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Reichspost. Nr. 495, Wien, 20.10.1913.

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Nr. 495 Wien, Montag "Reichspost" 20. Oktober 1913.

[Spaltenumbruch]

42. Folge.

Nachdruck verboten.

Der dritte Schuß.

Der etwa im Stangenholz stehende Bock mußte heute
vergrämt werden, damit der nächtliche Wildräuber ge-
zwungen wurde, sich morgen wieder einzustellen.

Morgen! Aber morgen sollte er besser empfangen
werden!




Seit zwei Stunden lagen die beiden schon draußen,
Förster Rott und sein Gehilfe, in einem trockenen
Graben, wohlgedeckt durch dichtes, hohes Röhricht.
Neben dem Förster lag sein amerikanischer Hetzrüde, den
muskulösen Körper dicht auf den Boden gepreßt, die
Augen auf seinen Herrn gerichtet, regungslos. Eben
war die Sonne hinter den Wipfeln des Buchenwaldes
versunken. Die Drosseln sangen ihr süßes, melodisches
Abendlied, von der feuchten Wiese herüber strich ein
kühler Wind über die Jäger hin. Es wurde dunkel, das
Zirpen und Locken der Waldsänger war verstummt,
ringsum tiefes Schweigen, nur dann und wann leises
Flüstern des dürren Röhrichts. Scharf lugten vier
Augen über den Wiesenplan.

Es hieß in Geduld warten. Er hielt sich allein, der
Kapitale, keine Ricke trat vor ihm hinaus auf die Blöße,
zu sichern, ob ein Feind in der Nähe. Darum war er
besonders vorsichtig und verließ manchmal erst gegen
Mitternacht sein bergendes Dickicht.

Und der Mond ging heute erst spät auf, vor'm
Mondlicht aber konnte auch der geriebenste Wilddieb
nichts ausrichten. Endlich begann über den dunklen
Himmel ein zartes Leuchten zu fließen, aus irgendeiner
noch unsichtbaren Lichtquelle. Der im Nachtdunkel ver-
schwundene Waldrand drüben an der Lehne tauchte all-
mählich wieder heraus aus der Finsternis und über der
Wiese schwebten die Nebeldünste wie feine Silber-
schleier. Und nun stieg der Vollmond herauf, silberhell,
über den dunkelragenden Wipfeln eines Fichtenbestan-
des auf der Höhe und bald lagen Wald und Wiesen klar
übergossen von seinem sanften Scheine. Aufmerksamer
forschten nun die Augen der beiden Forstleute über das
Gelände hin, mit angehaltenem Atem lauschten sie in
die helle Nacht hinaus; jeden Schattenwinkel, jeden ein-
samen Busch auf der Blöße suchten sie mit ihren Blicken
ab, aber nichts regte sich auf dem Wiesenplan, schwei-
gend wogten die Nebelschleier -- -- aber dort, am jen-
seitigen Waldrande, dessen bläuliche Baumschatten
[Spaltenumbruch] hinaus auf die mondhelle Wiese fielen, zeigte sich etwas,
aus dem Silberfluten der Nebel tauchte es herauf und
verschwand wieder, nochmals und jetzt wieder.

Langsam, immer einen Finger breit nach dem
andern hob der Förster das Birschglas vor die Augen.
Vorsichtig galt es, denn wenn ein einziger Mondstrahl
die Linse seines Glases traf -- der sekundenlang auf-
blitzende Schein hätte genügt, den etwa lauernden
Wilddieb zu warnen und zu verscheuchen. Jetzt lag es
vor seinen Augen -- wahrhaftig, dieser schwankende,
wandernde Punkt, bald sichtbar, bald verborgen, war
der Kopf des Rehbockes. Aber das Tier ist unruhig,
häufig wirft es auf und läßt die Luser spielen, immer
wieder hebt es den Windfang -- sollte der Aasjäger
schon im Anbirschen sein?

Bedachtsam nun hinübergeschaut nach dem decken-
den Walde -- -- da bedurfte es der ganzen Willens-
kraft des Mannes, um mit keiner Bewegung sich zu
verraten -- deutlich bemerkt er einen Schatten entlang
schleichen, mit aller Vorsicht, der Wind steht schräg über
die Wiese, und er hält nicht fest dieselbe Richtung, er
wechselt, von der kühlen Ausdünstung des Bodens be-
einflußt -- noch einige Schritte muß der schleichende
Räuber näher heran, so kann er den Bock nicht auf die
Decke legen, ohne Nachsuche halten zu müssen, spitz von
hinten -- schlechter Schuß! -- Und nachsuchen? Ver-
dammt mißliche Sache, wenn der Schuß etwa umher-
streifende Grünröcke heranlockt!

