das Kreuz sich durchschneidet,
wird der Blick besonders durch zwei Fensterrosen
gefesselt, die sich an den beiden Seitenflügeln befinden.
Man kann sich nicht leicht einen Begriff von der
Schönheit dieser Fenster machen. Die glänzenden
Farben des Glases, die unter der reichen Verklei-
dung hervorschimmern, zeigen eine Pracht, die nicht
leicht irgendwo gefunden wird. Die Rose gen We-
sten bildet zugleich inwendig ein Zifferblatt, dessen
Ziffern mehr als 7 Fuß lang sind, und der Zeiger
daran bewegt sich in einer Minute fast ein und einen
halben Zoll weit.

Die Kirche ist in Form eines lateinischen Kreu-
zes gebaut; ihre ganze Länge beträgt 442 Fuß die
größte Breite 104 und die Höhe des Schiffes bis
zur Kuppel 140 Fuß.

Eine der merkwürdigsten Eigenheiten des Schif-
fes bildet die schöne Reihe von Seitenkapellen, wel-
che sich um dasselbe herumziehen; sie wurden erst
später als das Hauptgebäude errichtet, und man
schreibt ihre Entstehung einem ganz besonderen Um-
stande zu. Jm Jahre 1244 soll nämlich Gottfried
von Milly, Gerichtspräsident von Amiens, fünf
[Ende Spaltensatz]

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="jArticle" n="1">
        <pb facs="#f0002" n="410"/>
        <fw type="header" place="top"> <hi rendition="#g">Panorama des Universums.</hi> </fw>
        <cb type="start"/>
        <head> <hi rendition="#fr">Die Kathedrale von Amiens.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#g">Amiens,</hi> eine volkreiche Stadt in Frankreich,<lb/>
ist die Hauptstadt der ehemaligen Pikardie und ge-<lb/>
genwärtig des Departements der Somme, am Fluße<lb/>
gleiches Namens gelegen. Die Stadt ist sehr alt;<lb/>
schon zu <hi rendition="#g">Cäsars</hi> Zeiten hat sie den Fortschritten<lb/>
der römischen Waffen bedeutenden Widerstand ent-<lb/>
gegengestellt, auch wird sie schon damals als einer<lb/>
der Orte in Gallien bezeichnet, wo gute Waffen<lb/>
verfertigt werden. Man rechnet sie gegenwärtig zu<lb/>
den befestigten Orten dritten Ranges. Die Einwoh-<lb/>
ner treiben bedeutenden Handel mit Linnen, Kotto-<lb/>
nen und Sammten, die in der Nachbarschaft verfer-<lb/>
tiget werden. Die Stadt ist ziemlich gut gebaut,<lb/>
sie hat verschiedene regelmäßige Plätze und einige<lb/>
merkwürdige öffentliche Gebäude; das Hauptgebäude<lb/>
jedoch, dessen sie sich besonders rühmt, ist ihre gothi-<lb/>
sche Kathedrale.</p><lb/>
        <p>Die erste Kirche, die man eine Kathedrale von<lb/><hi rendition="#g">Amiens</hi> nennen konnte, wurde in der Mitte des<lb/>
vierten Jahrhunderts unter der Regierung des rö-<lb/>
mischen Kaisers <hi rendition="#g">Grazian</hi> errichtet. Der Ort, auf<lb/>
welchem sie stund, war ein Theil des Grundes,<lb/>
welcher von seinem Besitzer zum Begräbnißplatze für<lb/>
die gefallenen Opfer des Christenthums geweiht<lb/>
wurde, worunter sich auch der Leib des heiligen <hi rendition="#g">Fir-<lb/>
min,</hi> ersten Bischofs von <hi rendition="#g">Amiens</hi> befand, der im<lb/>
Jahre 303 eines Martyrtodes starb.</p><lb/>
        <p>Es scheint, daß im Verlaufe der Zeit der Ort<lb/>
ganz unbekannt wurde, wo die Ueberreste dieses<lb/>
heiligen Martyrers ruhten; denn schon zu Anfange<lb/>
des siebenten Jahrhunderts ließ der damalige Bi-<lb/>
