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Reichspost. Nr. 130, Wien, 11.05.1908.

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Nr. 130 Wien, Montag Reichspost 11. Mai 1908

[Spaltenumbruch] schien, auf den Sicherheitswachposten vor dem Gebäude der
Polizeidirektion zu und teilte ihm mit, daß ihm schlecht ge-
worden sei. Der Wachmann, der schon im Zirkularwege
Kenntnis von dem Verbrechen und die Personsbeschreibung
des Täters hatte, faßte den Burschen ins Auge und sah,
daß er im Gesichte frische, blutige Kratzwunden hatte. Das
fiel dem Wachmann auf und er fragte den Burschen,
ob er denn nicht gerauft habe. Da teilte der
Bursche ohne Zwang mit, er habe ein Mädchen
ermordet.
Der Wachmann packte den Burschen
am Arme, brachte ihn ins Hauskommissariat
und führte ihn dem diensthabenden Polizeikommissär vor,
der ihn sofort in Verwahrungshaft nahm. Er gab an,
Josef Karczmarczik zu heißen, im Jahre 1890 zu Liepnik
in Galizien geboren zu sein und bei seinem Oheim, dem
Schneidermeister Karl Schweinberger, Hernals, Schellhammer-
gasse 4, zu wohnen. Er ist bei Frau Fanny Schindler,
Neubau, Kirchengasse 3, bedienstet. Er ist ein schwächlicher
Bursche von knabenhaftem Aussehen, aber ein äußerst
gefährlicher jugendlicher Verbrecher. Wegen gefährlicher
Drohung und Veruntreuung wurde er bereits im heurigen
Jahre mit zwei Monaten Kerkers abgestraft. Erst vor vier
Wochen ist er nach Verbüßung der Kerkerstrafe in Freiheit
gesetzt worden. Die Absicht eines Mordes stellt
er entschieden in Abrede und will glauben machen, daß
es sich um ein im Affekt begangenes Delikt handle.

Karczmarczik hatte bei Frau Schindler 16 Kronen
Wochenlohn. Davon mußte er 11 Kronen wöchentlich an
den Oheim für Kost und Wohnung abführen. 5 Kronen
wöchentlich blieben ihm für seine anderen Bedürfnisse.

Das polizeiliche Verhör des Mörders.

Ueber die Tat befragt, gab Karczmarczik an, er sei um
etwa 12 Uhr nachts durch die Taborstraße gegangen und
habe die Goldstein getroffen. Diese habe ihn aufgefordert,
mit ihm in die Wohnung zu gehen. Dort kam es wegen
der Bezahlung zu einem Streit. Dadurch sei das Mädchen
in Wut geraten und habe ihn beschimpft. Sie haben dann
gegenseitig aufeinander losgeschlagen.
Plötzlich habe er das Mädchen leblos auf den Divan
stürzen gesehen. Er habe nicht gewußt, was mit ihm vor-
gehe, er habe die 2 Kronen, die er dem Mädchen gegeben,
zu sich gesteckt und sei davon gelanfen. Daß er die Unglück-
liche gewürgt habe, will er nicht wissen. Nach dem Mord ließ
er sich das Haustnr aufsperren und ging wieder in den
Prater. Um 1/43 Uhr früh wurde er noch von seinem in
einem Pratergasthause bediensteten Bruder Ladislaus ge-
sehen. Dieser sah sogleich die Kratzwunden, die ihm die
Goldstein im Todeskampfe beigebracht hatte. Ahnungslos
fragte er den Bruder: "Hast wieder eine Rauferei gehabt?"
Er erwiderte, "sie" habe ihm gekratzt und er habe "sie" ge-
schlagen und gestochen, dann sei er weggegangen. "Ich
komme," schloß er die Mitteilung, "ins Landesge-
richt!
Geh', bring mir eine neue Hose hinein!"
Damit schied der Mörder vom Bruder, trieb sich noch
einige Zeit in den Straßen herum und stellte sich dann der
Behörde.

Karczmarczik wird dem Landesgericht eingeliefert. Die
gerichtliche Obduktion der Leiche der Ermordeten ist ange-
ordnet.




Die Anruhen in Rogatica.
(Eigenbericht der "Reichspost".)


Laut eingelaufenen Nachrichten sind die Unruhen, über
welche wir schon im allgemeinen berichtet haben, auf Grund-
streitigkeiten zurückzuführen, die dadurch entstanden, daß auf
einem Grundstück Häuser gebaut wurden, dessen Benützungs-
recht strittig ist. Es kam bereits am Ende vorigen Monates
zu ernsten Reibungen zwischen den das Nutzrecht aus-
übenden Grundherrn und den Bauern und zu Vorstellungen
und Klagen bei der politischen Behörde. Die streitenden
Parteien sind Mohammedaner und Serben. Es wurde
unter Gendarmerieassistenz ein Beamter mit einem
Geometer hinausgesendet, um bezüglich des strittigen Grund-
stückes Feststellungen vorzunehmen. Eine etwa zweihundert
Köpfe starke, sehr erregte Menge nahm eine drohende
Haltung gegen die Beamten ein,
die ein-
geschüchtert, ihre Sachen zusammenpackten und nach
Rogatica wieder zurückkehrten.

Dieses Nachgeben, sowie der Umstand, daß der
Bezirksvorsteher von Rogatica nicht einschritt, hatte die Folge,
daß die Menge die Häuser und Grund-
zäune niederriß.
Ganz Rogatica und Umgebung
stand unter dem Eindrucke dieser politisch inspirierten
Vorfälle.

Als das Militär von Sarajevo dort einrückte, erfolgte
die Verhaftung der Rädelsführer, die sich wegen öffentlicher
Gewalttätigkeit zu verantworten haben werden. Der
Bezirksvorsteher soll vom Dienste
suspendiert worden sein.




Von einer Persönlichkeit, die aus ihrer Amts-
tätigkeit
Rogatica kennt, wird uns geschrieben: Die
Stadt Rogatica zählt etwa bei 3000 Einwohner, 8% davon
sind Moslims, der Rest Serben und Spaniolen, der
Bezirk Rogatica zählt bei 30.000 Einwohner, zur Hälfte
Serben und zur Hälfte Moslims. Die Moslims gehören zu
den ältesten adeligen Familien des Landes an, so die einst
mächtigen Familien: Seinpasic, Brankovic, Sokolovic usw.
Rogatica liefert die meisten Ulemas und Scheriatsrichter.
Die Moslims in Rogatica und Umgebung sind sehr religiös
und korantreu, jedoch sehr brave und anständige, frenndliche
und entgegenkommende Leute. Die Serben in der Stadt
und Umgebung sind aus Serbien und Montenegro im
vorigen und in diesem Jahrhundert eingewanderten Bauern,
welche in den wüsten Ländereien von den Begs angesiedelt
wurden. Trotzdem aber besteht seit jeher ein Haß
zwischen Serben und Moslim, welcher auch nach der
Okkupation [o]ft zutage trat, da häufig moslimitische Güter
in Brand gesteckt wurden, namentlich am Glasinae und in
Praca in den Jahren 1889--1894. In Sarajevo glaubte
man das Uebel dadurch ausrotten zu können, daß man zur
Beruhigung der Serben einen serbischen Bezirksleiter nach
Rogatica gab, nämlich Konstantin Cukovic, einen ver-
unglückten Kaufmann. Seit seiner Ankunft in Rogatica im
Jahre 1905 war die Haltung der Serben gegen die Moslim
noch feindlicher als vorher: Brände türkischer Häuser, Tot-
schläge, Verweigerung der Abgabe an die Begs kamen
noch im größeren Maße als früher war. Daß es diesmal
[Spaltenumbruch] zu ernsteren Verwicklungen kommen könnte, glauben wir
nicht.




Die Leichenfunde in Laporte.

