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Reichspost. Nr. 212, Wien, 18.09.1906.

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212 Wien, Dienstag Reichspost 18. September 1906

[Spaltenumbruch]
Streiflichter.
Die Macht der Presse.

Die Gesamtzahl der jährlich verausgabten
Zeitungsnummern ist nach einer neueren Statistik
auf etwa 12.000 Millionen Exemplare zu schätzen.
Um sich einen Begriff von dieser ungeheueren
Menge zum machen, sei nur gesagt, daß man mit
diesen Zeitungen eine Fläche von nahezu 30.000
Quadratkilometern bedecken könnte. Das Papier-
gewicht beträgt rund 780.000 Tonnen. Sollte
diese Auflage von einer einzigen Maschine gedruckt
werden, so würde die Gesamtauflage, wenn pro
Sekunde eine Zeitung gedruckt würde, nach 333
Jahren endlich erscheinen können. Aufeinander-
geschichtet würde sie die ansehnliche Höhe von rund
80.000 Metern erreichen. Angenommen, der einzelne
Mensch widme dem Lesen seiner Zeitung nur fünf
Minuten im Tag, so würde die Zeit, die von der
Gesamtbevölkerung der Erde zum Lesen ihrer
Zeitung pro Jahr verbraucht wird, gleich sein
100.000 Jahren. Eine ganz hübsche Studierzeit,
um aus schlechten Zeitungen Schlechtes, aus guten
Zeitungen Gutes aufzunehmen! Und nun stelle
man sich vor, daß das internationale Judentum
immer mehr sich dieses Rieseninstrumentes der Presse
bemächtigt und durch dasselbe zu den Völkern
spricht. Man zeige uns eine Gefahr, ähnlich groß
für die arischen Völker!




Die Kreuzelschreiber vom "Extrablatt".

Das Interpellationsrecht im Gemeinderat
von Wien ist in der letzten Sitzung dieser Körper-
schaft von einem Mitglied der autonomen Ver-
tretung der Stadt zu einer Anfrage über den
neuen Kurs im Jubiläums-Stadttheater benützt
worden und diese Anfrage ist bei den Liberalen
Alt und Jung stark in die Glieder gefahren. Ihre
Zeitungen regen sich darüber gewaltig auf
und beim "Illustrierten Wiener Extrablatt", dem
jüngsten Adoptionskind der Elbemühl, knittert
und kracht es bis ins Gebälke des Leitartikels
hinauf. Es kommt dem politischen Kreuzelschreiber
vom "Extrablatt" so vor, als wären die Sieb-
ziger-Jahre wieder da mit ihrem Kulturkampf.
Beim Lesen der Interpellation Laux ist ihm deren
geheimer Zusammenhang mit den -- Katholiken-
tagen in Essen und Eger offenbar geworden. Ob
man denn vor den Herren Bauer und
Basch etwas verheimlichen könnte! Die
Menschheit kann froh sein, daß sie solche Seismo-
graphen hat, die mit einem aus dem Orient im-
portierten Feingefühl geheime Umsturzbestrebungen
ahnen und rechtzeitig vorher anzeigen. Der Feind
schläft nicht, meint der liberale Kreuzelschreiber,
er interpelliert und fährt dann dem Steinklopfer-
hanns in die Haare. Er verhängt die Horizonte.
-- Schröcklich, schröcklich! möchte man sagen. Was
doch alles vorgeht in der Welt, ohne daß Un-
eingeweihte eine Ahnung haben! Der Mann vom
"Montag-Journal" ist auch ein kluger Kopf, da
er literarhistorisch feststellt, daß Goethe nicht an
die christlich-soziale Bewegung in Wien gedacht
hat, als er den "Faust" schrieb, und Anzengruber
nicht, als er den "Pfarrer von Kirchfeld" zu
Papier brachte. Das sind beachtenswerte Auf-
schlüsse über das Schaffen unserer Klassiker und
Nachklassiker. Aber am besten wissen Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft doch die Kreuzelschreiber
und Leitartikelschreiber vom "Extrablatt" zu
deuten. Daß Anzengruber solche Fürsprecher
bekommt, daß hat er doch nicht verdient.




Auch bei uns beherzigenswert.

Verschiedene deutschkonservative Abgeordnete,
u. a. der Abg. Etz, haben sich darauf berufen, daß
in der Zentrumspartei Deutschlands eine Ab-
neigung gegen das allgemeine gleiche Stimm-
recht bestehe, und haben daraus den Schluß ge-
zogen, daß auch in Oesterreich christliche Volks-
parteien nicht für das allgemeine gleiche Wahlrecht
stimmen dürften; sie verlangten vielmehr, daß dem
mit Besitz oder Bildung begabten Wähler zwei
oder mehr Stimmen anstatt einer verliehen
werden. Wie falsch die Berufung auf die An-
schauung unter den Katholiken Deutschlands ist,
geht aus einem Aufsatze der "Köln. Volksztg."
(Nr. 740) hervor, die einigen in einem Nicht-
parteiblatte erschienenen Einwendungen gegen das
allgemeine gleiche Wahlrecht mit folgendem er-
widert:

"An und für sich, meint er (der Verfasser jener
Einwendungen), sei es ein Unsinn, "daß der dümmste
ungebildete Trottel mit dem intelligentesten Manne
das gleiche Wahlrecht hat". Solche Einwände gehen
von einer vollständigen Verkennung der
[Spaltenumbruch] prinzipiellen Grundlage des allgemeinen Wahlrechtes
aus. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist ein-
fach die politische Folgerung aus der allgemeinen
Rechtsgleichheit der Bürger im modernen Staate,
und diese ist wieder das notwendige Seitenstück zur
Gleichheit der Pflichten. Auch mit dem Einwurf
darf man uns nicht kommen, daß doch auch die Steuer-
pflicht keine gleiche sei, und daß also zum wenigsten
nach der Steuerleistung auch das Wahlrecht abgestuft
werden müsse. Steuerleistung und Wahlrecht oder
politische Intelligenz sind durchaus keine ver-
gleichbaren
oder innerlich zusammenhängenden
Dinge ... "Bildung" ist ja nicht gleichbedeutend mit
Intelligenz, am allerwenigsten mit politischer Intelligenz.
Niemand wird zum Beispiel bestreiten können,
daß aus dem Arbeiterstande verhältnis-
mäßig sehr viele Leute mit hoher politischer
Befähigung hervorgegangen sind. Aber auch der
Handwerkerstand und Bauernstand haben
solche führenden Köpfe hervorgebracht und eine Partei
wie das Zentrum, die stolz darauf ist, solche Männer
in die Parlamente entsandt zu haben, wäre gewiß die
letzte, die berufen wäre, Wahlrechtsbeschränkungen für
"Ungebildete" zu befürworten. Wie soll nun diese
Intelligenz nachgewiesen werden? Etwa durch ein
politisches Intelligenz- oder Bürgerexamen? Oder durch
eine der bestehenden Prüfungen nach Art des "Ein-
jährigen"? Ganz abgesehen davon, daß zur Vorbereitung
auf solche Examina auch wieder Geld gehört, ein
Bildungsvorrecht also in sehr vielen Fällen nur ein
verkapptes Geldprivileg ist, werden durch alle Examina
der Welt niemals die künftigen politischen Führer aus
der großen Masse herausgesiebt werden. Und ander-
seits wird die größere politische Intelligenz unter
einigermaßen normalen Verhältnissen auf dem politischen
Fechtboden sich stets Geltung verschaffen, auch wenn
sie im Examen bloß Note 4 erhalten haben sollte.
Damit ist denn auch bereits die Ansicht widerlegt, als
ob das gleiche Wahlrecht ein Unrecht gegen die größere
Intelligenz wäre. Diese verleiht ihrem Besitzer, wenn
er will, einen weit größeren politischen Einfluß als
ein Wahlrecht."