schof Nachsuchungen anstellen, und die Auffindung<lb/>
derselben wird noch in der Legende erhalten, wor-<lb/>
nach sich bei dieser Gelegenheit mehrere Wunder<lb/>
ereignet haben sollen. Ein übernatürlicher Lichtstrahl<lb/>
soll nämlich die Suchenden zu der bestimmten Stelle<lb/>
geleitet haben; angenehme Düfte verbreiteten sich<lb/>
in der Luft; die Siechen gesundeten; der Schnee,<lb/>
welcher den Boden bedeckte, zerschmolz und an seiner<lb/>
Stelle erblühte plötzlich das herrlichste Frühlings-<lb/>
grün.</p><lb/>
        <p>Der Ruf dieser Wunder verbreitete sich schnell<lb/>
in der Umgegend, und der Erfolg war natürlich<lb/>
nicht ohne Bedeutung. Man strömte in Haufen her-<lb/>
bei, um dem Heiligen seine Verehrung zu bezeigen,<lb/>
und die Geschenke, welche von den Gläubigen dar-<lb/>
gebracht wurden, waren so zahlreich, daß man be-<lb/>
schloß, eine neue Kirche zu erbauen, welche dem<lb/>
heiligen <hi rendition="#g">Firmin</hi> gewidmet und an derselben Stelle<lb/>
errichtet werden sollte, wo er den Martyrertod<lb/>
erduldet hatte.</p><lb/>
        <p>Diese zweite Kathedrale, welche größtentheils<lb/>
von Holz erbaut war, wurde schon im Jahre<lb/>
881 von den Normannen verbrannt, hernach wie-<lb/>
der aufgebaut und mehrere Male erneuert. End-<lb/>
lich wurde sie im Jahre 1218 gänzlich vom Blitze<lb/>
zerstört, wobei zugleich auch das Archiv des Bis-<lb/>
thums mit zu Grunde ging. Zwei Jahre lang wurde<lb/>
kein Versuch gemacht sie wieder herzustellen; bis<lb/>
endlich die Nothwendigkeit einen angemessenen Ort<lb/>
für den Leib des heiligen <hi rendition="#g">Firmin</hi> erheischte, so<lb/>
wie auch noch für eine andere Reliquie, das angeb-<lb/>
liche Haupt des heiligen <hi rendition="#g">Johann</hi> des Täufers,<lb/>
welches nicht lange zuvor aus <hi rendition="#g">Konstantinopel</hi><lb/>
von einem Edelmanne aus der Pikardie mitgebracht<lb/>
worden war, der sich mit unter den Kreuzfahrern<lb/><cb n="2"/>
befunden, welche im Jahre 1204 jene Stadt mit<lb/>
Sturm eroberten. Der damalige Bischof <hi rendition="#g">Eberhard</hi><lb/>
forderte daher das Volk zu Beiträgen für diesen<lb/>
Zweck auf, welche auch so reichlich einfloßen, daß<lb/>
der Baumeister <hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Robert</hi> de <hi rendition="#g">Lusarches</hi></hi> noch in<lb/>
demselben Jahre den Grundstein zu dem Gebäude<lb/>
legen konnte. Jedoch weder er selbst noch der Bi-<lb/>
schoff erlebten die Beendigung des begonnenen Wer-<lb/>
kes; denn erst nach einem Zeitraume von 68 Jah-<lb/>
ren wurde das Gebäude vollendet, und mit wenigen<lb/>
Veränderungen ist dieß dasselbe Gebäude, welches<lb/>
noch heut zu Tage besteht.</p><lb/>
        <p>Das Aeußere dieser Kathedrale hat nicht so viel<lb/>
Außerordentliches, wie manches andere Gebäude dieser<lb/>
Art; die westliche Hauptfronte, welche genau auf<lb/>
unserem Bilde dargestellt ist, ist jedoch sehr reich<lb/>
ausgeschmückt und hat viele Aehnlichkeit mit der<lb/><hi rendition="#aq">Notre-Dame</hi> zu <hi rendition="#g">Paris.</hi> Die Thürme, die von<lb/>
ungleicher Höhe sind, indem der südliche niedriger<lb/>
ist als der westliche, sollen erst hundert Jahre spä-<lb/>
ter, als das Hauptgebäude aufgesetzt und deßhalb<lb/>
von verschiedener Höhe errichtet worden seyn, weil<lb/>