Der New-Yorker Korrespondent des "Corriere della Sera"
meldet seinem Blatte eine neue Version über die mysteriösen
Leichenfunde in Laporte, die jetzt aufgetaucht ist und die,
wenn sie sich bewahrheiten sollte, geeignet wäre, der
schaurigen Affäre eine ganz andere Lösung zu
geben. Danach wäre Frau Guineß, die bekanntlich die Er-
mordung ihrer drei Kinder und zahlreicher anderer Personen
beschuldigt wird, keine Mörderin, sondern eine sehr achtbare,
ehrsame Frau, die ihre Kinder zärtlich liebte und sich
dadurch ihren Unterhalt verdiente, daß sie die Leichen,
welche die amerikanischen Studenten der Medizin in den
anatomischen Institution sezierten und
zerlegten, sich zusenden ließ und deren Beerdigung besorgte.
Das Begraben von Leichen außerhalb der Friedhöfe ist
nach amerikanischem Gesetze nicht strafbar. Unterstützt
wird diese Hypothese durch die Tatsache, daß sämtliche im
Garten der Guineß vergrabenen Leichen zerschnitten sind
und daß die Zerlegung derselben ganz zweifellos von fach-
kundiger Hand ausgeführt wurde.




Touristenunglück auf der Hohen
Wand.

Aus Grünbach am Schneeberg, 11. d., wird
uns berichtet: Gestern nachmittags verunglückte auf dem
Kanzelsteig auf der Hohen Wand ein Wiener
Tourist
und wurde sehr schwer verletzt. Der Wiener
Touristenverein "Die Naturfreunde" veranstaltete gestern
eine Partie auf die Hohe Wand, an welcher sich un-
gefähr 600 Personen beteiligten. Einige Teilnehmer
machten die Kletterpartie auf den Kanzelsteig. Durch Los-
lösung des Gesteins wurde eine andere dieser Kletterpartie
nachfolgende Gesellschaft getroffen und infolge des Stein-
schlages ein gewisser Gustav Wiener, in Wien,
17. Bezirk wohnhaft, sehr schwer verletzt. Es
wurden ihm einige Rippen gebrochen, da große Stein-
stücke auf ihn herabfielen. Wiener konnte sich nicht
mehr von der Stelle bewegen und mußte von der Gesell-
schaft unter schwierigen Verhältnissen nach Höflein ge-
bracht werden. Daselbst wurde der Gemeindearzt von
Grünbach Dr. Felgenhauer geholt, welcher dem Ver-
letzten erste Hilfe leistete und ihn von Höflein per Wagen
nach Grünbach transportieren ließ. Der Verunglückte
wurde abends von Grünbach nach Wien befordert.




Die Rache des Bankerotteurs.
Sein eigenes Haus in die Luft gesprengt.

Aus Mailand wird uns vom 10. d. berichtet:
In Pallanza bei Mailand wurden gestern
nachts die Einwohner plötzlich durch drei fürchterliche
Detonationen aus dem Schlafe geweckt. Die erschreckten
Bewohner eilten auf die Straße und da stellte sich heraus,
daß ein neues Gebäude, das von der Familie Tacchini
in der Nähe der Kirche erbaut und erst vor kurzer Zeit
fertiggestellt worden war, in Trümmern lag. Die polizei-
lichen Erhebungen ergaben, daß das Haus mit Dynamit
in die Luft gesprengt worden war. Da nun der Eigen-
tümer des Hauses in Konkurs geraten war und das
Haus demnächst zur exekutiven Feilbietung kommen sollte,
der Sohn des Besitzers aber verschwunden ist, so nimmt
die Polizei an, daß der Sohn Tacchinis die Tat aus
Groll darüber verübt hat, daß das Haus in fremde
Hände kommen soll. Glücklicherweise ist kein Menschen-
leben zu beklagen und auch niemand verletzt worden.




Das Regime der magyarischen
Koalition.
Wie Minister Kossuth den Kaiser be-
schimpfen läßt.
Die "ritterliche Nation".

Das offizielle Organ der Unabhängigkeitspartei und
zugleich erklärte Leibblatt des ungarischen Handelsministers
Kossuths "Budapest", bringt gestern auf der ersten
Seite ein Bild "Das große Jubiläum", in
dem das Regierungsjubiläum unseres
Monarchen
und insbesondere die Huldigung der
deutschen Fürsten
in schändlicher Weise verhöhnt wird.
Die Gratulation der deutschen Majestäten wird in folgender
Weise bildlich verspottet: Die deutschen Fürsten erscheinen
als bezopfte Kartenkönige in Schönbrunn, das als
ein Kartenhaus dargestellt ist, und huldigen einem auf
den Throne sitzenden -- die erhabene Gestalt unseres
Monarchen wagte der freche Zeichner des Kossuthorganes
doch nicht zu bringen -- abscheulich karikierten Doppel-
aar,
der das äußere eines schrecklich zerzausten, dem Ver-
enden nahen Aasgeiers bietet. Man versteht die ver-
brecherische, schamlose Symbolik der Zeichnung.

Es ist überflüssig, ein Wort der Kritik über diese
Schamlosigkeit des Blattes Kossuths zu verlieren, der die
Majestät, deren Minister und Geheimrat
er ist und die ihn erst vor kurzem in ihrer
unendelichen Nachsicht mit einem hohen
Orden ausgezeichnet hat,
so unflätig und auf
aller Ritterlichkeit hohnsprechende Weise verunglimpfen läßt.

Auswärtige Agenten in Ungarn.

Der "Magyar Hirlap", das Organ des Grafen
Andrassy, teilt mit, daß er die Behauptung, welche
Baron Aehrenthal in einem "lendenlahmen Communique"
widerruft, vollständig aufrecht halte. "Magyar Hirlap" will
nicht allein für das Faktum, daß Baron Aehrenthal wirk-
lich diese Aeußerung gemacht, sondern auch dafür unbe-
dingteinstehen,
"daß im öffentlichen Leben Ungarns
viele Individuen Rollen spielen, die bezahlte
Agenten einer aus wärtigen Regierung
[Spaltenumbruch] seien, und daß die ausländischen Agen-
ten auch anviele magyarische Abgeord-
nete herankommen.
Es verkehren Individuen in
Kreisen des politischen Lebens, die von Petersburg, Paris
und ganz besonders Belgrad regelmäßigen Sold
beziehen und nicht nur einzelne Abgeordnete, sondern auch
ganze Parteischattierungen für den Dienst
dieser Interessen zu gewinnen trachten.

Der ungarische Ackerbauminister Daranyi und die
beiden Staatssekretäre im Ackerbauministerium Mezössy und
Ottlik sind gestern abends in Wien eingetroffen.




Telegramme.
Eine Hetzrede des Abgeordneten Dr.
Weidenhoffer.

(Privattelegramm.) Der deutsch-
nationale Abg. Weidenhoffer hielt gestern in einer
liberalen Versammlung eine Brandrede gegen die Christlich-
sozialen. Bezüglich der Wahrmundaffäre, meinte er, werde
die Sistierung der Vorlesungen über Kirchenrecht, welche
Skandale verhindern sollte, nun erst recht zu Skan-
dalen führen, da sich die freisinnigen Studenten eine solche
Maßnahme nicht gefallen lassen können. Vom Deutschtum
der Christlichsozialen halte er (Dr. Weidenhoffer, der den
sozialdemokratischen Tschechen von
Stockerau seine Wahl verdankt!) nichts. Kürzlich habe Dr.
Lueger an Dr. Chiari den bekannten Brief ge-
richtet, in welchem die Christlichsozialen erklären, daß sie in
nationaler Beziehung mit den Deutschfreiheitlichen Schulter
an Schulter kämpfen wollen.