Die katholische Zentrumspartei Deutschlands
will, wie man also aus diesen Worten ihres be-
deutendsten Blattes ersieht, mit dem Pluralwahl-
recht nichts zu tun haben. Was den Katholiken
Deutschlands recht ist, kann uns in Oesterreich
gewiß nur billig sein.




Antiduellerfolge in Spanien.

In Spanien, das oft "das klassische Land des
Duells" genannt wurde, hat sich die allgemeine
Meinung über das Duell so vollständig geändert,
daß derjenige, welcher ein Duell ablehnt, anstatt der
unliebsamen Konsequenzen, die er sich durch seine
Ablehnung noch vor zwei Jahren zugezogen hätte,
allgemeiner Billigung sicher sein kann. Anstatt der
Zeichen von Verachtung erhält er die Glückwünsche
der vornehmen Welt. Von vielen Beispielen sei das
des Herrn Eusebius Guell in Barcelona, der sich im
Monat Jänner dieses Jahres im Prado in Madrid
mit dem Senator Ferrer y Vidal hätte schlagen
sollen, erwähnt. Herr Guell lehnte ab und kehrte nach
Barcelona zurück, wo bei ihm Tausende von Gratu-
lationskarten abgegeben wurden. Aufang Februar griff
der Herausgeber der Militärzeitung "Ejercito y Armada"
("Heer und Flotte"), Hauptmann Pinnel in einem Artiel
die Katalonier an. Da die Zeitungen "Diario
Mercantil" (liberal), "Correo Catalon" (karlistisch)
und "Dilu vio" (antiklerikal-republikanisch) gegen die
Anschuldigungen protestiert hatten, forderte Haupt-
mann Pinnel die Herausgeber: aber die drei Herren
lehnten es ab, sich zu schlagen, und jeder einzelne
motivierte seinen Entschluß nach seinen Ueber-
zeugungen. Die Zustimmung war allgemein, ebenso
das Interesse, mit dem man die Darlegungen dieser
Herren, welche in ihren Prinzipien so verschieden
waren und auf verschiedenen Wegen zu demselben
Punkt der Uebereinstimmung gelangten, verfolgte.
Wenige Monate später wurde der Heraus-
geber der Zeitung "Ejercito y Armada", der
nämliche Hauptmann, ein enthusiatischer Anhänger
der Antiduelliga und veröffentlichte am 20. Juni
einen schönen Artikel in seinen Zeitungen:
er tritt jetzt beständig für diese Sache ein. Ende
Februar wurde gelegentlich einer Polemik zwischen
zwei Zeitungen in Barcelona einer der Herausgeber
von dem andern gefordert, aber er antwortete, daß
er zum erstenmal in seinem Leben, um sich Genug-
tuung zu verschaffen, einen wirksameren Weg ein-
schlagen würde; er sandte den beleidigenden Artikel
dem Strafgericht. Ebenso handelte ein anderer Jour-
nalist, der seinen Kollegen vor Gericht zitierte, wo
jener vollständige Satisfaktion gab, indem er seine
beleidigenden Worte widerrief. Jüngst erst hat der
Herausgeber einer katalonischen Zeitung einen andern
Herausgeber, mit dem er eine Preßpolemik geführt
hatte, mit Stockschlägen traktiert; dieser fand es für
töricht, seine Karte dem Angreifer zu übergeben, er
rief einfach einen Polizeimann herbei und
ließ den Angreifer arretieren. Der Gouverneur ließ
beide Herren kommen und legte ihnen in einem
Vortrag über den Zwischenfall seine Ansicht offen
dar, worauf sich der Schuldtragende ins Bureau
seines Kollegen begab, um sich bei ihm zu ent-
schuldigen, und in dieser Weise wurde die Angelegen-
heit befriedigend erledigt. Die Regierung, welche
der Strömung der öffentlichen Meinung folgt, ist
noch mehr in der Lage als diese, ihre Maßregeln
gegen die Duelle zu ergreifen, welche der größte
[Spaltenumbruch] Teil der intelligenten Kreise für eine verbrecherische
Dummheit erklärt, und beweist dies auch in den
offiziellen Dokumenten. Die Spitzen der Regierung
griffen bald in ihrer amtlichen Eigenschaft, bald als
private Mittelsmänner ein, um die Duelle, welche in
schweren Fällen im Parlament drohten, zu ver-
hindern. Wir geben ein Beispiel von der ersten
der beiden Formen ihres Vorgehens: Am 16. Fe-
bruar hatten der Deputierte Doval und der Ex-
deputierte Segni am Schlusse der Sitzung einen heftigen
Streit und nannten sich sofort ihre Zeugen. Der Präsident
des Parlaments, Canalejas, der von dieser Affäre
verständigt worden war, gab dem Zivilgouverneur
von Madrid, Ruiz Jimenez, den Befehl, das Duell
um jeden Preis zu verhindern. Den gleichen Auftrag
gaben der Ministerpräsident Moret und der Staats-
minister. Jimenez, welcher beide Herren schon vor-
geladen hatte, befahl, sie unverzüglich zu verhaften,
und da sie nicht versprechen wollten, sich nicht zu
schlagen, blieben sie trotz ihrer Vorrechte als Ab-
geordnete so lange in Haft, bis ihre Zeugen dem
Statthalter die geschriebene und unterzeichnete Er-
klärung vorwiesen, durch welche die Frage freund-
schaftlich erledigt worden. Dasselbe geschah bei einer
Affäre zwischen Castro und dem Abgeordneten
Gasset. Diese wurden im Moment, da sie den
Kampfplatz betraten und obwohl sie alle Vorsichts-
maßregeln getroffen hatten, um das Duell vor den
Behörden zu verheimlichen, überrascht und mit
Gewalt in die Statthalterei gebracht, wo sie so lange
verblieben, bis sie ihr Ehrenwort gaben, daß sie
sich nicht duellieren würden. Schon im Dezember
1905 verhinderte der Gouverneur von Barcelona,
der Herzog von Bibona, daß das Duell zwischen
den beiden Fechtlehrern Del Grece (Italiener) und
Kirchhoffer (Franzose) auf spanischem Boden stattfand.
In einer der Parlamentssitzungen im Monat März
gab es einen schweren Zwischenfall zwischen einem
Deputierten und einem Sohne eines Ministers:
ersterer griff in einer Rede diesen Minister an, der
zweite antwortete mit Stockschlägen. Der Deputierte
fragte den Herzog von Pamames um seinen Rat;
dieser erwiderte, daß seiner Ansicht nach ein
Deputierter, der in seinem parlamentarischen Berufe
insultiert oder beleidigt worden ist, niemals zu
einem Duell greifen dürfe. Der Herzog wiederholte
dies am nächsten Tage im Parlament, und der De-
putierte erklärte, er vertraue seine Ehre dem Herzog
von Pamames an.