nach einer damaligen Verordnung nur bloß Kathe-<lb/>
dralen, die zum Sitze eines Erzbischofes und jene,<lb/>
die zu gewissen Kollegiatstiften oder zu Abteien von<lb/>
königlichen Stiftungen gehörten, Thürme von glei-<lb/>
cher Höhe haben sollten. Jn der Türkei zwar ist<lb/>
das Privilegium mehr als einen Thurm zu haben,<lb/>
lediglich auf die kaiserlichen Moscheen beschränkt; ob<lb/>
aber auch je eine Verordnung der Art über den<lb/>
Bau christlicher Kirchen bestanden, muß sehr bezwei-<lb/>
felt werden.</p><lb/>
        <p>Das Jnnere dieser Kathedrale ist äußerst pracht-<lb/>
voll, und es gibt wenige Kirchen, die mit einer<lb/>
solchen Größe zugleich so viel Pracht vereinen.</p><lb/>
        <p>Bei anderen und besonders bei englischen Kir-<lb/>
chen wird meistens das Auge nur auf einen einzigen<lb/>
Punkt geleitet und der Haupteffekt liegt nur längs<lb/>
dieser Richtung hin. Hier jedoch scheint der Blick<lb/>
nach allen Richtungen hinzudringen, wodurch er eine<lb/>
Menge von Ansichten gewinnt, die zwar dem Haupt-<lb/>
effekte untergeordnet, jedoch insgesammt sehr schön<lb/>
sind, und für den Beschauer durch die verschiedene<lb/>
Stellung der einzelnen Theile die größte Mannig-<lb/>
faltigkeit darbieten. Wenn man sich im Schiffe der<lb/>
Kirche befindet, da wo das Kreuz sich durchschneidet,<lb/>
wird der Blick besonders durch zwei Fensterrosen<lb/>
gefesselt, die sich an den beiden Seitenflügeln befinden.<lb/>
Man kann sich nicht leicht einen Begriff von der<lb/>
Schönheit dieser Fenster machen. Die glänzenden<lb/>
Farben des Glases, die unter der reichen Verklei-<lb/>
dung hervorschimmern, zeigen eine Pracht, die nicht<lb/>
leicht irgendwo gefunden wird. Die Rose gen We-<lb/>
sten bildet zugleich inwendig ein Zifferblatt, dessen<lb/>
Ziffern mehr als 7 Fuß lang sind, und der Zeiger<lb/>
daran bewegt sich in einer Minute fast ein und einen<lb/>
halben Zoll weit.</p><lb/>
        <p>Die Kirche ist in Form eines lateinischen Kreu-<lb/>
zes gebaut; ihre ganze Länge beträgt 442 Fuß die<lb/>
größte Breite 104 und die Höhe des Schiffes bis<lb/>
zur Kuppel 140 Fuß.</p><lb/>
        <p>Eine der merkwürdigsten Eigenheiten des Schif-<lb/>
fes bildet die schöne Reihe von Seitenkapellen, wel-<lb/>
che sich um dasselbe herumziehen; sie wurden erst<lb/>
später als das Hauptgebäude errichtet, und man<lb/>
schreibt ihre Entstehung einem ganz besonderen Um-<lb/>
stande zu. Jm Jahre 1244 soll nämlich <hi rendition="#g">Gottfried</hi><lb/>
von <hi rendition="#g">Milly,</hi> Gerichtspräsident von <hi rendition="#g">Amiens,</hi> fünf<lb/><cb type="end"/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[410/0002] Panorama des Universums. Die Kathedrale von Amiens. Amiens, eine volkreiche Stadt in Frankreich, ist die Hauptstadt der ehemaligen Pikardie und ge- genwärtig des Departements der Somme, am Fluße gleiches Namens gelegen. Die Stadt ist sehr alt; schon zu Cäsars Zeiten hat sie den Fortschritten der römischen Waffen bedeutenden Widerstand ent- gegengestellt, auch wird sie schon damals als einer der Orte in Gallien bezeichnet, wo gute Waffen verfertigt werden. Man rechnet sie gegenwärtig zu den befestigten Orten dritten Ranges. Die Einwoh- ner treiben bedeutenden Handel mit