Als vor einigen Tagen bei dem Bankett der Stadt Prag
für die Teilnehmer am Leichenbegängnisse des jungtschechi-
schen Abg. Dr. Herold von den dortigen Slaven aller
Nationalitäten die allslavische Solidarität gegen die Deut-
schen proklamiert wurde, haben die Christlichsozialen ruhig (!)
daran teilgenommen. Ja selbst als Beschimpfungen der
Deutschen vorkamen, seien die Vertreter der christlichsozialen
Partei nicht weggegangen, im Gegenteil, der Abg. Kienzl
habe den Tschechen noch gedankt. (Das ist eine dreiste
Enstellung.
Kienzl hat den Tschechen eine ge-
hörige Lektion
gegeben. Daß die anwesenden
deutschen Christlichsozialen die tschechischen Reden nicht
sofort verstanden, ist doch kein Grund zu Verdächtigungen.
Weidenhoffer sollte sich lieber mit seinen deutschen
Burschaftern befassen, die sich offen
mit den ärgsten tschechischen Hetzern
gegen die deutschen Christlichsozialen
und gegen die -- deutschfreisinnigen
Professoren verbrüdern!
)

Der Streik gegen das Studium.

(Privattelegramm.) Wie der Masaryksche
"Cas" meldet, hätten die freisinnigen Kreise der tschechi-
schen
Studentenschaft die Frage erwogen, in welcher Weise
sie in den Kampf für Wahrmund einzugreifen hätten. Es
wurde beschlossen, abzuwarten, ob die deutschfreisinnige
Studentenschaft in den nächsten Tagen wirklich in den
Generalstreik eintreten werde. Jedenfalls werden bereits in
den allernächsten Tagen einige Protestversammlungen
slavischer Studenten in dieser Angelegenheit
stattfinden. Die tschechische Studentenschaft hoffe, die
Affäre Wahrmund werde die Aktion zur Abtren-
nung der theologischen Fakultäten von
den Universitäten(!)
beschleunigen und verschärfen.
Jedenfalls seien stürmische Vorgänge an den
Universitäten zu erwarten. Der Delegat der Inns-
brucker Burschenschaften,
welcher dieser Tage hier
weilte, habe auch mit den tschechischen Studenten
Verhandlungen gepflogen,
um sie für den Streik
zu gewinnen. (Und da wagt es die freisinnige Presse, den
Kampf gegen das Studium als eine deutsche, nationale
Angelegenheit hinzustellen!)

Aus Rußlands Diplomatie.

Wirklicher geheimer Rat
Graf Pahlen wurde zum Gesandten im Haag ernannt.

Iswalsky in Berlin.

Der "Figaro" meldet aus verläß-
licher Quelle, das der russische Minister des Aeußern Is-
wolsky
gegen Ende Mai nach Berlin kommt, um dort
in einer diplomatischen Konferenz, die sich mit der Bal-
kanfrage
beschäftigen wird, den Vorsitz zu führen.

Die Munizipalratswahlen in Frankreich.

Bei den engeren Wahlen für den
Pariser Munizipalrat wurden 18 bisherige und 7 neue
Munizipalräte gewählt. Die Zusammensetzung des neuen
Munizipalrates dürfte vom parteipolitischen Standpunkte
die gleiche bleiben wie bisher. Einige geeinigte Sozial-
demokraten verloren ihre Sitze an Radikale. In der Stadt
herrscht Ruhe.

Bei den Stichwahlen für die
Munizipalräte in den Departements erlitten die
Sozialdemokraten weitere Verluste.
In Saint Etienne verloren sie die Mehrheit, welche auf
die Liberalen überging. In Toulouse errangen die
Sozialistisch-Radikalen, in Brest die fortschrittlichen
Liberalen die Majorität. In Lyon verloren die Sozial-
[d]emokraten sechs Sitze. In Lille wurden die fortschritt-
lichen Liberalen gewählt. Auch in Roubaix unterlagen die
geeinigten Sozialdemokraten. Dagegen behaupteten die
Sozialdemokraten St. Quentin und gewannen die Majorität
in Nimes. In Marseille besteht der Munizipalrat zu
gleichen Teilen aus Sozialdemokraten und Progressisten.




Kirchliches.
-- Provinzialwahl bei den Barmherzigen Brüdern.

Im Konvente der Barmherzigen Brüder in der Leopoldstadt
wird gegenwärtig das Provinzwahlkapitel abgehalten, wozu
P. Kassianus Maria Gasser aus Rom hier eingetroffen
ist. Unter seinem Vorsitze wurde gestern den 10. d. M. von
den sämtlichen Prioren der Provinz der bisherige Provinzial
P. Eduardus Stur für das nächste Triennium einstimmig
wiedergewählt.


Nr. 130 Wien, Montag Reichspoſt 11. Mai 1908

[Spaltenumbruch] ſchien, auf den Sicherheitswachpoſten vor dem Gebäude der
Polizeidirektion zu und teilte ihm mit, daß ihm ſchlecht ge-
worden ſei. Der Wachmann, der ſchon im Zirkularwege
Kenntnis von dem Verbrechen und die Perſonsbeſchreibung
des Täters hatte, faßte den Burſchen ins Auge und ſah,
daß er im Geſichte friſche, blutige Kratzwunden hatte. Das
fiel dem Wachmann auf und er fragte den Burſchen,
ob er denn nicht gerauft habe. Da teilte der
Burſche ohne Zwang mit, er habe ein Mädchen
ermordet.
Der Wachmann packte den Burſchen
am Arme, brachte ihn ins Hauskommiſſariat
und führte ihn dem dienſthabenden Polizeikommiſſär vor,
der ihn ſofort in Verwahrungshaft nahm. Er gab an,
Joſef Karczmarczik zu heißen, im Jahre 1890 zu Liepnik
in Galizien geboren zu ſein und bei ſeinem Oheim, dem
Schneidermeiſter Karl Schweinberger, Hernals, Schellhammer-
gaſſe 4, zu wohnen. Er iſt bei Frau Fanny Schindler,
Neubau, Kirchengaſſe 3, bedienſtet. Er iſt ein ſchwächlicher
Burſche von knabenhaftem Ausſehen, aber ein äußerſt
gefährlicher jugendlicher Verbrecher. Wegen gefährlicher
Drohung und Veruntreuung wurde er bereits im heurigen
Jahre mit zwei Monaten Kerkers abgeſtraft. Erſt vor vier
Wochen iſt er nach Verbüßung der Kerkerſtrafe in Freiheit
geſetzt worden. Die Abſicht eines Mordes ſtellt
er entſchieden in Abrede und will glauben machen, daß
es ſich um ein im Affekt begangenes Delikt handle.

Karczmarczik hatte bei Frau Schindler 16 Kronen
Wochenlohn. Davon mußte er 11 Kronen wöchentlich an
den Oheim für Koſt und Wohnung abführen. 5 Kronen
wöchentlich blieben ihm für ſeine anderen Bedürfniſſe.

Das polizeiliche Verhör des Mörders.

Ueber die Tat befragt, gab Karczmarczik an, er ſei um
etwa 12 Uhr nachts durch die Taborſtraße gegangen und
habe die Goldſtein getroffen. Dieſe habe ihn aufgefordert,
mit ihm in die Wohnung zu gehen. Dort kam es wegen
der Bezahlung zu einem Streit. Dadurch ſei das Mädchen
in Wut geraten und habe ihn beſchimpft. Sie haben dann
gegenſeitig aufeinander losgeſchlagen.
Plötzlich habe er das Mädchen leblos auf den Divan
ſtürzen geſehen. Er habe nicht gewußt, was mit ihm vor-
gehe, er habe die 2 Kronen, die er dem Mädchen gegeben,
zu ſich geſteckt und ſei davon gelanfen. Daß er die Unglück-
liche gewürgt habe, will er nicht wiſſen. Nach dem Mord ließ
er ſich das Haustnr aufſperren und ging wieder in den
Prater. Um ¼3 Uhr früh wurde er noch von ſeinem in
einem Pratergaſthauſe bedienſteten Bruder Ladislaus ge-
ſehen. Dieſer ſah ſogleich die Kratzwunden, die ihm die
Goldſtein im Todeskampfe beigebracht hatte. Ahnungslos
fragte er den Bruder: „Haſt wieder eine Rauferei gehabt?“
Er erwiderte, „ſie“ habe ihm gekratzt und er habe „ſie“ ge-
ſchlagen und geſtochen, dann ſei er weggegangen. „Ich
komme,“ ſchloß er die Mitteilung, „ins Landesge-
richt!
Geh’, bring mir eine neue Hoſe hinein!
Damit ſchied der Mörder vom Bruder, trieb ſich noch
einige Zeit in den Straßen herum und ſtellte ſich dann der
Behörde.

