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Sonntags-Blatt. Nr. 5. Berlin, 2. Februar 1868.

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Sonntags=Blatt
für
Jedermann aus dem Volke.
Nr. 5. -- 1868.Ernst Dohm.Am 2. Februar.


Erscheint jeden Sonntag. Preis bei allen Postämtern vierteljährlich 9 Sgr., bei allen Buchhandlungen und Zeitungs=Spediteuren vierteljährlich 9 Sgr., wöchentlich 9 Pf. frei ins Haus.
Beim Selbstabholen aus der Expedition des Sonntags=Blattes ( Taubenstraße Nr. 27 ) kostet die Nummer nur 6 Pf.



Aus bewegter Zeit.
Novelle
von
R. T. R.
( Schluß. )
[Beginn Spaltensatz]

Jetzt bog sie in athemlosem Lauf um eine Ecke; sie hörte ein Ge-
räusch, wie von Rädern und Pferdegetrappel; eine laute Stimme
schrie: "Halt!" Es wurde dunkel vor ihren Augen; sie stürzte
zu Boden und kam erst wieder zu sich in den Armen eines frem-
den Herrn. Jn einiger Entfernung fuhr ein Wagen in raschem Trabe
dahin, und eine Gruppe Neugieriger sammelte sich um den Herrn und
seine kleine Last.

"Ein wahres Wunder", sagte einer der Umstehenden; "um ein
Haar wäre das Kind unter die Räder gerathen."

"Ja, Gott sei Dank, daß ich zur rechten Zeit kam", erwiderte der
Herr tief aufathmend in etwas fremd klingendem Englisch. Dann
stellte er das Kind sa[unleserliches Material] auf die Erde und fragte:

"Hast Du Dir Schaden gethan, liebe Kleine?"

Paula, die inzwischen wieder zu Athem gekommen war, schüttelte
das Köpfchen und rief kläglich:

"Mama stirbt, ich muß den Arzt holen!"

Der Fremde winkte einem vorüberfahrenden Wagen, gab dem
Kutscher die Weisung: "Zum nächsten Arzt!", hob das Kind hinein,
und der Wagen rasselte fort. Paula sah den hülfreichen Fremden mit
großen, vertrauenden Augen an.

"Was fehlt denn Deiner Mama?" fragte er.

"Mama ist ganz weiß und still", sagte sie und fing bei der Er-
innerung aufs Neue zu weinen an.

Er betrachtete das Kind mit einer Bewegung, die wohl nicht
allein dem Mitleid mit ihren Thränen entsprang.

"Was hältst Du da in der Hand?" fragte er, um ihren Gedan-
ken eine andere Richtung zu geben.

Sie öffnete das Händchen, in dem sie bisher krampfhaft die
Kapsel gehalten hatte.

"Da ist ein Bild darin", sagte sie zutraulich und reichte ihm die
Kapsel.

Er drückte an der Feder und wurde leichenblaß, als er das
Bild sah.

"Kind, wer ist das?" fragte er hastig.

"Onkel Paul!" erwiderte sie in deutscher Sprache und wußte nicht,
wie ihr geschah, als der Fremde sie plötzlich leidenschaftlich an seine
Brust zog.

"Wie heißest Du, mein Kind?" fragte er endlich, gleichfalls in
deutscher Sprache.

"Paula!" erwiderte sie und setzte hinzu: "Kannst Du auch deutsch
sprechen? Mama weint immer, wenn ich ein deutsches Lied sage."

"Wie nennen denn die Leute Deine Mama?" fragte er weiter.

"Herr Grey sagt Madame Werner!" erwiderte die kluge Paula.

"Mein Gott, ich danke Dir, endlich am Ziel!" rief er. Dann
nahm er die Kapsel und sagte: "Sieh einmal das Bild an, Paula."

Sie that es.

"Nun sieh mich an und sage mir, wie sehe ich aus?"

Sie sah ihn zweifelnd an; dann erhellte ein fröhliches Lächeln ihr
Gesichtchen und sie sagte:

"Wie Onkel Paul."

[Spaltenumbruch]

Thränen stürzten aus seinen Augen; er drückte das Kind an sich
und sagte:

"Jch bin Onkel Paul."

"Du bist Onkel Paul?" rief sie und klatschte in die Hände.
"Nicht wahr, nun braucht Mama nicht mehr zu weinen?"

"Nein, sie soll nicht mehr weinen!" sagte er bewegt.

Der Wagen hielt vor dem Hause eines Arztes, welcher glück-
licherweise bereit war, mitzufahren. Die frühreife kleine Paula wußte
den Namen der Straße anzugeben, wo ihre Mutter wohnte. Wäh-
rend der Fahrt war sie voll kindlicher Fröhlichkeit über den neuen
Onkel, dem es immer schwerer wurde, seine Bewegung zu bemeistern.