Linnen, Kotto- nen und Sammten, die in der Nachbarschaft verfer- tiget werden. Die Stadt ist ziemlich gut gebaut, sie hat verschiedene regelmäßige Plätze und einige merkwürdige öffentliche Gebäude; das Hauptgebäude jedoch, dessen sie sich besonders rühmt, ist ihre gothi- sche Kathedrale. Die erste Kirche, die man eine Kathedrale von Amiens nennen konnte, wurde in der Mitte des vierten Jahrhunderts unter der Regierung des rö- mischen Kaisers Grazian errichtet. Der Ort, auf welchem sie stund, war ein Theil des Grundes, welcher von seinem Besitzer zum Begräbnißplatze für die gefallenen Opfer des Christenthums geweiht wurde, worunter sich auch der Leib des heiligen Fir- min, ersten Bischofs von Amiens befand, der im Jahre 303 eines Martyrtodes starb. Es scheint, daß im Verlaufe der Zeit der Ort ganz unbekannt wurde, wo die Ueberreste dieses heiligen Martyrers ruhten; denn schon zu Anfange des siebenten Jahrhunderts ließ der damalige Bi- schof Nachsuchungen anstellen, und die Auffindung derselben wird noch in der Legende erhalten, wor- nach sich bei dieser Gelegenheit mehrere Wunder ereignet haben sollen. Ein übernatürlicher Lichtstrahl soll nämlich die Suchenden zu der bestimmten Stelle geleitet haben; angenehme Düfte verbreiteten sich in der Luft; die Siechen gesundeten; der Schnee, welcher den Boden bedeckte, zerschmolz und an seiner Stelle erblühte plötzlich das herrlichste Frühlings- grün. Der Ruf dieser Wunder verbreitete sich schnell in der Umgegend, und der Erfolg war natürlich nicht ohne Bedeutung. Man strömte in Haufen her- bei, um dem Heiligen seine Verehrung zu bezeigen, und die Geschenke, welche von den Gläubigen dar- gebracht wurden, waren so zahlreich, daß man be- schloß, eine neue Kirche zu erbauen, welche dem heiligen Firmin gewidmet und an derselben Stelle errichtet werden sollte, wo er den Martyrertod erduldet hatte. Diese zweite Kathedrale, welche größtentheils von Holz erbaut war, wurde schon im Jahre 881 von den Normannen verbrannt, hernach wie- der aufgebaut und mehrere Male erneuert. End- lich wurde sie im Jahre 1218 gänzlich vom Blitze zerstört, wobei zugleich auch das Archiv des Bis- thums mit zu Grunde ging. Zwei Jahre lang wurde kein Versuch gemacht sie wieder herzustellen; bis endlich die Nothwendigkeit einen angemessenen Ort für den Leib des heiligen Firmin erheischte, so wie auch noch für eine andere Reliquie, das angeb- liche Haupt des heiligen Johann des Täufers, welches nicht lange zuvor aus Konstantinopel von einem Edelmanne aus der Pikardie mitgebracht worden war, der sich mit unter den Kreuzfahrern befunden, welche im Jahre 1204 jene Stadt mit Sturm eroberten. Der damalige Bischof Eberhard forderte daher das Volk zu Beiträgen für diesen Zweck auf, welche auch so reichlich einfloßen, daß der Baumeister Robert de Lusarches noch in demselben Jahre den Grundstein zu dem Gebäude legen konnte. Jedoch weder er selbst noch der Bi- schoff erlebten die Beendigung des begonnenen Wer- kes; denn erst nach einem Zeitraume von 68 Jah- ren wurde das Gebäude vollendet, und mit wenigen Veränderungen ist dieß dasselbe Gebäude, welches noch heut zu Tage besteht. Das Aeußere dieser Kathedrale hat nicht so viel Außerordentliches, wie manches andere Gebäude dieser Art; die