Karczmarczik wird dem Landesgericht eingeliefert. Die
gerichtliche Obduktion der Leiche der Ermordeten iſt ange-
ordnet.




Die Anruhen in Rogatica.
(Eigenbericht der „Reichspoſt“.)


Laut eingelaufenen Nachrichten ſind die Unruhen, über
welche wir ſchon im allgemeinen berichtet haben, auf Grund-
ſtreitigkeiten zurückzuführen, die dadurch entſtanden, daß auf
einem Grundſtück Häuſer gebaut wurden, deſſen Benützungs-
recht ſtrittig iſt. Es kam bereits am Ende vorigen Monates
zu ernſten Reibungen zwiſchen den das Nutzrecht aus-
übenden Grundherrn und den Bauern und zu Vorſtellungen
und Klagen bei der politiſchen Behörde. Die ſtreitenden
Parteien ſind Mohammedaner und Serben. Es wurde
unter Gendarmerieaſſiſtenz ein Beamter mit einem
Geometer hinausgeſendet, um bezüglich des ſtrittigen Grund-
ſtückes Feſtſtellungen vorzunehmen. Eine etwa zweihundert
Köpfe ſtarke, ſehr erregte Menge nahm eine drohende
Haltung gegen die Beamten ein,
die ein-
geſchüchtert, ihre Sachen zuſammenpackten und nach
Rogatica wieder zurückkehrten.

Dieſes Nachgeben, ſowie der Umſtand, daß der
Bezirksvorſteher von Rogatica nicht einſchritt, hatte die Folge,
daß die Menge die Häuſer und Grund-
zäune niederriß.
Ganz Rogatica und Umgebung
ſtand unter dem Eindrucke dieſer politiſch inſpirierten
Vorfälle.

Als das Militär von Sarajevo dort einrückte, erfolgte
die Verhaftung der Rädelsführer, die ſich wegen öffentlicher
Gewalttätigkeit zu verantworten haben werden. Der
Bezirksvorſteher ſoll vom Dienſte
ſuspendiert worden ſein.




Von einer Perſönlichkeit, die aus ihrer Amts-
tätigkeit
Rogatica kennt, wird uns geſchrieben: Die
Stadt Rogatica zählt etwa bei 3000 Einwohner, 8% davon
ſind Moslims, der Reſt Serben und Spaniolen, der
Bezirk Rogatica zählt bei 30.000 Einwohner, zur Hälfte
Serben und zur Hälfte Moslims. Die Moslims gehören zu
den älteſten adeligen Familien des Landes an, ſo die einſt
mächtigen Familien: Seinpaſic, Brankovic, Sokolovic uſw.
Rogatica liefert die meiſten Ulemas und Scheriatsrichter.
Die Moslims in Rogatica und Umgebung ſind ſehr religiös
und korantreu, jedoch ſehr brave und anſtändige, frenndliche
und entgegenkommende Leute. Die Serben in der Stadt
und Umgebung ſind aus Serbien und Montenegro im
vorigen und in dieſem Jahrhundert eingewanderten Bauern,
welche in den wüſten Ländereien von den Begs angeſiedelt
wurden. Trotzdem aber beſteht ſeit jeher ein Haß
zwiſchen Serben und Moslim, welcher auch nach der
Okkupation [o]ft zutage trat, da häufig moslimitiſche Güter
in Brand geſteckt wurden, namentlich am Glaſinae und in
Praca in den Jahren 1889—1894. In Sarajevo glaubte
man das Uebel dadurch ausrotten zu können, daß man zur
Beruhigung der Serben einen ſerbiſchen Bezirksleiter nach
Rogatica gab, nämlich Konſtantin Cukovic, einen ver-
unglückten Kaufmann. Seit ſeiner Ankunft in Rogatica im
Jahre 1905 war die Haltung der Serben gegen die Moslim
noch feindlicher als vorher: Brände türkiſcher Häuſer, Tot-
ſchläge, Verweigerung der Abgabe an die Begs kamen
noch im größeren Maße als früher war. Daß es diesmal
[Spaltenumbruch] zu ernſteren Verwicklungen kommen könnte, glauben wir
nicht.




Die Leichenfunde in Laporte.

Der New-Yorker Korreſpondent des „Corriere della Sera“
meldet ſeinem Blatte eine neue Verſion über die myſteriöſen
Leichenfunde in Laporte, die jetzt aufgetaucht iſt und die,
wenn ſie ſich bewahrheiten ſollte, geeignet wäre, der
ſchaurigen Affäre eine ganz andere Löſung zu
geben. Danach wäre Frau Guineß, die bekanntlich die Er-
mordung ihrer drei Kinder und zahlreicher anderer Perſonen
beſchuldigt wird, keine Mörderin, ſondern eine ſehr achtbare,
ehrſame Frau, die ihre Kinder zärtlich liebte und ſich
dadurch ihren Unterhalt verdiente, daß ſie die Leichen,
welche die amerikaniſchen Studenten der Medizin in den
anatomiſchen Inſtitution ſezierten und
zerlegten, ſich zuſenden ließ und deren Beerdigung beſorgte.
Das Begraben von Leichen außerhalb der Friedhöfe iſt
nach amerikaniſchem Geſetze nicht ſtrafbar. Unterſtützt
wird dieſe Hypotheſe durch die Tatſache, daß ſämtliche im
Garten der Guineß vergrabenen Leichen zerſchnitten ſind
und daß die Zerlegung derſelben ganz zweifellos von fach-
kundiger Hand ausgeführt wurde.




Touriſtenunglück auf der Hohen
Wand.

Aus Grünbach am Schneeberg, 11. d., wird
uns berichtet: Geſtern nachmittags verunglückte auf dem
Kanzelſteig auf der Hohen Wand ein Wiener
Touriſt
und wurde ſehr ſchwer verletzt. Der Wiener
Touriſtenverein „Die Naturfreunde“ veranſtaltete geſtern
eine Partie auf die Hohe Wand, an welcher ſich un-
gefähr 600 Perſonen beteiligten. Einige Teilnehmer
machten die Kletterpartie auf den Kanzelſteig. Durch Los-
löſung des Geſteins wurde eine andere dieſer Kletterpartie
nachfolgende Geſellſchaft getroffen und infolge des Stein-
ſchlages ein gewiſſer Guſtav Wiener, in Wien,
17. Bezirk wohnhaft, ſehr ſchwer verletzt. Es
wurden ihm einige Rippen gebrochen, da große Stein-
ſtücke auf ihn herabfielen. Wiener konnte ſich nicht
mehr von der Stelle bewegen und mußte von der Geſell-
ſchaft unter ſchwierigen Verhältniſſen nach Höflein ge-
bracht werden. Daſelbſt wurde der Gemeindearzt von
Grünbach Dr. Felgenhauer geholt, welcher dem Ver-
letzten erſte Hilfe leiſtete und ihn von Höflein per Wagen
nach Grünbach transportieren ließ. Der Verunglückte
wurde abends von Grünbach nach Wien befordert.




Die Rache des Bankerotteurs.
Sein eigenes Haus in die Luft geſprengt.