Endlich war man am Ziel. Paula wollte voraneilen, um der
Mutter, deren Zustand sie fast vergessen hatte, die frohe Kunde zu
bringen. Onkel Paul aber hielt ihre Hand fest, und sie mußte ehrbar
die Treppe mit ihm und dem Arzte hinansteigen. Auf ein Klopfen
folgte ein schwaches "Herein!" Die Kranke, die inzwischen zu sich
gekommen war, wandte mühsam ihr Haupt der Thür zu. Ein Blick,
ein Aufschrei -- Paul! Käthchen! -- und er lag zu ihren Füßen und
hielt ihren Leib umschlungen, während sie ihr Gesicht an seiner Schulter
verbarg. Schnell aber fühlte er, wie sie schwerer in seinen Armen
wurde; endlich winkte er dem Arzt, der beruhigend sagte:

"Eine neue Ohnmacht."


Am Abend desselben Tages bot das Gemach einen viel freund-
licheren Anblick dar; im Kamin brannte ein helles Feuer, ein Teppich
bekleidete die nackten Dielen, und die Kranke lag in einem großen
Lehnstuhl in Decken und Kissen gehüllt. Auf einem Schemel zu
ihren Füßen saß Paula und schaute mit glücklichen Augen bald zu
ihr, bald zu Onkel Paul auf, der an der Mutter Seite saß und ihre
Hand in der seinigen hielt.

Ja, die bleiche Frau war die einst so schöne, so gefeierte und dann
so tief unglückliche Katharina.

Ein seliges Lächeln spielte um ihren Mund, als sie von ihrem
Kinde zu ihrem treuen Bruder -- denn das war er ihr jetzt --
blickte. Sie hatten viel von der Vergangenheit gesprochen; Katharina
hatte ihm nichts verschwiegen, nicht ihr Unrecht gegen seine Aeltern,
nicht ihre späteren Jrrungen. Als sie von ihrer traurigen Ehe
sprach, erglühte er in heftigem Zorn; aber sie legte sanft die Hand
auf seine Lippen und sprach:

"Gott hat mich gezüchtigt, ich beuge mich in Demuth. Durch
geduldiges Ertragen all' des Elends habe ich geglaubt, Sühne
zu finden für die Schuld der Vergangenheit. Mein heißes Gebet hat
Gott erhört; mein Kind wird nicht verlassen sein, wenn ich von
ihm gehe."

"Du wirst noch lange nicht von ihm und von mir gehen", sprach
er und drückte seine Lippen auf ihre Hände.

Sie lächelte trübe und sprach nach einer Pause:

"Und Du, Paul?"

"Von mir ist wenig zu berichten; ich habe nur gelebt, um Dich
[Ende Spaltensatz]

Sonntags=Blatt
für
Jedermann aus dem Volke.
Nr. 5. — 1868.Ernst Dohm.Am 2. Februar.


Erscheint jeden Sonntag. Preis bei allen Postämtern vierteljährlich 9 Sgr., bei allen Buchhandlungen und Zeitungs=Spediteuren vierteljährlich 9 Sgr., wöchentlich 9 Pf. frei ins Haus.
Beim Selbstabholen aus der Expedition des Sonntags=Blattes ( Taubenstraße Nr. 27 ) kostet die Nummer nur 6 Pf.



Aus bewegter Zeit.
Novelle
von
R. T. R.
( Schluß. )
[Beginn Spaltensatz]

Jetzt bog sie in athemlosem Lauf um eine Ecke; sie hörte ein Ge-
räusch, wie von Rädern und Pferdegetrappel; eine laute Stimme
schrie: „Halt!“ Es wurde dunkel vor ihren Augen; sie stürzte
zu Boden und kam erst wieder zu sich in den Armen eines frem-
den Herrn. Jn einiger Entfernung fuhr ein Wagen in raschem Trabe
dahin, und eine Gruppe Neugieriger sammelte sich um den Herrn und
seine kleine Last.

„Ein wahres Wunder“, sagte einer der Umstehenden; „um ein
Haar wäre das Kind unter die Räder gerathen.“

„Ja, Gott sei Dank, daß ich zur rechten Zeit kam“, erwiderte der
Herr tief aufathmend in etwas fremd klingendem Englisch. Dann
stellte er das Kind sa[unleserliches Material] auf die Erde und fragte:

„Hast Du Dir Schaden gethan, liebe Kleine?“

Paula, die inzwischen wieder zu Athem gekommen war, schüttelte
das Köpfchen und rief kläglich:

„Mama stirbt, ich muß den Arzt holen!“

Der Fremde winkte einem vorüberfahrenden Wagen, gab dem
Kutscher die Weisung: „Zum nächsten Arzt!“, hob das Kind hinein,
und der Wagen rasselte fort. Paula sah den hülfreichen Fremden mit
großen, vertrauenden Augen an.