Fahnenweihefest.

Der Wiener katholische Jünglingsverein
"Maria Hilf"
hatte am gestrigen Sonntag einen
Ehrentag zu feiern. Es galt der Weihe einer Fahne
für die unter seiner Leitung stehenden Knaben-
patronage.
Durch ein am Samstag der Fahnen-
patin, der Gemahlin des Bezirksvorstehers Herrn
kaiserlichen Rates Weidinger dargebrachtes Ständchen
nahm die Feier ihren Anfang. Sonntag früh zogen
die Knabenpatronagen vom 20., 13. und 17. Bezirk
auf, welche sich dem Festzuge anschlossen, der mit
Musikbegleitung sich zur Wohnung der Fahnenpatin
bewegte, wo sie abgeholt und zur Schottenfelder
Kirche geleitet wurde. In der Kirche fanden sich der
Jünglingsverein Hernals und die Männerkongregation
Fünfhaus mit Fahne ein, sowie Gemeinderat
Ahorner, Bezirksvorsteher-Stellvertreter Ohr-
fandl,
die Bezirksräte Dr. Kuhn, Völkl, Köck,
Hold, Schöner
und Kiesel, sowie die
Armenräte Schubert und Obenaus. Die
Festpredigt hielt P. Viktor Kolb S. J., der
in altgewohnter Weise die Herzen aller an sich zog
und in kurzen Zügen die Entstehung und Ent-
wicklung der Patronage schilderte, sowie in warmen
Worten der Gönner und insbesondere der Sankt
Vinzenzkonferenz "St. Laurenz" am Schottenfeld
gedachte. Nach beendeter Predigt nahm Herr
Prälat Rost von den Schotten unter zahlreicher
Assistenz die Weihe der Fahne vor, worauf Prälat
Rost, Herr und Frau Weidinger, P. Kolb,
P. Norbert, Pfarrer Womatschka und Lehrer
Mizerofsky die Nägeln einschlugen. Hierauf zele-
brierte Prälat Rost das Hochamt, wobei der Cäcilien-
chor des Vereines unter Leitung des Kapellmeisters
Peterlini die "Herz Jesu"-Messe von Mitterer in
trefflicher Weise zur Aufführung brachte. Nun be-
wegte sich der Zug, an dessen Spitze die Vereins-
kapelle marschierte, durch einzelne Gassen des Be-
zirkes Neubau zurück zum Vereinshaus, wo der
zirka 200köpfigen Schar von Knaben ein Imbiß ge-
reicht wurde. Nachmittags fand im Baumgartner
Kasino ein animiertes Fest statt, das trotz des
schlechten Wetters zahlreich besucht war.




Soziale Rundschau.
Eine Reform des Unfallgesetzes.

Die
Abgeordneten der christlich-sozialen Partei
werden beim Wiederzusammentritt des Reichsrates
einen Gesetzentwurf einbringen, welcher die Re-
form des Unfallgesetzes speziell für das Eisen-
bahnpersonal
bezweckt und gegebenen Falles
für die Eisenbahnangestellten ein Ausnahmsgesetz
verlangt. Die Hauptforderungen, die im Gesetz-
entwurf erhoben werden, sind: 1. Eine gründliche

212 Wien, Dienstag Reichspoſt 18. September 1906

[Spaltenumbruch]
Streiflichter.
Die Macht der Preſſe.

Die Geſamtzahl der jährlich verausgabten
Zeitungsnummern iſt nach einer neueren Statiſtik
auf etwa 12.000 Millionen Exemplare zu ſchätzen.
Um ſich einen Begriff von dieſer ungeheueren
Menge zum machen, ſei nur geſagt, daß man mit
dieſen Zeitungen eine Fläche von nahezu 30.000
Quadratkilometern bedecken könnte. Das Papier-
gewicht beträgt rund 780.000 Tonnen. Sollte
dieſe Auflage von einer einzigen Maſchine gedruckt
werden, ſo würde die Geſamtauflage, wenn pro
Sekunde eine Zeitung gedruckt würde, nach 333
Jahren endlich erſcheinen können. Aufeinander-
geſchichtet würde ſie die anſehnliche Höhe von rund
80.000 Metern erreichen. Angenommen, der einzelne
Menſch widme dem Leſen ſeiner Zeitung nur fünf
Minuten im Tag, ſo würde die Zeit, die von der
Geſamtbevölkerung der Erde zum Leſen ihrer
Zeitung pro Jahr verbraucht wird, gleich ſein
100.000 Jahren. Eine ganz hübſche Studierzeit,
um aus ſchlechten Zeitungen Schlechtes, aus guten
Zeitungen Gutes aufzunehmen! Und nun ſtelle
man ſich vor, daß das internationale Judentum
immer mehr ſich dieſes Rieſeninſtrumentes der Preſſe
bemächtigt und durch dasſelbe zu den Völkern
ſpricht. Man zeige uns eine Gefahr, ähnlich groß
für die ariſchen Völker!




Die Kreuzelſchreiber vom „Extrablatt“.