Plötzlich wendet sich der Bock scharf nach dem an-
birschenden Wildschützen, einen Augenblick zeigt er ihm
die breite Seite -- da blitzt's auch schon drüben auf. Der
Bock macht noch einige Fluchten auf die Wiese hinaus,
dann bricht er zusammen. Deutlich dringt durch die
Stille das Schlagen der Läufe des verendeten Tieres.

Der Verabredung gemäß wollte man warten, bis
der Wilderer sich die Beute holen werde, er mußte da-
zu hinaus ins Freie. Es währte auch nur kurze Zeit,
dann löst sich der Schatten aus dem Walddunkel, in
schlangengleichen Bewegungen, halb schleichend, halb
springend, eine Gestalt ins hellere Licht, jetzt bückt sie
sich, rasch fassen die Hände die Hinterläufe des erlegten
Tieres und nun rasch zurück, der bergenden Fichten-
deckung zu. Aber schon hat der Förster seinen vor Auf-
regung zitternden Hund, der gehorsam des Winkes
wartete, mit einem leisen Anruf entlassen. Wie ein
Schatten fliegt das Tier in weiten Sätzen über die
mondbeleuchtete Wiese und mit einem kurzen, drohen-
[Spaltenumbruch] den Aufbellen verlegt er dem Wilderer den Weg in dem
Augenblick, als dieser im Dickicht verschwinden will.

Der Mann stutzt, weicht unwillkürlich ein paar
Schritte zurück, Sekunden vergehen, ehe er zu einem
Entschluß kommt, dann läßt er die bis dahin festge-
haltenen Läufe des erlegten Bockes fahren und reißt das
Gewehr herauf.

"Halt! Flinte weg! Hände hoch!" Klar hallt der
Ruf durch die Nachtstille. Dort steht der Förster, die
Büchse im Anschlag.

"Verflucht!" blitzschnell wendet sich der Verfolgte
herum. Ein Schuß kracht, aber der Feuerstrahl blitzt
aus zwei Rohren zu gleicher Zeit, hüben und drüben.
Der Wilderer wirft die Arme in die Luft, dann stürzt
er schwer vornüber ins Gras, noch ein letztes, krampf-
haftes Aufbäumen, dann ein Röcheln. Vorbei!

Aber auch der Förster wankte. Noch ehe der Gehilfe
herbeilen kann, ist sein Herr zu Boden gesunken.

"Um Gott, Herr Förster, Sie sind getroffen!"
schreit der junge Mann. Er legte die Flinte ins Gras
und suchte den Verwundeten aufzurichten.

"Lassen Sie mich liegen, Müller .... ich bin ...
geschossen! .... Da hier sitzt die Kugel --" er preßt die
Hand in die Seite -- "weide .. wund .... Müller ...
weidewund!"

"Weidewund!"

"Holen Sie Hilfe .... es geht wohl .... zu Ende."
Dann sinkt er zurück.

Der Gehilfe zögert. Was soll er tun?

"Schnell .... Hilfe!"

Nun eilt der junge Mann fort, so rasch ihn seine
Füße tragen. Der Pulverdampf hat sich verzogen. Ueber
die Waldlichtung ruht wieder Schweigen wie vorher. Die
Nebel wallen aufwärts, bald liegt der Wiesengrund im
weißen Mondlicht. Noch einmal richtet sich der schwer
verwundete Förster auf, mit lautem Schmerzgestöhn. Er
blickt wild, verstört um sich.

"Weidewund!" ächzt er -- "Gott im Himmel ....
Du ..... lebst!" Dann fällt er schwer wieder ins feuchte
Gras zurück, das Bewußtsein hat ihn verlassen.

Im nahen Grabenröhricht säuselt und rausch[t] der
Wind, der Hund leckt winselnd die bewegungslose Hund
seines Herrn, leise streicht ein Käuzlein durch die helle
Nacht: "Komm mit! .... Komm mit!"

(Fortsetzung folgt.)




[irrelevantes Material]
Nr. 495 Wien, Montag „Reichspoſt“ 20. Oktober 1913.

[Spaltenumbruch]

42. Folge.

Nachdruck verboten.

Der dritte Schuß.