„Was fehlt denn Deiner Mama?“ fragte er.

„Mama ist ganz weiß und still“, sagte sie und fing bei der Er-
innerung aufs Neue zu weinen an.

Er betrachtete das Kind mit einer Bewegung, die wohl nicht
allein dem Mitleid mit ihren Thränen entsprang.

„Was hältst Du da in der Hand?“ fragte er, um ihren Gedan-
ken eine andere Richtung zu geben.

Sie öffnete das Händchen, in dem sie bisher krampfhaft die
Kapsel gehalten hatte.

„Da ist ein Bild darin“, sagte sie zutraulich und reichte ihm die
Kapsel.

Er drückte an der Feder und wurde leichenblaß, als er das
Bild sah.

„Kind, wer ist das?“ fragte er hastig.

„Onkel Paul!“ erwiderte sie in deutscher Sprache und wußte nicht,
wie ihr geschah, als der Fremde sie plötzlich leidenschaftlich an seine
Brust zog.

„Wie heißest Du, mein Kind?“ fragte er endlich, gleichfalls in
deutscher Sprache.

„Paula!“ erwiderte sie und setzte hinzu: „Kannst Du auch deutsch
sprechen? Mama weint immer, wenn ich ein deutsches Lied sage.“

„Wie nennen denn die Leute Deine Mama?“ fragte er weiter.

„Herr Grey sagt Madame Werner!“ erwiderte die kluge Paula.

„Mein Gott, ich danke Dir, endlich am Ziel!“ rief er. Dann
nahm er die Kapsel und sagte: „Sieh einmal das Bild an, Paula.“

Sie that es.

„Nun sieh mich an und sage mir, wie sehe ich aus?“

Sie sah ihn zweifelnd an; dann erhellte ein fröhliches Lächeln ihr
Gesichtchen und sie sagte:

„Wie Onkel Paul.“

[Spaltenumbruch]

Thränen stürzten aus seinen Augen; er drückte das Kind an sich
und sagte:

„Jch bin Onkel Paul.“

„Du bist Onkel Paul?“ rief sie und klatschte in die Hände.
„Nicht wahr, nun braucht Mama nicht mehr zu weinen?“

„Nein, sie soll nicht mehr weinen!“ sagte er bewegt.

Der Wagen hielt vor dem Hause eines Arztes, welcher glück-
licherweise bereit war, mitzufahren. Die frühreife kleine Paula wußte
den Namen der Straße anzugeben, wo ihre Mutter wohnte. Wäh-
rend der Fahrt war sie voll kindlicher Fröhlichkeit über den neuen
Onkel, dem es immer schwerer wurde, seine Bewegung zu bemeistern.

Endlich war man am Ziel. Paula wollte voraneilen, um der
Mutter, deren Zustand sie fast vergessen hatte, die frohe Kunde zu
bringen. Onkel Paul aber hielt ihre Hand fest, und sie mußte ehrbar
die Treppe mit ihm und dem Arzte hinansteigen. Auf ein Klopfen
folgte ein schwaches „Herein!“ Die Kranke, die inzwischen zu sich
gekommen war, wandte mühsam ihr Haupt der Thür zu. Ein Blick,
ein Aufschrei — Paul! Käthchen! — und er lag zu ihren Füßen und
hielt ihren Leib umschlungen, während sie ihr Gesicht an seiner Schulter
verbarg. Schnell aber fühlte er, wie sie schwerer in seinen Armen
wurde; endlich winkte er dem Arzt, der beruhigend sagte:

„Eine neue Ohnmacht.“


Am Abend desselben Tages bot das Gemach einen viel freund-
licheren Anblick dar; im Kamin brannte ein helles Feuer, ein Teppich
bekleidete die nackten Dielen, und die Kranke lag in einem großen
Lehnstuhl in Decken und Kissen gehüllt. Auf einem Schemel zu
ihren Füßen saß Paula und schaute mit glücklichen Augen bald zu
ihr, bald zu Onkel Paul auf, der an der Mutter Seite saß und ihre
Hand in der seinigen hielt.

Ja, die bleiche Frau war die einst so schöne, so gefeierte und dann
so tief unglückliche Katharina.