Das Interpellationsrecht im Gemeinderat
von Wien iſt in der letzten Sitzung dieſer Körper-
ſchaft von einem Mitglied der autonomen Ver-
tretung der Stadt zu einer Anfrage über den
neuen Kurs im Jubiläums-Stadttheater benützt
worden und dieſe Anfrage iſt bei den Liberalen
Alt und Jung ſtark in die Glieder gefahren. Ihre
Zeitungen regen ſich darüber gewaltig auf
und beim „Illuſtrierten Wiener Extrablatt“, dem
jüngſten Adoptionskind der Elbemühl, knittert
und kracht es bis ins Gebälke des Leitartikels
hinauf. Es kommt dem politiſchen Kreuzelſchreiber
vom „Extrablatt“ ſo vor, als wären die Sieb-
ziger-Jahre wieder da mit ihrem Kulturkampf.
Beim Leſen der Interpellation Laux iſt ihm deren
geheimer Zuſammenhang mit den — Katholiken-
tagen in Eſſen und Eger offenbar geworden. Ob
man denn vor den Herren Bauer und
Baſch etwas verheimlichen könnte! Die
Menſchheit kann froh ſein, daß ſie ſolche Seismo-
graphen hat, die mit einem aus dem Orient im-
portierten Feingefühl geheime Umſturzbeſtrebungen
ahnen und rechtzeitig vorher anzeigen. Der Feind
ſchläft nicht, meint der liberale Kreuzelſchreiber,
er interpelliert und fährt dann dem Steinklopfer-
hanns in die Haare. Er verhängt die Horizonte.
— Schröcklich, ſchröcklich! möchte man ſagen. Was
doch alles vorgeht in der Welt, ohne daß Un-
eingeweihte eine Ahnung haben! Der Mann vom
„Montag-Journal“ iſt auch ein kluger Kopf, da
er literarhiſtoriſch feſtſtellt, daß Goethe nicht an
die chriſtlich-ſoziale Bewegung in Wien gedacht
hat, als er den „Fauſt“ ſchrieb, und Anzengruber
nicht, als er den „Pfarrer von Kirchfeld“ zu
Papier brachte. Das ſind beachtenswerte Auf-
ſchlüſſe über das Schaffen unſerer Klaſſiker und
Nachklaſſiker. Aber am beſten wiſſen Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft doch die Kreuzelſchreiber
und Leitartikelſchreiber vom „Extrablatt“ zu
deuten. Daß Anzengruber ſolche Fürſprecher
bekommt, daß hat er doch nicht verdient.




Auch bei uns beherzigenswert.

Verſchiedene deutſchkonſervative Abgeordnete,
u. a. der Abg. Etz, haben ſich darauf berufen, daß
in der Zentrumspartei Deutſchlands eine Ab-
neigung gegen das allgemeine gleiche Stimm-
recht beſtehe, und haben daraus den Schluß ge-
zogen, daß auch in Oeſterreich chriſtliche Volks-
parteien nicht für das allgemeine gleiche Wahlrecht
ſtimmen dürften; ſie verlangten vielmehr, daß dem
mit Beſitz oder Bildung begabten Wähler zwei
oder mehr Stimmen anſtatt einer verliehen
werden. Wie falſch die Berufung auf die An-
ſchauung unter den Katholiken Deutſchlands iſt,
geht aus einem Aufſatze der „Köln. Volksztg.“
(Nr. 740) hervor, die einigen in einem Nicht-
parteiblatte erſchienenen Einwendungen gegen das
allgemeine gleiche Wahlrecht mit folgendem er-
widert:

„An und für ſich, meint er (der Verfaſſer jener
Einwendungen), ſei es ein Unſinn, „daß der dümmſte
ungebildete Trottel mit dem intelligenteſten Manne
das gleiche Wahlrecht hat“. Solche Einwände gehen
von einer vollſtändigen Verkennung der
[Spaltenumbruch] prinzipiellen Grundlage des allgemeinen Wahlrechtes
aus. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht iſt ein-
fach die politiſche Folgerung aus der allgemeinen
Rechtsgleichheit der Bürger im modernen Staate,
und dieſe iſt wieder das notwendige Seitenſtück zur
Gleichheit der Pflichten. Auch mit dem Einwurf
darf man uns nicht kommen, daß doch auch die Steuer-
pflicht keine gleiche ſei, und daß alſo zum wenigſten
nach der Steuerleiſtung auch das Wahlrecht abgeſtuft
werden müſſe. Steuerleiſtung und Wahlrecht oder
politiſche Intelligenz ſind durchaus keine ver-
gleichbaren
oder innerlich zuſammenhängenden
Dinge ... „Bildung“ iſt ja nicht gleichbedeutend mit
Intelligenz, am allerwenigſten mit politiſcher Intelligenz.
Niemand wird zum Beiſpiel beſtreiten können,
daß aus dem Arbeiterſtande verhältnis-
mäßig ſehr viele Leute mit hoher politiſcher
Befähigung hervorgegangen ſind. Aber auch der
Handwerkerſtand und Bauernſtand haben
ſolche führenden Köpfe hervorgebracht und eine Partei
wie das Zentrum, die ſtolz darauf iſt, ſolche Männer
in die Parlamente entſandt zu haben, wäre gewiß die
letzte, die berufen wäre, Wahlrechtsbeſchränkungen für
„Ungebildete“ zu befürworten. Wie ſoll nun dieſe
Intelligenz nachgewieſen werden? Etwa durch ein
politiſches Intelligenz- oder Bürgerexamen? Oder durch
eine der beſtehenden Prüfungen nach Art des „Ein-
jährigen“? Ganz abgeſehen davon, daß zur Vorbereitung
auf ſolche Examina auch wieder Geld gehört, ein
Bildungsvorrecht alſo in ſehr vielen Fällen nur ein
verkapptes Geldprivileg iſt, werden durch alle Examina
der Welt niemals die künftigen politiſchen Führer aus
der großen Maſſe herausgeſiebt werden. Und ander-
ſeits wird die größere politiſche Intelligenz unter
einigermaßen normalen Verhältniſſen auf dem politiſchen
Fechtboden ſich ſtets Geltung verſchaffen, auch wenn
ſie im Examen bloß Note 4 erhalten haben ſollte.
Damit iſt denn auch bereits die Anſicht widerlegt, als
ob das gleiche Wahlrecht ein Unrecht gegen die größere
Intelligenz wäre. Dieſe verleiht ihrem Beſitzer, wenn
er will, einen weit größeren politiſchen Einfluß als
ein Wahlrecht.“

Die katholiſche Zentrumspartei Deutſchlands
will, wie man alſo aus dieſen Worten ihres be-
deutendſten Blattes erſieht, mit dem Pluralwahl-
recht nichts zu tun haben. Was den Katholiken
Deutſchlands recht iſt, kann uns in Oeſterreich
gewiß nur billig ſein.




Antiduellerfolge in Spanien.