Aus Mailand wird uns vom 10. d. berichtet:
In Pallanza bei Mailand wurden geſtern
nachts die Einwohner plötzlich durch drei fürchterliche
Detonationen aus dem Schlafe geweckt. Die erſchreckten
Bewohner eilten auf die Straße und da ſtellte ſich heraus,
daß ein neues Gebäude, das von der Familie Tacchini
in der Nähe der Kirche erbaut und erſt vor kurzer Zeit
fertiggeſtellt worden war, in Trümmern lag. Die polizei-
lichen Erhebungen ergaben, daß das Haus mit Dynamit
in die Luft geſprengt worden war. Da nun der Eigen-
tümer des Hauſes in Konkurs geraten war und das
Haus demnächſt zur exekutiven Feilbietung kommen ſollte,
der Sohn des Beſitzers aber verſchwunden iſt, ſo nimmt
die Polizei an, daß der Sohn Tacchinis die Tat aus
Groll darüber verübt hat, daß das Haus in fremde
Hände kommen ſoll. Glücklicherweiſe iſt kein Menſchen-
leben zu beklagen und auch niemand verletzt worden.




Das Regime der magyariſchen
Koalition.
Wie Miniſter Koſſuth den Kaiſer be-
ſchimpfen läßt.
Die „ritterliche Nation“.

Das offizielle Organ der Unabhängigkeitspartei und
zugleich erklärte Leibblatt des ungariſchen Handelsminiſters
Koſſuths „Budapeſt“, bringt geſtern auf der erſten
Seite ein Bild „Das große Jubiläum“, in
dem das Regierungsjubiläum unſeres
Monarchen
und insbeſondere die Huldigung der
deutſchen Fürſten
in ſchändlicher Weiſe verhöhnt wird.
Die Gratulation der deutſchen Majeſtäten wird in folgender
Weiſe bildlich verſpottet: Die deutſchen Fürſten erſcheinen
als bezopfte Kartenkönige in Schönbrunn, das als
ein Kartenhaus dargeſtellt iſt, und huldigen einem auf
den Throne ſitzenden — die erhabene Geſtalt unſeres
Monarchen wagte der freche Zeichner des Koſſuthorganes
doch nicht zu bringen — abſcheulich karikierten Doppel-
aar,
der das äußere eines ſchrecklich zerzauſten, dem Ver-
enden nahen Aasgeiers bietet. Man verſteht die ver-
brecheriſche, ſchamloſe Symbolik der Zeichnung.

Es iſt überflüſſig, ein Wort der Kritik über dieſe
Schamloſigkeit des Blattes Koſſuths zu verlieren, der die
Majeſtät, deren Miniſter und Geheimrat
er iſt und die ihn erſt vor kurzem in ihrer
unendelichen Nachſicht mit einem hohen
Orden ausgezeichnet hat,
ſo unflätig und auf
aller Ritterlichkeit hohnſprechende Weiſe verunglimpfen läßt.

Auswärtige Agenten in Ungarn.

Der „Magyar Hirlap“, das Organ des Grafen
Andraſſy, teilt mit, daß er die Behauptung, welche
Baron Aehrenthal in einem „lendenlahmen Communiqué“
widerruft, vollſtändig aufrecht halte. „Magyar Hirlap“ will
nicht allein für das Faktum, daß Baron Aehrenthal wirk-
lich dieſe Aeußerung gemacht, ſondern auch dafür unbe-
dingteinſtehen,
„daß im öffentlichen Leben Ungarns
viele Individuen Rollen ſpielen, die bezahlte
Agenten einer aus wärtigen Regierung
[Spaltenumbruch] ſeien, und daß die ausländiſchen Agen-
ten auch anviele magyariſche Abgeord-
nete herankommen.
Es verkehren Individuen in
Kreiſen des politiſchen Lebens, die von Petersburg, Paris
und ganz beſonders Belgrad regelmäßigen Sold
beziehen und nicht nur einzelne Abgeordnete, ſondern auch
ganze Parteiſchattierungen für den Dienſt
dieſer Intereſſen zu gewinnen trachten.

Der ungariſche Ackerbauminiſter Daranyi und die
beiden Staatsſekretäre im Ackerbauminiſterium Mezöſſy und
Ottlik ſind geſtern abends in Wien eingetroffen.




Telegramme.
Eine Hetzrede des Abgeordneten Dr.
Weidenhoffer.

(Privattelegramm.) Der deutſch-
nationale Abg. Weidenhoffer hielt geſtern in einer
liberalen Verſammlung eine Brandrede gegen die Chriſtlich-
ſozialen. Bezüglich der Wahrmundaffäre, meinte er, werde
die Siſtierung der Vorleſungen über Kirchenrecht, welche
Skandale verhindern ſollte, nun erſt recht zu Skan-
dalen führen, da ſich die freiſinnigen Studenten eine ſolche
Maßnahme nicht gefallen laſſen können. Vom Deutſchtum
der Chriſtlichſozialen halte er (Dr. Weidenhoffer, der den
ſozialdemokratiſchen Tſchechen von
Stockerau ſeine Wahl verdankt!) nichts. Kürzlich habe Dr.
Lueger an Dr. Chiari den bekannten Brief ge-
richtet, in welchem die Chriſtlichſozialen erklären, daß ſie in
nationaler Beziehung mit den Deutſchfreiheitlichen Schulter
an Schulter kämpfen wollen.

Als vor einigen Tagen bei dem Bankett der Stadt Prag
für die Teilnehmer am Leichenbegängniſſe des jungtſchechi-
ſchen Abg. Dr. Herold von den dortigen Slaven aller
Nationalitäten die allſlaviſche Solidarität gegen die Deut-
ſchen proklamiert wurde, haben die Chriſtlichſozialen ruhig (!)
daran teilgenommen. Ja ſelbſt als Beſchimpfungen der
Deutſchen vorkamen, ſeien die Vertreter der chriſtlichſozialen
Partei nicht weggegangen, im Gegenteil, der Abg. Kienzl
habe den Tſchechen noch gedankt. (Das iſt eine dreiſte
Enſtellung.
Kienzl hat den Tſchechen eine ge-
hörige Lektion
gegeben. Daß die anweſenden
deutſchen Chriſtlichſozialen die tſchechiſchen Reden nicht
ſofort verſtanden, iſt doch kein Grund zu Verdächtigungen.
Weidenhoffer ſollte ſich lieber mit ſeinen deutſchen
Burſchaftern befaſſen, die ſich offen
mit den ärgſten tſchechiſchen Hetzern
gegen die deutſchen Chriſtlichſozialen
und gegen die — deutſchfreiſinnigen
Profeſſoren verbrüdern!
)

Der Streik gegen das Studium.

(Privattelegramm.) Wie der Maſarykſche
„Cas“ meldet, hätten die freiſinnigen Kreiſe der tſchechi-
ſchen
Studentenſchaft die Frage erwogen, in welcher Weiſe
ſie in den Kampf für Wahrmund einzugreifen hätten. Es
wurde beſchloſſen, abzuwarten, ob die deutſchfreiſinnige
Studentenſchaft in den nächſten Tagen wirklich in den
Generalſtreik eintreten werde. Jedenfalls werden bereits in
den allernächſten Tagen einige Proteſtverſammlungen
ſlaviſcher Studenten in dieſer Angelegenheit
ſtattfinden. Die tſchechiſche Studentenſchaft hoffe, die
Affäre Wahrmund werde die Aktion zur Abtren-
nung der theologiſchen Fakultäten von
den Univerſitäten(!)
beſchleunigen und verſchärfen.
Jedenfalls ſeien ſtürmiſche Vorgänge an den
Univerſitäten zu erwarten. Der Delegat der Inns-
brucker Burſchenſchaften,
welcher dieſer Tage hier
weilte, habe auch mit den tſchechiſchen Studenten
Verhandlungen gepflogen,
um ſie für den Streik
zu gewinnen. (Und da wagt es die freiſinnige Preſſe, den
Kampf gegen das Studium als eine deutſche, nationale
Angelegenheit hinzuſtellen!)