Der etwa im Stangenholz ſtehende Bock mußte heute
vergrämt werden, damit der nächtliche Wildräuber ge-
zwungen wurde, ſich morgen wieder einzuſtellen.

Morgen! Aber morgen ſollte er beſſer empfangen
werden!




Seit zwei Stunden lagen die beiden ſchon draußen,
Förſter Rott und ſein Gehilfe, in einem trockenen
Graben, wohlgedeckt durch dichtes, hohes Röhricht.
Neben dem Förſter lag ſein amerikaniſcher Hetzrüde, den
muskulöſen Körper dicht auf den Boden gepreßt, die
Augen auf ſeinen Herrn gerichtet, regungslos. Eben
war die Sonne hinter den Wipfeln des Buchenwaldes
verſunken. Die Droſſeln ſangen ihr ſüßes, melodiſches
Abendlied, von der feuchten Wieſe herüber ſtrich ein
kühler Wind über die Jäger hin. Es wurde dunkel, das
Zirpen und Locken der Waldſänger war verſtummt,
ringsum tiefes Schweigen, nur dann und wann leiſes
Flüſtern des dürren Röhrichts. Scharf lugten vier
Augen über den Wieſenplan.

Es hieß in Geduld warten. Er hielt ſich allein, der
Kapitale, keine Ricke trat vor ihm hinaus auf die Blöße,
zu ſichern, ob ein Feind in der Nähe. Darum war er
beſonders vorſichtig und verließ manchmal erſt gegen
Mitternacht ſein bergendes Dickicht.

Und der Mond ging heute erſt ſpät auf, vor’m
Mondlicht aber konnte auch der geriebenſte Wilddieb
nichts ausrichten. Endlich begann über den dunklen
Himmel ein zartes Leuchten zu fließen, aus irgendeiner
noch unſichtbaren Lichtquelle. Der im Nachtdunkel ver-
ſchwundene Waldrand drüben an der Lehne tauchte all-
mählich wieder heraus aus der Finſternis und über der
Wieſe ſchwebten die Nebeldünſte wie feine Silber-
ſchleier. Und nun ſtieg der Vollmond herauf, ſilberhell,
über den dunkelragenden Wipfeln eines Fichtenbeſtan-
des auf der Höhe und bald lagen Wald und Wieſen klar
übergoſſen von ſeinem ſanften Scheine. Aufmerkſamer
forſchten nun die Augen der beiden Forſtleute über das
Gelände hin, mit angehaltenem Atem lauſchten ſie in
die helle Nacht hinaus; jeden Schattenwinkel, jeden ein-
ſamen Buſch auf der Blöße ſuchten ſie mit ihren Blicken
ab, aber nichts regte ſich auf dem Wieſenplan, ſchwei-
gend wogten die Nebelſchleier — — aber dort, am jen-
ſeitigen Waldrande, deſſen bläuliche Baumſchatten
[Spaltenumbruch] hinaus auf die mondhelle Wieſe fielen, zeigte ſich etwas,
aus dem Silberfluten der Nebel tauchte es herauf und
verſchwand wieder, nochmals und jetzt wieder.

Langſam, immer einen Finger breit nach dem
andern hob der Förſter das Birſchglas vor die Augen.
Vorſichtig galt es, denn wenn ein einziger Mondſtrahl
die Linſe ſeines Glaſes traf — der ſekundenlang auf-
blitzende Schein hätte genügt, den etwa lauernden
Wilddieb zu warnen und zu verſcheuchen. Jetzt lag es
vor ſeinen Augen — wahrhaftig, dieſer ſchwankende,
wandernde Punkt, bald ſichtbar, bald verborgen, war
der Kopf des Rehbockes. Aber das Tier iſt unruhig,
häufig wirft es auf und läßt die Luſer ſpielen, immer
wieder hebt es den Windfang — ſollte der Aasjäger
ſchon im Anbirſchen ſein?

Bedachtſam nun hinübergeſchaut nach dem decken-
den Walde — — da bedurfte es der ganzen Willens-
kraft des Mannes, um mit keiner Bewegung ſich zu
verraten — deutlich bemerkt er einen Schatten entlang
ſchleichen, mit aller Vorſicht, der Wind ſteht ſchräg über
die Wieſe, und er hält nicht feſt dieſelbe Richtung, er
wechſelt, von der kühlen Ausdünſtung des Bodens be-
einflußt — noch einige Schritte muß der ſchleichende
Räuber näher heran, ſo kann er den Bock nicht auf die
Decke legen, ohne Nachſuche halten zu müſſen, ſpitz von
hinten — ſchlechter Schuß! — Und nachſuchen? Ver-
dammt mißliche Sache, wenn der Schuß etwa umher-
ſtreifende Grünröcke heranlockt!