In Spanien, das oft „das klaſſiſche Land des
Duells“ genannt wurde, hat ſich die allgemeine
Meinung über das Duell ſo vollſtändig geändert,
daß derjenige, welcher ein Duell ablehnt, anſtatt der
unliebſamen Konſequenzen, die er ſich durch ſeine
Ablehnung noch vor zwei Jahren zugezogen hätte,
allgemeiner Billigung ſicher ſein kann. Anſtatt der
Zeichen von Verachtung erhält er die Glückwünſche
der vornehmen Welt. Von vielen Beiſpielen ſei das
des Herrn Euſebius Guell in Barcelona, der ſich im
Monat Jänner dieſes Jahres im Prado in Madrid
mit dem Senator Ferrer y Vidal hätte ſchlagen
ſollen, erwähnt. Herr Guell lehnte ab und kehrte nach
Barcelona zurück, wo bei ihm Tauſende von Gratu-
lationskarten abgegeben wurden. Aufang Februar griff
der Herausgeber der Militärzeitung „Ejercito y Armada“
(„Heer und Flotte“), Hauptmann Pinnel in einem Artiel
die Katalonier an. Da die Zeitungen „Diario
Mercantil“ (liberal), „Correo Catalon“ (karliſtiſch)
und „Dilu vio“ (antiklerikal-republikaniſch) gegen die
Anſchuldigungen proteſtiert hatten, forderte Haupt-
mann Pinnel die Herausgeber: aber die drei Herren
lehnten es ab, ſich zu ſchlagen, und jeder einzelne
motivierte ſeinen Entſchluß nach ſeinen Ueber-
zeugungen. Die Zuſtimmung war allgemein, ebenſo
das Intereſſe, mit dem man die Darlegungen dieſer
Herren, welche in ihren Prinzipien ſo verſchieden
waren und auf verſchiedenen Wegen zu demſelben
Punkt der Uebereinſtimmung gelangten, verfolgte.
Wenige Monate ſpäter wurde der Heraus-
geber der Zeitung „Ejercito y Armada“, der
nämliche Hauptmann, ein enthuſiatiſcher Anhänger
der Antiduelliga und veröffentlichte am 20. Juni
einen ſchönen Artikel in ſeinen Zeitungen:
er tritt jetzt beſtändig für dieſe Sache ein. Ende
Februar wurde gelegentlich einer Polemik zwiſchen
zwei Zeitungen in Barcelona einer der Herausgeber
von dem andern gefordert, aber er antwortete, daß
er zum erſtenmal in ſeinem Leben, um ſich Genug-
tuung zu verſchaffen, einen wirkſameren Weg ein-
ſchlagen würde; er ſandte den beleidigenden Artikel
dem Strafgericht. Ebenſo handelte ein anderer Jour-
naliſt, der ſeinen Kollegen vor Gericht zitierte, wo
jener vollſtändige Satisfaktion gab, indem er ſeine
beleidigenden Worte widerrief. Jüngſt erſt hat der
Herausgeber einer kataloniſchen Zeitung einen andern
Herausgeber, mit dem er eine Preßpolemik geführt
hatte, mit Stockſchlägen traktiert; dieſer fand es für
töricht, ſeine Karte dem Angreifer zu übergeben, er
rief einfach einen Polizeimann herbei und
ließ den Angreifer arretieren. Der Gouverneur ließ
beide Herren kommen und legte ihnen in einem
Vortrag über den Zwiſchenfall ſeine Anſicht offen
dar, worauf ſich der Schuldtragende ins Bureau
ſeines Kollegen begab, um ſich bei ihm zu ent-
ſchuldigen, und in dieſer Weiſe wurde die Angelegen-
heit befriedigend erledigt. Die Regierung, welche
der Strömung der öffentlichen Meinung folgt, iſt
noch mehr in der Lage als dieſe, ihre Maßregeln
gegen die Duelle zu ergreifen, welche der größte
[Spaltenumbruch] Teil der intelligenten Kreiſe für eine verbrecheriſche
Dummheit erklärt, und beweiſt dies auch in den
offiziellen Dokumenten. Die Spitzen der Regierung
griffen bald in ihrer amtlichen Eigenſchaft, bald als
private Mittelsmänner ein, um die Duelle, welche in
ſchweren Fällen im Parlament drohten, zu ver-
hindern. Wir geben ein Beiſpiel von der erſten
der beiden Formen ihres Vorgehens: Am 16. Fe-
bruar hatten der Deputierte Doval und der Ex-
deputierte Segni am Schluſſe der Sitzung einen heftigen
Streit und nannten ſich ſofort ihre Zeugen. Der Präſident
des Parlaments, Canalejas, der von dieſer Affäre
verſtändigt worden war, gab dem Zivilgouverneur
von Madrid, Ruiz Jimenez, den Befehl, das Duell
um jeden Preis zu verhindern. Den gleichen Auftrag
gaben der Miniſterpräſident Moret und der Staats-
miniſter. Jimenez, welcher beide Herren ſchon vor-
geladen hatte, befahl, ſie unverzüglich zu verhaften,
und da ſie nicht verſprechen wollten, ſich nicht zu
ſchlagen, blieben ſie trotz ihrer Vorrechte als Ab-
geordnete ſo lange in Haft, bis ihre Zeugen dem
Statthalter die geſchriebene und unterzeichnete Er-
klärung vorwieſen, durch welche die Frage freund-
ſchaftlich erledigt worden. Dasſelbe geſchah bei einer
Affäre zwiſchen Caſtro und dem Abgeordneten
Gaſſet. Dieſe wurden im Moment, da ſie den
Kampfplatz betraten und obwohl ſie alle Vorſichts-
maßregeln getroffen hatten, um das Duell vor den
Behörden zu verheimlichen, überraſcht und mit
Gewalt in die Statthalterei gebracht, wo ſie ſo lange
verblieben, bis ſie ihr Ehrenwort gaben, daß ſie
ſich nicht duellieren würden. Schon im Dezember
1905 verhinderte der Gouverneur von Barcelona,
der Herzog von Bibona, daß das Duell zwiſchen
den beiden Fechtlehrern Del Grece (Italiener) und
Kirchhoffer (Franzoſe) auf ſpaniſchem Boden ſtattfand.
In einer der Parlamentsſitzungen im Monat März
gab es einen ſchweren Zwiſchenfall zwiſchen einem
Deputierten und einem Sohne eines Miniſters:
erſterer griff in einer Rede dieſen Miniſter an, der
zweite antwortete mit Stockſchlägen. Der Deputierte
fragte den Herzog von Pamames um ſeinen Rat;
dieſer erwiderte, daß ſeiner Anſicht nach ein
Deputierter, der in ſeinem parlamentariſchen Berufe
inſultiert oder beleidigt worden iſt, niemals zu
einem Duell greifen dürfe. Der Herzog wiederholte
dies am nächſten Tage im Parlament, und der De-
putierte erklärte, er vertraue ſeine Ehre dem Herzog
von Pamames an.




Fahnenweihefeſt.