Aus Rußlands Diplomatie.

Wirklicher geheimer Rat
Graf Pahlen wurde zum Geſandten im Haag ernannt.

Iswalsky in Berlin.

Der „Figaro“ meldet aus verläß-
licher Quelle, das der ruſſiſche Miniſter des Aeußern Is-
wolsky
gegen Ende Mai nach Berlin kommt, um dort
in einer diplomatiſchen Konferenz, die ſich mit der Bal-
kanfrage
beſchäftigen wird, den Vorſitz zu führen.

Die Munizipalratswahlen in Frankreich.

Bei den engeren Wahlen für den
Pariſer Munizipalrat wurden 18 bisherige und 7 neue
Munizipalräte gewählt. Die Zuſammenſetzung des neuen
Munizipalrates dürfte vom parteipolitiſchen Standpunkte
die gleiche bleiben wie bisher. Einige geeinigte Sozial-
demokraten verloren ihre Sitze an Radikale. In der Stadt
herrſcht Ruhe.

Bei den Stichwahlen für die
Munizipalräte in den Departements erlitten die
Sozialdemokraten weitere Verluſte.
In Saint Etienne verloren ſie die Mehrheit, welche auf
die Liberalen überging. In Toulouſe errangen die
Sozialiſtiſch-Radikalen, in Breſt die fortſchrittlichen
Liberalen die Majorität. In Lyon verloren die Sozial-
[d]emokraten ſechs Sitze. In Lille wurden die fortſchritt-
lichen Liberalen gewählt. Auch in Roubaix unterlagen die
geeinigten Sozialdemokraten. Dagegen behaupteten die
Sozialdemokraten St. Quentin und gewannen die Majorität
in Nimes. In Marſeille beſteht der Munizipalrat zu
gleichen Teilen aus Sozialdemokraten und Progreſſiſten.




Kirchliches.
— Provinzialwahl bei den Barmherzigen Brüdern.

Im Konvente der Barmherzigen Brüder in der Leopoldſtadt
wird gegenwärtig das Provinzwahlkapitel abgehalten, wozu
P. Kaſſianus Maria Gaſſer aus Rom hier eingetroffen
iſt. Unter ſeinem Vorſitze wurde geſtern den 10. d. M. von
den ſämtlichen Prioren der Provinz der bisherige Provinzial
P. Eduardus Stur für das nächſte Triennium einſtimmig
wiedergewählt.