Plötzlich wendet ſich der Bock ſcharf nach dem an-
birſchenden Wildſchützen, einen Augenblick zeigt er ihm
die breite Seite — da blitzt’s auch ſchon drüben auf. Der
Bock macht noch einige Fluchten auf die Wieſe hinaus,
dann bricht er zuſammen. Deutlich dringt durch die
Stille das Schlagen der Läufe des verendeten Tieres.

Der Verabredung gemäß wollte man warten, bis
der Wilderer ſich die Beute holen werde, er mußte da-
zu hinaus ins Freie. Es währte auch nur kurze Zeit,
dann löſt ſich der Schatten aus dem Walddunkel, in
ſchlangengleichen Bewegungen, halb ſchleichend, halb
ſpringend, eine Geſtalt ins hellere Licht, jetzt bückt ſie
ſich, raſch faſſen die Hände die Hinterläufe des erlegten
Tieres und nun raſch zurück, der bergenden Fichten-
deckung zu. Aber ſchon hat der Förſter ſeinen vor Auf-
regung zitternden Hund, der gehorſam des Winkes
wartete, mit einem leiſen Anruf entlaſſen. Wie ein
Schatten fliegt das Tier in weiten Sätzen über die
mondbeleuchtete Wieſe und mit einem kurzen, drohen-
[Spaltenumbruch] den Aufbellen verlegt er dem Wilderer den Weg in dem
Augenblick, als dieſer im Dickicht verſchwinden will.

Der Mann ſtutzt, weicht unwillkürlich ein paar
Schritte zurück, Sekunden vergehen, ehe er zu einem
Entſchluß kommt, dann läßt er die bis dahin feſtge-
haltenen Läufe des erlegten Bockes fahren und reißt das
Gewehr herauf.

„Halt! Flinte weg! Hände hoch!“ Klar hallt der
Ruf durch die Nachtſtille. Dort ſteht der Förſter, die
Büchſe im Anſchlag.

„Verflucht!“ blitzſchnell wendet ſich der Verfolgte
herum. Ein Schuß kracht, aber der Feuerſtrahl blitzt
aus zwei Rohren zu gleicher Zeit, hüben und drüben.
Der Wilderer wirft die Arme in die Luft, dann ſtürzt
er ſchwer vornüber ins Gras, noch ein letztes, krampf-
haftes Aufbäumen, dann ein Röcheln. Vorbei!

Aber auch der Förſter wankte. Noch ehe der Gehilfe
herbeilen kann, iſt ſein Herr zu Boden geſunken.

„Um Gott, Herr Förſter, Sie ſind getroffen!“
ſchreit der junge Mann. Er legte die Flinte ins Gras
und ſuchte den Verwundeten aufzurichten.

„Laſſen Sie mich liegen, Müller .... ich bin ...
geſchoſſen! .... Da hier ſitzt die Kugel —“ er preßt die
Hand in die Seite — „weide .. wund .... Müller ...
weidewund!“

„Weidewund!“

„Holen Sie Hilfe .... es geht wohl .... zu Ende.“
Dann ſinkt er zurück.

Der Gehilfe zögert. Was ſoll er tun?

„Schnell .... Hilfe!“

Nun eilt der junge Mann fort, ſo raſch ihn ſeine
Füße tragen. Der Pulverdampf hat ſich verzogen. Ueber
die Waldlichtung ruht wieder Schweigen wie vorher. Die
Nebel wallen aufwärts, bald liegt der Wieſengrund im
weißen Mondlicht. Noch einmal richtet ſich der ſchwer
verwundete Förſter auf, mit lautem Schmerzgeſtöhn. Er
blickt wild, verſtört um ſich.

„Weidewund!“ ächzt er — „Gott im Himmel ....
Du ..... lebſt!“ Dann fällt er ſchwer wieder ins feuchte
Gras zurück, das Bewußtſein hat ihn verlaſſen.

Im nahen Grabenröhricht ſäuſelt und rauſch[t] der
Wind, der Hund leckt winſelnd die bewegungsloſe Hund
ſeines Herrn, leiſe ſtreicht ein Käuzlein durch die helle
Nacht: „Komm mit! .... Komm mit!“

(Fortſetzung folgt.)