Der Wiener katholiſche Jünglingsverein
„Maria Hilf“
hatte am geſtrigen Sonntag einen
Ehrentag zu feiern. Es galt der Weihe einer Fahne
für die unter ſeiner Leitung ſtehenden Knaben-
patronage.
Durch ein am Samstag der Fahnen-
patin, der Gemahlin des Bezirksvorſtehers Herrn
kaiſerlichen Rates Weidinger dargebrachtes Ständchen
nahm die Feier ihren Anfang. Sonntag früh zogen
die Knabenpatronagen vom 20., 13. und 17. Bezirk
auf, welche ſich dem Feſtzuge anſchloſſen, der mit
Muſikbegleitung ſich zur Wohnung der Fahnenpatin
bewegte, wo ſie abgeholt und zur Schottenfelder
Kirche geleitet wurde. In der Kirche fanden ſich der
Jünglingsverein Hernals und die Männerkongregation
Fünfhaus mit Fahne ein, ſowie Gemeinderat
Ahorner, Bezirksvorſteher-Stellvertreter Ohr-
fandl,
die Bezirksräte Dr. Kuhn, Völkl, Köck,
Hold, Schöner
und Kieſel, ſowie die
Armenräte Schubert und Obenaus. Die
Feſtpredigt hielt P. Viktor Kolb S. J., der
in altgewohnter Weiſe die Herzen aller an ſich zog
und in kurzen Zügen die Entſtehung und Ent-
wicklung der Patronage ſchilderte, ſowie in warmen
Worten der Gönner und insbeſondere der Sankt
Vinzenzkonferenz „St. Laurenz“ am Schottenfeld
gedachte. Nach beendeter Predigt nahm Herr
Prälat Roſt von den Schotten unter zahlreicher
Aſſiſtenz die Weihe der Fahne vor, worauf Prälat
Roſt, Herr und Frau Weidinger, P. Kolb,
P. Norbert, Pfarrer Womatſchka und Lehrer
Mizerofsky die Nägeln einſchlugen. Hierauf zele-
brierte Prälat Roſt das Hochamt, wobei der Cäcilien-
chor des Vereines unter Leitung des Kapellmeiſters
Peterlini die „Herz Jeſu“-Meſſe von Mitterer in
trefflicher Weiſe zur Aufführung brachte. Nun be-
wegte ſich der Zug, an deſſen Spitze die Vereins-
kapelle marſchierte, durch einzelne Gaſſen des Be-
zirkes Neubau zurück zum Vereinshaus, wo der
zirka 200köpfigen Schar von Knaben ein Imbiß ge-
reicht wurde. Nachmittags fand im Baumgartner
Kaſino ein animiertes Feſt ſtatt, das trotz des
ſchlechten Wetters zahlreich beſucht war.




Soziale Rundſchau.
Eine Reform des Unfallgeſetzes.

Die
Abgeordneten der chriſtlich-ſozialen Partei
werden beim Wiederzuſammentritt des Reichsrates
einen Geſetzentwurf einbringen, welcher die Re-
form des Unfallgeſetzes ſpeziell für das Eiſen-
bahnperſonal
bezweckt und gegebenen Falles
für die Eiſenbahnangeſtellten ein Ausnahmsgeſetz
verlangt. Die Hauptforderungen, die im Geſetz-
entwurf erhoben werden, ſind: 1. Eine gründliche