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[5/0005] Nr. 130 Wien, Montag Reichspoſt 11. Mai 1908 ſchien, auf den Sicherheitswachpoſten vor dem Gebäude der Polizeidirektion zu und teilte ihm mit, daß ihm ſchlecht ge- worden ſei. Der Wachmann, der ſchon im Zirkularwege Kenntnis von dem Verbrechen und die Perſonsbeſchreibung des Täters hatte, faßte den Burſchen ins Auge und ſah, daß er im Geſichte friſche, blutige Kratzwunden hatte. Das fiel dem Wachmann auf und er fragte den Burſchen, ob er denn nicht gerauft habe. Da teilte der Burſche ohne Zwang mit, er habe ein Mädchen ermordet. Der Wachmann packte den Burſchen am Arme, brachte ihn ins Hauskommiſſariat und führte ihn dem dienſthabenden Polizeikommiſſär vor, der ihn ſofort in Verwahrungshaft nahm. Er gab an, Joſef Karczmarczik zu heißen, im Jahre 1890 zu Liepnik in Galizien geboren zu ſein und bei ſeinem Oheim, dem Schneidermeiſter Karl Schweinberger, Hernals, Schellhammer- gaſſe 4, zu wohnen. Er iſt bei Frau Fanny Schindler, Neubau, Kirchengaſſe 3, bedienſtet. Er iſt ein ſchwächlicher Burſche von knabenhaftem Ausſehen, aber ein äußerſt gefährlicher jugendlicher Verbrecher. Wegen gefährlicher Drohung und Veruntreuung wurde er bereits im heurigen Jahre mit zwei Monaten Kerkers abgeſtraft. Erſt vor vier Wochen iſt er nach Verbüßung der Kerkerſtrafe in Freiheit geſetzt worden. Die Abſicht eines Mordes ſtellt er entſchieden in Abrede und will glauben machen, daß es ſich um ein im Affekt begangenes Delikt handle. Karczmarczik hatte bei Frau Schindler 16 Kronen Wochenlohn. Davon mußte er 11 Kronen wöchentlich an den Oheim für Koſt und Wohnung abführen. 5 Kronen wöchentlich blieben ihm für ſeine anderen Bedürfniſſe. Das polizeiliche Verhör des Mörders. Ueber die Tat befragt, gab Karczmarczik an, er ſei um etwa 12 Uhr nachts durch die Taborſtraße gegangen und habe die Goldſtein getroffen. Dieſe habe ihn aufgefordert, mit ihm in die Wohnung zu gehen. Dort kam es wegen der Bezahlung zu einem Streit. Dadurch ſei das Mädchen in Wut geraten und habe ihn beſchimpft. Sie haben dann gegenſeitig aufeinander losgeſchlagen. Plötzlich habe er das Mädchen leblos auf den Divan ſtürzen geſehen. Er habe nicht gewußt, was mit ihm vor- gehe, er habe die 2 Kronen, die er dem Mädchen gegeben, zu ſich geſteckt und ſei davon gelanfen. Daß er die Unglück- liche gewürgt habe, will er nicht wiſſen. Nach dem Mord ließ er ſich das Haustnr aufſperren und ging wieder in den Prater. Um ¼3 Uhr früh wurde er noch von ſeinem in einem Pratergaſthauſe bedienſteten Bruder Ladislaus ge- ſehen. Dieſer ſah ſogleich die Kratzwunden, die ihm die Goldſtein im Todeskampfe beigebracht hatte. Ahnungslos fragte er den Bruder: „Haſt wieder eine Rauferei gehabt?“ Er erwiderte, „ſie“ habe ihm gekratzt und er habe „ſie“ ge- ſchlagen und geſtochen, dann ſei er weggegangen. „Ich komme,“ ſchloß er die Mitteilung, „ins Landesge- richt! Geh’, bring mir eine neue Hoſe hinein!“ Damit ſchied der Mörder vom Bruder, trieb ſich noch einige Zeit in den Straßen herum und ſtellte ſich dann der Behörde. Karczmarczik wird dem Landesgericht eingeliefert. Die gerichtliche Obduktion der Leiche der Ermordeten iſt ange- ordnet. Die Anruhen in Rogatica. (Eigenbericht der „Reichspoſt“.) Sarajevo, 9. Mai. Laut eingelaufenen Nachrichten ſind die Unruhen, über welche wir ſchon im allgemeinen berichtet haben, auf Grund- ſtreitigkeiten zurückzuführen, die dadurch entſtanden, daß auf einem Grundſtück Häuſer gebaut wurden, deſſen Benützungs- recht ſtrittig iſt. Es kam bereits am Ende vorigen Monates zu ernſten Reibungen zwiſchen den das Nutzrecht aus- übenden Grundherrn und den Bauern und zu Vorſtellungen und Klagen bei der politiſchen Behörde. Die ſtreitenden Parteien ſind Mohammedaner und Serben. Es wurde unter Gendarmerieaſſiſtenz ein Beamter mit einem Geometer hinausgeſendet, um bezüglich des ſtrittigen Grund- ſtückes Feſtſtellungen vorzunehmen. Eine etwa zweihundert Köpfe ſtarke, ſehr erregte Menge nahm eine drohende Haltung gegen die Beamten ein, die ein- geſchüchtert, ihre Sachen zuſammenpackten und nach Rogatica wieder zurückkehrten. Dieſes Nachgeben, ſowie der Umſtand, daß der Bezirksvorſteher von Rogatica nicht einſchritt, hatte die Folge, daß die Menge die Häuſer und Grund- zäune niederriß. Ganz Rogatica und Umgebung ſtand unter dem Eindrucke dieſer politiſch inſpirierten Vorfälle. Als das Militär von Sarajevo dort einrückte, erfolgte die Verhaftung der Rädelsführer, die ſich wegen öffentlicher Gewalttätigkeit zu verantworten haben werden. Der Bezirksvorſteher ſoll vom Dienſte ſuspendiert worden ſein. Von einer Perſönlichkeit, die aus ihrer Amts- tätigkeit Rogatica kennt, wird uns geſchrieben: Die Stadt Rogatica zählt etwa bei 3000 Einwohner, 8% davon ſind Moslims, der Reſt Serben und Spaniolen, der Bezirk Rogatica zählt bei 30.000 Einwohner, zur Hälfte Serben und zur Hälfte Moslims. Die Moslims gehören zu den älteſten adeligen Familien des Landes an, ſo die einſt mächtigen Familien: Seinpaſic, Brankovic, Sokolovic uſw. Rogatica liefert die meiſten Ulemas und Scheriatsrichter. Die Moslims in Rogatica und Umgebung ſind ſehr religiös und korantreu, jedoch ſehr brave und anſtändige, frenndliche und entgegenkommende Leute. Die Serben in der Stadt und Umgebung ſind aus Serbien und Montenegro im vorigen und in dieſem Jahrhundert eingewanderten Bauern, welche in den wüſten Ländereien von den Begs angeſiedelt wurden. Trotzdem aber beſteht ſeit jeher ein Haß zwiſchen Serben und Moslim, welcher auch nach der Okkupation oft zutage trat, da häufig moslimitiſche Güter in Brand geſteckt wurden, namentlich am Glaſinae und in Praca in den Jahren 1889—1894. In Sarajevo glaubte man das Uebel dadurch ausrotten zu können, daß man zur Beruhigung der Serben einen ſerbiſchen Bezirksleiter nach Rogatica gab, nämlich Konſtantin Cukovic, einen ver- unglückten Kaufmann. Seit ſeiner Ankunft in Rogatica im Jahre 1905 war die Haltung der Serben gegen die Moslim noch feindlicher als vorher: Brände türkiſcher Häuſer, Tot- ſchläge, Verweigerung der Abgabe an die Begs kamen noch im größeren Maße als früher war. Daß es diesmal zu ernſteren Verwicklungen kommen könnte, glauben wir nicht. Die Leichenfunde in Laporte. Der New-Yorker Korreſpondent des „Corriere della Sera“ meldet ſeinem Blatte eine neue Verſion über die myſteriöſen Leichenfunde in Laporte, die jetzt aufgetaucht iſt und die, wenn ſie ſich bewahrheiten ſollte, geeignet wäre, der ſchaurigen Affäre eine ganz andere Löſung zu geben. Danach wäre Frau Guineß, die bekanntlich die Er- mordung ihrer drei Kinder und zahlreicher anderer Perſonen beſchuldigt wird, keine Mörderin, ſondern eine ſehr achtbare, ehrſame Frau, die ihre Kinder zärtlich liebte und ſich dadurch ihren Unterhalt verdiente, daß ſie die Leichen, welche die amerikaniſchen Studenten der Medizin in den anatomiſchen Inſtitution ſezierten und zerlegten, ſich zuſenden ließ und deren Beerdigung beſorgte. Das Begraben von Leichen außerhalb der Friedhöfe iſt nach amerikaniſchem Geſetze nicht ſtrafbar. Unterſtützt wird dieſe Hypotheſe durch die Tatſache, daß ſämtliche im Garten der Guineß vergrabenen Leichen zerſchnitten ſind und daß die Zerlegung derſelben ganz zweifellos von fach- kundiger Hand ausgeführt wurde. Touriſtenunglück auf der Hohen Wand. Aus Grünbach am Schneeberg, 11. d., wird uns berichtet: Geſtern nachmittags verunglückte auf dem Kanzelſteig auf der Hohen Wand ein Wiener Touriſt und wurde ſehr ſchwer verletzt. Der Wiener Touriſtenverein „Die Naturfreunde“ veranſtaltete geſtern eine Partie auf die Hohe Wand, an welcher ſich un- gefähr 600 Perſonen beteiligten. Einige Teilnehmer machten die Kletterpartie auf den Kanzelſteig. Durch Los- löſung des Geſteins wurde eine andere dieſer Kletterpartie nachfolgende Geſellſchaft getroffen und infolge des Stein- ſchlages ein gewiſſer Guſtav Wiener, in Wien, 17. Bezirk wohnhaft, ſehr ſchwer verletzt. Es wurden ihm einige Rippen gebrochen, da große Stein- ſtücke auf ihn herabfielen. Wiener konnte ſich nicht mehr von der Stelle bewegen und mußte von der Geſell- ſchaft unter ſchwierigen Verhältniſſen nach Höflein ge- bracht werden. Daſelbſt wurde der Gemeindearzt von Grünbach Dr. Felgenhauer geholt, welcher dem Ver- letzten erſte Hilfe leiſtete und ihn von Höflein per Wagen nach Grünbach transportieren ließ. Der