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[7/0007] Nr. 495 Wien, Montag „Reichspoſt“ 20. Oktober 1913. 42. Folge. Nachdruck verboten. Der dritte Schuß. Kriminalroman von Haus v. Wieſa. Der etwa im Stangenholz ſtehende Bock mußte heute vergrämt werden, damit der nächtliche Wildräuber ge- zwungen wurde, ſich morgen wieder einzuſtellen. Morgen! Aber morgen ſollte er beſſer empfangen werden! Seit zwei Stunden lagen die beiden ſchon draußen, Förſter Rott und ſein Gehilfe, in einem trockenen Graben, wohlgedeckt durch dichtes, hohes Röhricht. Neben dem Förſter lag ſein amerikaniſcher Hetzrüde, den muskulöſen Körper dicht auf den Boden gepreßt, die Augen auf ſeinen Herrn gerichtet, regungslos. Eben war die Sonne hinter den Wipfeln des Buchenwaldes verſunken. Die Droſſeln ſangen ihr ſüßes, melodiſches Abendlied, von der feuchten Wieſe herüber ſtrich ein kühler Wind über die Jäger hin. Es wurde dunkel, das Zirpen und Locken der Waldſänger war verſtummt, ringsum tiefes Schweigen, nur dann und wann leiſes Flüſtern des dürren Röhrichts. Scharf lugten vier Augen über den Wieſenplan. Es hieß in Geduld warten. Er hielt ſich allein, der Kapitale, keine Ricke trat vor ihm hinaus auf die Blöße, zu ſichern, ob ein Feind in der Nähe. Darum war er beſonders vorſichtig und verließ manchmal erſt gegen Mitternacht ſein bergendes Dickicht. Und der Mond ging heute erſt ſpät auf, vor’m Mondlicht aber konnte auch der geriebenſte Wilddieb nichts ausrichten. Endlich begann über den dunklen Himmel ein zartes Leuchten zu fließen, aus irgendeiner noch unſichtbaren Lichtquelle. Der im Nachtdunkel ver- ſchwundene Waldrand drüben an der Lehne tauchte all- mählich wieder heraus aus der Finſternis und über der Wieſe ſchwebten die Nebeldünſte wie feine Silber- ſchleier. Und nun ſtieg der Vollmond herauf, ſilberhell, über den dunkelragenden Wipfeln eines Fichtenbeſtan- des auf der Höhe und bald lagen Wald und Wieſen klar übergoſſen von ſeinem ſanften Scheine. Aufmerkſamer forſchten nun die Augen der beiden Forſtleute über das Gelände hin, mit angehaltenem Atem lauſchten ſie in die helle Nacht hinaus; jeden Schattenwinkel, jeden ein- ſamen Buſch auf der Blöße ſuchten ſie mit ihren Blicken ab, aber nichts regte ſich auf dem Wieſenplan, ſchwei- gend wogten die Nebelſchleier — — aber dort, am jen- ſeitigen Waldrande, deſſen bläuliche Baumſchatten hinaus auf die mondhelle Wieſe fielen, zeigte ſich etwas, aus dem Silberfluten der Nebel tauchte es herauf und verſchwand wieder, nochmals und jetzt wieder. Langſam, immer einen Finger breit nach dem andern hob der Förſter das Birſchglas vor die Augen. Vorſichtig galt es, denn wenn ein einziger Mondſtrahl die Linſe ſeines Glaſes traf — der ſekundenlang auf- blitzende Schein hätte genügt, den etwa lauernden Wilddieb zu warnen und zu verſcheuchen. Jetzt lag es vor ſeinen Augen — wahrhaftig, dieſer ſchwankende, wandernde Punkt, bald ſichtbar, bald verborgen, war der Kopf des Rehbockes. Aber das Tier iſt unruhig, häufig wirft es auf und läßt die Luſer ſpielen, immer wieder hebt es den Windfang — ſollte der Aasjäger ſchon im Anbirſchen ſein? Bedachtſam nun hinübergeſchaut nach dem decken- den Walde — — da bedurfte es der ganzen Willens- kraft des Mannes, um mit keiner Bewegung ſich zu verraten — deutlich bemerkt er einen Schatten entlang ſchleichen, mit aller Vorſicht, der Wind ſteht ſchräg über die Wieſe, und er hält nicht feſt dieſelbe Richtung, er wechſelt, von der kühlen Ausdünſtung des Bodens be- einflußt — noch einige Schritte