westliche Hauptfronte, welche genau auf unserem Bilde dargestellt ist, ist jedoch sehr reich ausgeschmückt und hat viele Aehnlichkeit mit der Notre-Dame zu Paris. Die Thürme, die von ungleicher Höhe sind, indem der südliche niedriger ist als der westliche, sollen erst hundert Jahre spä- ter, als das Hauptgebäude aufgesetzt und deßhalb von verschiedener Höhe errichtet worden seyn, weil nach einer damaligen Verordnung nur bloß Kathe- dralen, die zum Sitze eines Erzbischofes und jene, die zu gewissen Kollegiatstiften oder zu Abteien von königlichen Stiftungen gehörten, Thürme von glei- cher Höhe haben sollten. Jn der Türkei zwar ist das Privilegium mehr als einen Thurm zu haben, lediglich auf die kaiserlichen Moscheen beschränkt; ob aber auch je eine Verordnung der Art über den Bau christlicher Kirchen bestanden, muß sehr bezwei- felt werden. Das Jnnere dieser Kathedrale ist äußerst pracht- voll, und es gibt wenige Kirchen, die mit einer solchen Größe zugleich so viel Pracht vereinen. Bei anderen und besonders bei englischen Kir- chen wird meistens das Auge nur auf einen einzigen Punkt geleitet und der Haupteffekt liegt nur längs dieser Richtung hin. Hier jedoch scheint der Blick nach allen Richtungen hinzudringen, wodurch er eine Menge von Ansichten gewinnt, die zwar dem Haupt- effekte untergeordnet, jedoch insgesammt sehr schön sind, und für den Beschauer durch die verschiedene Stellung der einzelnen Theile die größte Mannig- faltigkeit darbieten. Wenn man sich im Schiffe der Kirche befindet, da wo das Kreuz sich durchschneidet, wird der Blick besonders durch zwei Fensterrosen gefesselt, die sich an den beiden Seitenflügeln befinden. Man kann sich nicht leicht einen Begriff von der Schönheit dieser Fenster machen. Die glänzenden Farben des Glases, die unter der reichen Verklei- dung hervorschimmern, zeigen eine Pracht, die nicht leicht irgendwo gefunden wird. Die Rose gen We- sten bildet zugleich inwendig ein Zifferblatt, dessen Ziffern mehr als 7 Fuß lang sind, und der Zeiger daran bewegt sich in einer Minute fast ein und einen halben Zoll weit. Die Kirche ist in Form eines lateinischen Kreu- zes gebaut; ihre ganze Länge beträgt 442 Fuß die größte Breite 104 und die Höhe des Schiffes bis zur Kuppel 140 Fuß. Eine der merkwürdigsten Eigenheiten des Schif- fes bildet die schöne Reihe von Seitenkapellen, wel- che sich um dasselbe herumziehen; sie wurden erst später als das Hauptgebäude errichtet, und man schreibt ihre Entstehung einem ganz besonderen Um- stande zu. Jm Jahre 1244 soll nämlich Gottfried von Milly, Gerichtspräsident von Amiens, fünf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Peter Fankhauser: Automatische Transformation von TUSTEP nach TEI P5 (DTA-Basisformat).
Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

Weitere Informationen:

Dieser Text wurde aus dem TUSTEP-Format nach TEI-P5 konvertiert und anschließend in das DTA-Basisformat überführt.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_panorama52_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/nn_panorama52_1835/2
Zitationshilfe: Das wohlfeilste Panorama des Universums. Nr. 52. Prag, 1835, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_panorama52_1835/2>, abgerufen am 01.06.2024.