Verunglückte wurde abends von Grünbach nach Wien befordert. Die Rache des Bankerotteurs. Sein eigenes Haus in die Luft geſprengt. Aus Mailand wird uns vom 10. d. berichtet: In Pallanza bei Mailand wurden geſtern nachts die Einwohner plötzlich durch drei fürchterliche Detonationen aus dem Schlafe geweckt. Die erſchreckten Bewohner eilten auf die Straße und da ſtellte ſich heraus, daß ein neues Gebäude, das von der Familie Tacchini in der Nähe der Kirche erbaut und erſt vor kurzer Zeit fertiggeſtellt worden war, in Trümmern lag. Die polizei- lichen Erhebungen ergaben, daß das Haus mit Dynamit in die Luft geſprengt worden war. Da nun der Eigen- tümer des Hauſes in Konkurs geraten war und das Haus demnächſt zur exekutiven Feilbietung kommen ſollte, der Sohn des Beſitzers aber verſchwunden iſt, ſo nimmt die Polizei an, daß der Sohn Tacchinis die Tat aus Groll darüber verübt hat, daß das Haus in fremde Hände kommen ſoll. Glücklicherweiſe iſt kein Menſchen- leben zu beklagen und auch niemand verletzt worden. Das Regime der magyariſchen Koalition. Wie Miniſter Koſſuth den Kaiſer be- ſchimpfen läßt. Die „ritterliche Nation“. Das offizielle Organ der Unabhängigkeitspartei und zugleich erklärte Leibblatt des ungariſchen Handelsminiſters Koſſuths „Budapeſt“, bringt geſtern auf der erſten Seite ein Bild „Das große Jubiläum“, in dem das Regierungsjubiläum unſeres Monarchen und insbeſondere die Huldigung der deutſchen Fürſten in ſchändlicher Weiſe verhöhnt wird. Die Gratulation der deutſchen Majeſtäten wird in folgender Weiſe bildlich verſpottet: Die deutſchen Fürſten erſcheinen als bezopfte Kartenkönige in Schönbrunn, das als ein Kartenhaus dargeſtellt iſt, und huldigen einem auf den Throne ſitzenden — die erhabene Geſtalt unſeres Monarchen wagte der freche Zeichner des Koſſuthorganes doch nicht zu bringen — abſcheulich karikierten Doppel- aar, der das äußere eines ſchrecklich zerzauſten, dem Ver- enden nahen Aasgeiers bietet. Man verſteht die ver- brecheriſche, ſchamloſe Symbolik der Zeichnung. Es iſt überflüſſig, ein Wort der Kritik über dieſe Schamloſigkeit des Blattes Koſſuths zu verlieren, der die Majeſtät, deren Miniſter und Geheimrat er iſt und die ihn erſt vor kurzem in ihrer unendelichen Nachſicht mit einem hohen Orden ausgezeichnet hat, ſo unflätig und auf aller Ritterlichkeit hohnſprechende Weiſe verunglimpfen läßt. Auswärtige Agenten in Ungarn. Der „Magyar Hirlap“, das Organ des Grafen Andraſſy, teilt mit, daß er die Behauptung, welche Baron Aehrenthal in einem „lendenlahmen Communiqué“ widerruft, vollſtändig aufrecht halte. „Magyar Hirlap“ will nicht allein für das Faktum, daß Baron Aehrenthal wirk- lich dieſe Aeußerung gemacht, ſondern auch dafür unbe- dingteinſtehen, „daß im öffentlichen Leben Ungarns viele Individuen Rollen ſpielen, die bezahlte Agenten einer aus wärtigen Regierung ſeien, und daß die ausländiſchen Agen- ten auch anviele magyariſche Abgeord- nete herankommen. Es verkehren Individuen in Kreiſen des politiſchen Lebens, die von Petersburg, Paris und ganz beſonders Belgrad regelmäßigen Sold beziehen und nicht nur einzelne Abgeordnete, ſondern auch ganze Parteiſchattierungen für den Dienſt dieſer Intereſſen zu gewinnen trachten. Der ungariſche Ackerbauminiſter Daranyi und die beiden Staatsſekretäre im Ackerbauminiſterium Mezöſſy und Ottlik ſind geſtern abends in Wien eingetroffen. Telegramme. Eine Hetzrede des Abgeordneten Dr. Weidenhoffer. Baden, 11. Mai. (Privattelegramm.) Der deutſch- nationale Abg. Weidenhoffer hielt geſtern in einer liberalen Verſammlung eine Brandrede gegen die Chriſtlich- ſozialen. Bezüglich der Wahrmundaffäre, meinte er, werde die Siſtierung der Vorleſungen über Kirchenrecht, welche Skandale verhindern ſollte, nun erſt recht zu Skan- dalen führen, da ſich die freiſinnigen Studenten eine ſolche Maßnahme nicht gefallen laſſen können. Vom Deutſchtum der Chriſtlichſozialen halte er (Dr. Weidenhoffer, der den ſozialdemokratiſchen Tſchechen von Stockerau ſeine Wahl verdankt!) nichts. Kürzlich habe Dr. Lueger an Dr. Chiari den bekannten Brief ge- richtet, in welchem die Chriſtlichſozialen erklären, daß ſie in nationaler Beziehung mit den Deutſchfreiheitlichen Schulter an Schulter kämpfen wollen. Als vor einigen Tagen bei dem Bankett der Stadt Prag für die Teilnehmer am Leichenbegängniſſe des jungtſchechi- ſchen Abg. Dr. Herold von den dortigen Slaven aller Nationalitäten die allſlaviſche Solidarität gegen die Deut- ſchen proklamiert wurde, haben die Chriſtlichſozialen ruhig (!) daran teilgenommen. Ja ſelbſt als Beſchimpfungen der Deutſchen vorkamen, ſeien die Vertreter der chriſtlichſozialen Partei nicht weggegangen, im Gegenteil, der Abg. Kienzl habe den Tſchechen noch gedankt. (Das iſt eine dreiſte Enſtellung. Kienzl hat den Tſchechen eine ge- hörige Lektion gegeben. Daß die anweſenden deutſchen Chriſtlichſozialen die tſchechiſchen Reden nicht ſofort verſtanden, iſt doch kein Grund zu Verdächtigungen. Weidenhoffer ſollte ſich lieber mit ſeinen deutſchen Burſchaftern befaſſen, die ſich offen mit den ärgſten tſchechiſchen Hetzern gegen die deutſchen Chriſtlichſozialen und gegen die — deutſchfreiſinnigen Profeſſoren verbrüdern!) Der Streik gegen das Studium. Prag, 10. Mai. (Privattelegramm.) Wie der Maſarykſche „Cas“ meldet, hätten die freiſinnigen Kreiſe der tſchechi- ſchen Studentenſchaft die Frage erwogen, in welcher Weiſe ſie in den Kampf für Wahrmund einzugreifen hätten. Es wurde beſchloſſen, abzuwarten, ob die deutſchfreiſinnige Studentenſchaft in den nächſten Tagen wirklich in den Generalſtreik eintreten werde. Jedenfalls werden bereits in den allernächſten Tagen einige Proteſtverſammlungen ſlaviſcher Studenten in dieſer Angelegenheit ſtattfinden. Die tſchechiſche Studentenſchaft hoffe, die Affäre Wahrmund werde die Aktion zur Abtren- nung der theologiſchen Fakultäten von den Univerſitäten(!) beſchleunigen und verſchärfen. Jedenfalls ſeien ſtürmiſche Vorgänge an den Univerſitäten zu erwarten. Der Delegat der Inns- brucker Burſchenſchaften, welcher dieſer Tage hier weilte, habe auch mit den tſchechiſchen Studenten Verhandlungen gepflogen, um ſie für den Streik zu gewinnen. (Und da wagt es die freiſinnige Preſſe, den Kampf gegen das Studium als eine deutſche, nationale Angelegenheit hinzuſtellen!) Aus Rußlands Diplomatie. St. Petersburg, 10. Mai. Wirklicher geheimer Rat Graf Pahlen wurde zum Geſandten im Haag ernannt. Iswalsky in Berlin. Berlin, 10. Mai. Der „Figaro“ meldet aus verläß- licher Quelle, das der ruſſiſche Miniſter des Aeußern Is- wolsky gegen Ende Mai nach Berlin kommt, um dort in einer diplomatiſchen Konferenz, die ſich mit der Bal- kanfrage beſchäftigen wird, den Vorſitz zu führen. Die Munizipalratswahlen in Frankreich. Paris, 10. Mai. Bei den engeren Wahlen für den Pariſer Munizipalrat wurden 18 bisherige und 7 neue Munizipalräte gewählt. Die Zuſammenſetzung des neuen Munizipalrates dürfte vom parteipolitiſchen Standpunkte die gleiche bleiben wie bisher. Einige geeinigte Sozial- demokraten verloren ihre Sitze an Radikale. In der Stadt herrſcht Ruhe. Paris, 10. Mai. Bei den Stichwahlen für die Munizipalräte in den Departements erlitten die Sozialdemokraten weitere Verluſte. In Saint Etienne verloren ſie die Mehrheit, welche auf die Liberalen überging. In Toulouſe errangen die Sozialiſtiſch-Radikalen, in Breſt die fortſchrittlichen Liberalen die Majorität. In Lyon verloren die Sozial- demokraten ſechs Sitze. In Lille wurden die fortſchritt- lichen Liberalen gewählt. Auch in Roubaix unterlagen die geeinigten Sozialdemokraten. Dagegen behaupteten die Sozialdemokraten St. Quentin und gewannen die Majorität in Nimes. In Marſeille beſteht der Munizipalrat zu gleichen Teilen aus Sozialdemokraten und Progreſſiſten. Kirchliches. — Provinzialwahl bei den Barmherzigen Brüdern. Im Konvente der Barmherzigen Brüder in der Leopoldſtadt wird gegenwärtig das Provinzwahlkapitel abgehalten, wozu P. Kaſſianus Maria Gaſſer aus Rom hier eingetroffen iſt. Unter ſeinem Vorſitze wurde geſtern den 10. d. M. von den ſämtlichen Prioren der Provinz der bisherige Provinzial P. Eduardus Stur für das nächſte Triennium einſtimmig wiedergewählt.

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 130, Wien, 11.05.1908, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost130_1908/5>, abgerufen am 21.11.2024.