muß der ſchleichende Räuber näher heran, ſo kann er den Bock nicht auf die Decke legen, ohne Nachſuche halten zu müſſen, ſpitz von hinten — ſchlechter Schuß! — Und nachſuchen? Ver- dammt mißliche Sache, wenn der Schuß etwa umher- ſtreifende Grünröcke heranlockt! Plötzlich wendet ſich der Bock ſcharf nach dem an- birſchenden Wildſchützen, einen Augenblick zeigt er ihm die breite Seite — da blitzt’s auch ſchon drüben auf. Der Bock macht noch einige Fluchten auf die Wieſe hinaus, dann bricht er zuſammen. Deutlich dringt durch die Stille das Schlagen der Läufe des verendeten Tieres. Der Verabredung gemäß wollte man warten, bis der Wilderer ſich die Beute holen werde, er mußte da- zu hinaus ins Freie. Es währte auch nur kurze Zeit, dann löſt ſich der Schatten aus dem Walddunkel, in ſchlangengleichen Bewegungen, halb ſchleichend, halb ſpringend, eine Geſtalt ins hellere Licht, jetzt bückt ſie ſich, raſch faſſen die Hände die Hinterläufe des erlegten Tieres und nun raſch zurück, der bergenden Fichten- deckung zu. Aber ſchon hat der Förſter ſeinen vor Auf- regung zitternden Hund, der gehorſam des Winkes wartete, mit einem leiſen Anruf entlaſſen. Wie ein Schatten fliegt das Tier in weiten Sätzen über die mondbeleuchtete Wieſe und mit einem kurzen, drohen- den Aufbellen verlegt er dem Wilderer den Weg in dem Augenblick, als dieſer im Dickicht verſchwinden will. Der Mann ſtutzt, weicht unwillkürlich ein paar Schritte zurück, Sekunden vergehen, ehe er zu einem Entſchluß kommt, dann läßt er die bis dahin feſtge- haltenen Läufe des erlegten Bockes fahren und reißt das Gewehr herauf. „Halt! Flinte weg! Hände hoch!“ Klar hallt der Ruf durch die Nachtſtille. Dort ſteht der Förſter, die Büchſe im Anſchlag. „Verflucht!“ blitzſchnell wendet ſich der Verfolgte herum. Ein Schuß kracht, aber der Feuerſtrahl blitzt aus zwei Rohren zu gleicher Zeit, hüben und drüben. Der Wilderer wirft die Arme in die Luft, dann ſtürzt er ſchwer vornüber ins Gras, noch ein letztes, krampf- haftes Aufbäumen, dann ein Röcheln. Vorbei! Aber auch der Förſter wankte. Noch ehe der Gehilfe herbeilen kann, iſt ſein Herr zu Boden geſunken. „Um Gott, Herr Förſter, Sie ſind getroffen!“ ſchreit der junge Mann. Er legte die Flinte ins Gras und ſuchte den Verwundeten aufzurichten. „Laſſen Sie mich liegen, Müller .... ich bin ... geſchoſſen! .... Da hier ſitzt die Kugel —“ er preßt die Hand in die Seite — „weide .. wund .... Müller ... weidewund!“ „Weidewund!“ „Holen Sie Hilfe .... es geht wohl .... zu Ende.“ Dann ſinkt er zurück. Der Gehilfe zögert. Was ſoll er tun? „Schnell .... Hilfe!“ Nun eilt der junge Mann fort, ſo raſch ihn ſeine Füße tragen. Der Pulverdampf hat ſich verzogen. Ueber die Waldlichtung ruht wieder Schweigen wie vorher. Die Nebel wallen aufwärts, bald liegt der Wieſengrund im weißen Mondlicht. Noch einmal richtet ſich der ſchwer verwundete Förſter auf, mit lautem Schmerzgeſtöhn. Er blickt wild, verſtört um ſich. „Weidewund!“ ächzt er — „Gott im Himmel .... Du ..... lebſt!“ Dann fällt er ſchwer wieder ins feuchte Gras zurück, das Bewußtſein hat ihn verlaſſen. Im nahen Grabenröhricht ſäuſelt und rauſcht der Wind, der Hund leckt winſelnd die bewegungsloſe Hund ſeines Herrn, leiſe ſtreicht ein Käuzlein durch die helle Nacht: „Komm mit! .... Komm mit!“ (Fortſetzung folgt.) _

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Zitationshilfe: Reichspost. Nr. 495, Wien, 20.10.1913, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_reichspost495_1913/7>, abgerufen am 24.11.2024.