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[9/0009] 212 Wien, Dienstag Reichspoſt 18. September 1906 Streiflichter. Die Macht der Preſſe. Die Geſamtzahl der jährlich verausgabten Zeitungsnummern iſt nach einer neueren Statiſtik auf etwa 12.000 Millionen Exemplare zu ſchätzen. Um ſich einen Begriff von dieſer ungeheueren Menge zum machen, ſei nur geſagt, daß man mit dieſen Zeitungen eine Fläche von nahezu 30.000 Quadratkilometern bedecken könnte. Das Papier- gewicht beträgt rund 780.000 Tonnen. Sollte dieſe Auflage von einer einzigen Maſchine gedruckt werden, ſo würde die Geſamtauflage, wenn pro Sekunde eine Zeitung gedruckt würde, nach 333 Jahren endlich erſcheinen können. Aufeinander- geſchichtet würde ſie die anſehnliche Höhe von rund 80.000 Metern erreichen. Angenommen, der einzelne Menſch widme dem Leſen ſeiner Zeitung nur fünf Minuten im Tag, ſo würde die Zeit, die von der Geſamtbevölkerung der Erde zum Leſen ihrer Zeitung pro Jahr verbraucht wird, gleich ſein 100.000 Jahren. Eine ganz hübſche Studierzeit, um aus ſchlechten Zeitungen Schlechtes, aus guten Zeitungen Gutes aufzunehmen! Und nun ſtelle man ſich vor, daß das internationale Judentum immer mehr ſich dieſes Rieſeninſtrumentes der Preſſe bemächtigt und durch dasſelbe zu den Völkern ſpricht. Man zeige uns eine Gefahr, ähnlich groß für die ariſchen Völker! Die Kreuzelſchreiber vom „Extrablatt“. Das Interpellationsrecht im Gemeinderat von Wien iſt in der letzten Sitzung dieſer Körper- ſchaft von einem Mitglied der autonomen Ver- tretung der Stadt zu einer Anfrage über den neuen Kurs im Jubiläums-Stadttheater benützt worden und dieſe Anfrage iſt bei den Liberalen Alt und Jung ſtark in die Glieder gefahren. Ihre Zeitungen regen ſich darüber gewaltig auf und beim „Illuſtrierten Wiener Extrablatt“, dem jüngſten Adoptionskind der Elbemühl, knittert und kracht es bis ins Gebälke des Leitartikels hinauf. Es kommt dem politiſchen Kreuzelſchreiber vom „Extrablatt“ ſo vor, als wären die Sieb- ziger-Jahre wieder da mit ihrem Kulturkampf. Beim Leſen der Interpellation Laux iſt ihm deren geheimer Zuſammenhang mit den — Katholiken- tagen in Eſſen und Eger offenbar geworden. Ob man denn vor den Herren Bauer und Baſch etwas verheimlichen könnte! Die Menſchheit kann froh ſein, daß ſie ſolche Seismo- graphen hat, die mit einem aus dem Orient im- portierten Feingefühl geheime Umſturzbeſtrebungen ahnen und rechtzeitig vorher anzeigen. Der Feind ſchläft nicht, meint der liberale Kreuzelſchreiber, er interpelliert und fährt dann dem Steinklopfer- hanns in die Haare. Er verhängt die Horizonte. — Schröcklich, ſchröcklich! möchte man ſagen. Was doch alles vorgeht in der Welt, ohne daß Un- eingeweihte eine Ahnung haben! Der Mann vom „Montag-Journal“ iſt auch ein kluger Kopf, da er literarhiſtoriſch feſtſtellt, daß Goethe nicht an die chriſtlich-ſoziale Bewegung in Wien gedacht hat, als er den „Fauſt“ ſchrieb, und Anzengruber nicht, als er den „Pfarrer von Kirchfeld“ zu Papier brachte. Das ſind beachtenswerte Auf- ſchlüſſe über das Schaffen unſerer Klaſſiker und Nachklaſſiker. Aber am beſten wiſſen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft doch die Kreuzelſchreiber und Leitartikelſchreiber vom „Extrablatt“ zu deuten. Daß Anzengruber ſolche Fürſprecher bekommt, daß hat er doch nicht verdient. Auch bei uns beherzigenswert. Verſchiedene deutſchkonſervative Abgeordnete, u. a. der Abg. Etz, haben ſich darauf berufen, daß in der Zentrumspartei Deutſchlands eine Ab- neigung gegen das allgemeine gleiche Stimm- recht beſtehe, und haben daraus den Schluß ge- zogen, daß auch in Oeſterreich chriſtliche Volks- parteien nicht für das allgemeine gleiche Wahlrecht ſtimmen dürften; ſie verlangten vielmehr, daß dem mit Beſitz oder Bildung begabten Wähler zwei oder mehr Stimmen anſtatt einer verliehen werden. Wie falſch die Berufung auf die An- ſchauung unter den Katholiken Deutſchlands iſt, geht aus einem Aufſatze der „Köln. Volksztg.“ (Nr. 740) hervor, die einigen in einem Nicht- parteiblatte erſchienenen Einwendungen gegen das allgemeine gleiche Wahlrecht mit folgendem er- widert: „An und für ſich, meint er (der Verfaſſer jener Einwendungen), ſei es ein Unſinn, „daß der dümmſte ungebildete Trottel mit dem intelligenteſten Manne das gleiche Wahlrecht hat“. Solche Einwände gehen von einer vollſtändigen Verkennung der prinzipiellen Grundlage des allgemeinen Wahlrechtes aus. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht iſt ein- fach die politiſche Folgerung aus der allgemeinen Rechtsgleichheit der Bürger im modernen Staate, und dieſe iſt wieder das notwendige Seitenſtück zur Gleichheit der Pflichten. Auch mit dem Einwurf darf man uns nicht kommen, daß doch auch die Steuer- pflicht keine gleiche ſei, und daß alſo zum wenigſten nach der Steuerleiſtung auch das Wahlrecht abgeſtuft werden müſſe. Steuerleiſtung und Wahlrecht oder politiſche Intelligenz ſind durchaus keine ver- gleichbaren oder innerlich zuſammenhängenden Dinge ... „Bildung“ iſt ja nicht gleichbedeutend mit Intelligenz, am allerwenigſten mit politiſcher Intelligenz. Niemand wird zum Beiſpiel beſtreiten können, daß aus dem Arbeiterſtande verhältnis- mäßig ſehr viele Leute mit hoher politiſcher Befähigung hervorgegangen ſind. Aber auch der Handwerkerſtand und Bauernſtand haben ſolche führenden Köpfe hervorgebracht und eine Partei wie das Zentrum, die ſtolz darauf iſt, ſolche Männer in die Parlamente entſandt zu haben, wäre gewiß die letzte, die berufen wäre, Wahlrechtsbeſchränkungen für „Ungebildete“ zu befürworten. Wie ſoll nun dieſe Intelligenz nachgewieſen werden? Etwa durch ein politiſches Intelligenz- oder Bürgerexamen? Oder durch eine der beſtehenden Prüfungen nach Art des „Ein- jährigen“? Ganz abgeſehen davon, daß zur Vorbereitung auf ſolche Examina auch wieder Geld gehört, ein Bildungsvorrecht alſo in ſehr vielen Fällen nur ein verkapptes Geldprivileg iſt, werden durch alle Examina der Welt niemals die künftigen politiſchen Führer aus der großen Maſſe herausgeſiebt werden. Und ander- ſeits wird die größere politiſche Intelligenz unter einigermaßen normalen Verhältniſſen auf dem politiſchen Fechtboden ſich ſtets Geltung verſchaffen, auch wenn ſie im Examen bloß Note 4 erhalten haben ſollte. Damit iſt denn auch bereits die Anſicht widerlegt, als ob das gleiche Wahlrecht ein Unrecht gegen die größere Intelligenz wäre. Dieſe verleiht ihrem Beſitzer, wenn er will, einen weit größeren politiſchen Einfluß als ein Wahlrecht.