Ein seliges Lächeln spielte um ihren Mund, als sie von ihrem
Kinde zu ihrem treuen Bruder — denn das war er ihr jetzt —
blickte. Sie hatten viel von der Vergangenheit gesprochen; Katharina
hatte ihm nichts verschwiegen, nicht ihr Unrecht gegen seine Aeltern,
nicht ihre späteren Jrrungen. Als sie von ihrer traurigen Ehe
sprach, erglühte er in heftigem Zorn; aber sie legte sanft die Hand
auf seine Lippen und sprach:

„Gott hat mich gezüchtigt, ich beuge mich in Demuth. Durch
geduldiges Ertragen all' des Elends habe ich geglaubt, Sühne
zu finden für die Schuld der Vergangenheit. Mein heißes Gebet hat
Gott erhört; mein Kind wird nicht verlassen sein, wenn ich von
ihm gehe.“

„Du wirst noch lange nicht von ihm und von mir gehen“, sprach
er und drückte seine Lippen auf ihre Hände.

Sie lächelte trübe und sprach nach einer Pause:

„Und Du, Paul?“

„Von mir ist wenig zu berichten; ich habe nur gelebt, um Dich
[Ende Spaltensatz]

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Dann nahm er die Kapsel und sagte: „Sieh einmal das Bild an, Paula.“ Sie that es. „Nun sieh mich an und sage mir, wie sehe ich aus?“ Sie sah ihn zweifelnd an; dann erhellte ein fröhliches Lächeln ihr Gesichtchen und sie sagte: „Wie Onkel Paul.“ Thränen stürzten aus seinen Augen; er drückte das Kind an sich und sagte: „Jch bin Onkel Paul.“ „Du bist Onkel Paul?“ rief sie und klatschte in die Hände. „Nicht wahr, nun braucht Mama nicht mehr zu weinen?“ „Nein, sie soll nicht mehr weinen!“ sagte er bewegt. Der Wagen hielt vor dem Hause eines Arztes, welcher glück- licherweise bereit war, mitzufahren. Die frühreife kleine Paula wußte den Namen der Straße anzugeben, wo ihre Mutter wohnte. Wäh- rend der Fahrt war sie voll kindlicher Fröhlichkeit über den neuen Onkel, dem es immer schwerer wurde, seine Bewegung zu bemeistern. Endlich war man am Ziel. Paula wollte voraneilen, um der Mutter, deren Zustand sie fast vergessen hatte, die frohe Kunde zu bringen. Onkel Paul aber hielt ihre Hand fest, und sie mußte ehrbar die Treppe mit ihm und dem Arzte hinansteigen. Auf ein Klopfen folgte ein schwaches „Herein!“ Die Kranke, die inzwischen zu sich gekommen war, wandte mühsam ihr Haupt der Thür zu. Ein Blick, ein Aufschrei — Paul! Käthchen! — und er lag zu ihren Füßen und hielt ihren Leib umschlungen, während sie ihr Gesicht an seiner Schulter verbarg. Schnell aber fühlte er, wie sie schwerer in seinen Armen wurde; endlich winkte er dem Arzt, der beruhigend sagte: „Eine neue Ohnmacht.“ Am Abend desselben Tages bot das Gemach einen viel freund- licheren Anblick dar; im Kamin brannte ein helles Feuer, ein Teppich bekleidete die nackten Dielen, und die Kranke lag in einem großen Lehnstuhl in Decken und Kissen gehüllt. Auf einem Schemel zu ihren Füßen saß Paula und schaute mit glücklichen Augen bald zu ihr, bald zu Onkel Paul auf, der an der Mutter Seite saß und ihre Hand in der seinigen hielt. Ja, die bleiche Frau war die einst so schöne, so gefeierte und dann so tief unglückliche Katharina. Ein seliges Lächeln spielte um ihren Mund, als sie von ihrem Kinde zu ihrem treuen Bruder — denn das war er ihr jetzt — blickte. Sie hatten viel von der Vergangenheit gesprochen; Katharina hatte ihm nichts verschwiegen, nicht ihr Unrecht gegen seine Aeltern, nicht ihre späteren Jrrungen. Als sie von ihrer traurigen Ehe sprach, erglühte er in heftigem Zorn; aber sie legte sanft die Hand auf seine Lippen und sprach: „Gott hat mich gezüchtigt, ich beuge mich in Demuth. Durch geduldiges Ertragen all' des Elends habe ich geglaubt, Sühne zu finden für die Schuld der Vergangenheit. Mein heißes Gebet hat Gott erhört; mein Kind wird nicht verlassen sein, wenn ich von ihm gehe.“ „Du wirst noch lange nicht von ihm und von mir gehen“, sprach er und drückte seine Lippen auf ihre Hände. Sie lächelte trübe und sprach nach einer Pause: „Und Du, Paul?“ „Von mir ist wenig zu berichten; ich habe nur gelebt, um Dich

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Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 5. Berlin, 2. Februar 1868, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt05_1868/1>, abgerufen am 17.05.2024.