“ Die katholiſche Zentrumspartei Deutſchlands will, wie man alſo aus dieſen Worten ihres be- deutendſten Blattes erſieht, mit dem Pluralwahl- recht nichts zu tun haben. Was den Katholiken Deutſchlands recht iſt, kann uns in Oeſterreich gewiß nur billig ſein. Antiduellerfolge in Spanien. In Spanien, das oft „das klaſſiſche Land des Duells“ genannt wurde, hat ſich die allgemeine Meinung über das Duell ſo vollſtändig geändert, daß derjenige, welcher ein Duell ablehnt, anſtatt der unliebſamen Konſequenzen, die er ſich durch ſeine Ablehnung noch vor zwei Jahren zugezogen hätte, allgemeiner Billigung ſicher ſein kann. Anſtatt der Zeichen von Verachtung erhält er die Glückwünſche der vornehmen Welt. Von vielen Beiſpielen ſei das des Herrn Euſebius Guell in Barcelona, der ſich im Monat Jänner dieſes Jahres im Prado in Madrid mit dem Senator Ferrer y Vidal hätte ſchlagen ſollen, erwähnt. Herr Guell lehnte ab und kehrte nach Barcelona zurück, wo bei ihm Tauſende von Gratu- lationskarten abgegeben wurden. Aufang Februar griff der Herausgeber der Militärzeitung „Ejercito y Armada“ („Heer und Flotte“), Hauptmann Pinnel in einem Artiel die Katalonier an. Da die Zeitungen „Diario Mercantil“ (liberal), „Correo Catalon“ (karliſtiſch) und „Dilu vio“ (antiklerikal-republikaniſch) gegen die Anſchuldigungen proteſtiert hatten, forderte Haupt- mann Pinnel die Herausgeber: aber die drei Herren lehnten es ab, ſich zu ſchlagen, und jeder einzelne motivierte ſeinen Entſchluß nach ſeinen Ueber- zeugungen. Die Zuſtimmung war allgemein, ebenſo das Intereſſe, mit dem man die Darlegungen dieſer Herren, welche in ihren Prinzipien ſo verſchieden waren und auf verſchiedenen Wegen zu demſelben Punkt der Uebereinſtimmung gelangten, verfolgte. Wenige Monate ſpäter wurde der Heraus- geber der Zeitung „Ejercito y Armada“, der nämliche Hauptmann, ein enthuſiatiſcher Anhänger der Antiduelliga und veröffentlichte am 20. Juni einen ſchönen Artikel in ſeinen Zeitungen: er tritt jetzt beſtändig für dieſe Sache ein. Ende Februar wurde gelegentlich einer Polemik zwiſchen zwei Zeitungen in Barcelona einer der Herausgeber von dem andern gefordert, aber er antwortete, daß er zum erſtenmal in ſeinem Leben, um ſich Genug- tuung zu verſchaffen, einen wirkſameren Weg ein- ſchlagen würde; er ſandte den beleidigenden Artikel dem Strafgericht. Ebenſo handelte ein anderer Jour- naliſt, der ſeinen Kollegen vor Gericht zitierte, wo jener vollſtändige Satisfaktion gab, indem er ſeine beleidigenden Worte widerrief. Jüngſt erſt hat der Herausgeber einer kataloniſchen Zeitung einen andern Herausgeber, mit dem er eine Preßpolemik geführt hatte, mit Stockſchlägen traktiert; dieſer fand es für töricht, ſeine Karte dem Angreifer zu übergeben, er rief einfach einen Polizeimann herbei und ließ den Angreifer arretieren. Der Gouverneur ließ beide Herren kommen und legte ihnen in einem Vortrag über den Zwiſchenfall ſeine Anſicht offen dar, worauf ſich der Schuldtragende ins Bureau ſeines Kollegen begab, um ſich bei ihm zu ent- ſchuldigen, und in dieſer Weiſe wurde die Angelegen- heit befriedigend erledigt. Die Regierung, welche der Strömung der öffentlichen Meinung folgt, iſt noch mehr in der Lage als dieſe, ihre Maßregeln gegen die Duelle zu ergreifen, welche der größte Teil der intelligenten Kreiſe für eine verbrecheriſche Dummheit erklärt, und beweiſt dies auch in den offiziellen Dokumenten. Die Spitzen der Regierung griffen bald in ihrer amtlichen Eigenſchaft, bald als private Mittelsmänner ein, um die Duelle, welche in ſchweren Fällen im Parlament drohten, zu ver- hindern. Wir geben ein Beiſpiel von der erſten der beiden Formen ihres Vorgehens: Am 16. Fe- bruar hatten der Deputierte Doval und der Ex- deputierte Segni am Schluſſe der Sitzung einen heftigen Streit und nannten ſich ſofort ihre Zeugen. Der Präſident des Parlaments, Canalejas, der von dieſer Affäre verſtändigt worden war, gab dem Zivilgouverneur von Madrid, Ruiz Jimenez, den Befehl, das Duell um jeden Preis zu verhindern. Den gleichen Auftrag gaben der Miniſterpräſident Moret und der Staats- miniſter. Jimenez, welcher beide Herren ſchon vor- geladen hatte, befahl, ſie unverzüglich zu verhaften, und da ſie nicht verſprechen wollten, ſich nicht zu ſchlagen, blieben ſie trotz ihrer Vorrechte als Ab- geordnete ſo lange in Haft, bis ihre Zeugen dem Statthalter die geſchriebene und unterzeichnete Er- klärung vorwieſen, durch welche die Frage freund- ſchaftlich erledigt worden. Dasſelbe geſchah bei einer Affäre zwiſchen Caſtro und dem Abgeordneten Gaſſet. Dieſe wurden im Moment, da ſie den Kampfplatz betraten und obwohl ſie alle Vorſichts- maßregeln getroffen hatten, um das Duell vor den Behörden zu verheimlichen, überraſcht und mit Gewalt in die Statthalterei gebracht, wo ſie ſo lange verblieben, bis ſie ihr Ehrenwort gaben, daß ſie ſich nicht duellieren würden. Schon im Dezember 1905 verhinderte der Gouverneur von Barcelona, der Herzog von Bibona, daß das Duell zwiſchen den beiden Fechtlehrern Del Grece (Italiener) und Kirchhoffer (Franzoſe) auf ſpaniſchem Boden ſtattfand. In einer der Parlamentsſitzungen im Monat März gab es einen ſchweren Zwiſchenfall zwiſchen einem Deputierten und einem Sohne eines Miniſters: erſterer griff in einer Rede dieſen Miniſter an, der zweite antwortete mit Stockſchlägen. Der Deputierte fragte den Herzog von Pamames um ſeinen Rat; dieſer erwiderte, daß ſeiner Anſicht nach ein Deputierter, der in ſeinem parlamentariſchen Berufe inſultiert oder beleidigt worden iſt, niemals zu einem Duell greifen dürfe. Der Herzog wiederholte dies am nächſten Tage im Parlament, und der De- putierte erklärte, er vertraue ſeine Ehre dem Herzog von Pamames an. Fahnenweihefeſt. Der Wiener katholiſche Jünglingsverein „Maria Hilf“ hatte am geſtrigen Sonntag einen Ehrentag zu feiern. Es galt der Weihe einer Fahne für die unter ſeiner Leitung ſtehenden Knaben- patronage. Durch ein am Samstag der Fahnen- patin, der Gemahlin des Bezirksvorſtehers Herrn kaiſerlichen Rates Weidinger dargebrachtes Ständchen nahm die Feier ihren Anfang. Sonntag früh zogen die Knabenpatronagen vom 20., 13. und 17. Bezirk auf, welche ſich dem Feſtzuge anſchloſſen, der mit Muſikbegleitung ſich zur Wohnung der Fahnenpatin bewegte, wo ſie abgeholt und zur Schottenfelder Kirche geleitet wurde. In der Kirche fanden ſich der Jünglingsverein Hernals und die Männerkongregation Fünfhaus mit Fahne ein, ſowie Gemeinderat Ahorner, Bezirksvorſteher-Stellvertreter Ohr- fandl, die Bezirksräte Dr. Kuhn, Völkl, Köck, Hold, Schöner und Kieſel, ſowie die Armenräte Schubert und Obenaus. Die Feſtpredigt hielt P. Viktor Kolb S. J., der in altgewohnter Weiſe die Herzen aller an ſich zog und in kurzen Zügen die Entſtehung und Ent- wicklung der Patronage ſchilderte, ſowie in warmen Worten der Gönner und insbeſondere der Sankt Vinzenzkonferenz „St. Laurenz“ am Schottenfeld gedachte. Nach beendeter Predigt nahm Herr Prälat Roſt von den Schotten unter zahlreicher Aſſiſtenz die Weihe der Fahne vor, worauf Prälat Roſt, Herr und Frau Weidinger, P. Kolb, P. Norbert, Pfarrer Womatſchka und Lehrer Mizerofsky die Nägeln einſchlugen. Hierauf zele- brierte Prälat Roſt das Hochamt, wobei der Cäcilien- chor des Vereines unter Leitung des Kapellmeiſters Peterlini die „Herz Jeſu“-Meſſe von Mitterer in trefflicher Weiſe zur Aufführung brachte. Nun be- wegte ſich der Zug, an deſſen Spitze die Vereins- kapelle marſchierte, durch einzelne Gaſſen des Be- zirkes Neubau zurück zum Vereinshaus, wo der zirka 200köpfigen Schar von Knaben ein Imbiß ge- reicht wurde. Nachmittags fand im Baumgartner Kaſino ein animiertes Feſt ſtatt, das trotz des ſchlechten Wetters zahlreich beſucht war. Soziale Rundſchau. Eine Reform des Unfallgeſetzes. Die Abgeordneten der chriſtlich-ſozialen Partei werden beim Wiederzuſammentritt des Reichsrates einen Geſetzentwurf einbringen, welcher die Re- form des Unfallgeſetzes ſpeziell für das Eiſen- bahnperſonal bezweckt und gegebenen Falles für die Eiſenbahnangeſtellten ein Ausnahmsgeſetz verlangt. Die Hauptforderungen, die im Geſetz- entwurf erhoben werden, ſind: 1. Eine gründliche

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 212, Wien, 18.09.1906, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost212_1906/9>, abgerufen am 21.11.2024.