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Sonntags-Blatt. Nr. 7. Berlin, 16. Februar 1868.

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[Beginn Spaltensatz] endlich schwer, es bei uns auszuhalten. Aber sie blieb doch lange,
viele Abende, und endlich faßte sie sich Muth bei der Ebbe, flog fort
und kam nicht wieder. Es mag wohl dieselbe sein, die dort singt,
oder ihre Kinder. Jch konnt' es nie begreifen, denn mir ging's
gerade umgekehrt. Mir war's immer, als müßt' ich vor Sehnsucht
nach der Jnsel sterben, wenn ich wieder auf dem Festland war. Sei
mir nicht böse, Mama! Du weißt, wie lieb ich Dich habe; hätt' ich
Dich nur mit drüben, ich flöge nie wieder zurück."

Es war ein wunderstiller Maienabend, Frühlingsblumenduft wogte
unsichtbar in den leisen Abendschauern durch den Garten; aus der
Spitze des blühenden Baums schlug die Drossel ihre lang hingezoge-
nen Klänge, Lieder, sehnsuchtsvolle Lieder ohne Worte. Die Mutter
hatte den Arm um den schlanken Mädchenhals gelegt und hielt den
lachenden, plaudernden Lockenkopf zärtlich an ihrer Brust. Ab und
zu küßte sie die weiße, sorglose Stirn und preßte damit den Seufzer
zurück, der aus ihrem Herzen aufstieg, daß er lautlos in ihren Ge-
danken verhallte.

So gingen sie umschlungen zum Schloß hinauf; hinter ihnen
folgte, absichtlich die Distance mehr und mehr vergrößernd, ver-
drossenen Schrittes Herr von Torwisch. Verbissener Aerger und Trotz
wechselten auf seinem Gesicht, wie die Gedanken, über denen er
brütete, in seinem Hirn. Er wartete, bis die beiden Frauengestalten
unter dem Eingang des Gebäudes verschwanden, dann bog er ab und
lenkte seinen Schritt nach einer Seitenthür des Parks, durch welche
er auf die zum Städtchen führende Landstraße trat.

"Noch sechs Monate", murmelte er, höhnisch den Mund ver-
ziehend, "dann --". Er redete nicht aus, statt dessen schlug er mit
seinem Stöckchen nach den ersten grünen Blättern der Nußstauden,
welche von beiden Seiten auf den Wällen den Fahrweg einrahmten.
Dies Geschäft setzte er fort, bis er mit einbrechender Dämmerung die
Stadt erreichte. Er ging schnell durch die Straßen; hin und wieder
grüßte ihn Jemand, und er rückte nachlässig an seinem Hut. Als er
unter dem Thorweg eines alten düsteren Gebäudes am Marktplatz
verschwand, murmelte er noch immer: "Noch sechs Monate!"



Die Amsel schlug noch lange in die Nacht hinein von Frühlings-
lust und Liebe. Droben im Schloßsaal, durch dessen Fenster am Nach-
mittag die goldenen Sonnengarben hereingewogt, war es jetzt ganz
dunkel. Wenigstens leuchtete der gelbverblassende Horizont nicht mehr
genug, um die mürrischen Ahnengesichter Derer von Torwisch erkennen
zu lassen. Doch auch Paul Steen blickte nicht mehr herausfordernd
auf ihre steifen Halskrausen und freiherrlichen Amtmannsmienen.
Die Fenster standen noch weit geöffnet, und durch sie herauf kam die
warme Luft der Maiennacht, dicht beladen mit Pfirsichblüthenduft und
Drosselschlag.

Die beiden Frauen waren eingetreten und hatten sich ans Fenster
gesetzt, d. h. eigentlich nur die Baronin, die in der Nische saß und,
den Arm auf den Fensterbord gestützt, in die Dämmerung hinaus-
blickte. Posthuma hatte sich einen gestickten Fußschemel heran gerückt
und saß zu ihren Füßen, den Kopf an die Kniee der Mutter gelehnt.

So hörten sie eine Zeit lang auf den Gesang der Drossel. Das
Mädchen blickte nicht in die Höhe, sonst hätte sie, trotz dem Zwielicht,
bemerkt, daß die Mutter mehrmals die Lippen geöffnet und wieder
geschlossen hatte. Endlich sagte die Letztere mit gleichgültigem Ton:

"Alfred scheint nicht mehr zu kommen."

Es dauerte einige Sekunden, dann hob Posthuma etwas den
Kopf. Sie mochte an Anderes gedacht haben und sich jetzt erst be-
sinnen, daß die Mutter gesprochen.

"Alfred?" wiederholte sie. "Wozu auch?"

Die Baronin zauderte einen Augenblick.

"Jch hörte Euch hinter mir laut reden; habt Jhr Etwas mit ein-
ander gehabt?" fragte sie.

"Mit dem Vetter? Wir haben nie Etwas mit einander", ant-
wortete das Mädchen unbefangen.

"Aber es ist doch wunderlich und nicht gerade gebräuchlich, daß
ein Bräutigam ohne Gruß und Abschied von seiner Braut geht,
mein Kind."

"Ach, Mama, wenn man seit zwanzig Jahren verlobt ist, nimmt
man's wohl nicht mehr so genau. Wir haben uns ja doch nichts
Neues zu sagen; was Vetter Alfred mir mittheilen könnte, weiß ich
schon längst, und so sitzen, wie wir hier, und auf die Drossel horchen,
ist gar nicht seine Sache."

Die Mutter legte ihre freie Hand auf das dichte Haar des
Mädchens und ließ spielend ihre dünnen Finger hindurchgleiten. Es
war ganz still eine Weile, auch die Drossel draußen war verstummt.

"Hast Du Alfred lieber gewonnen in den letzten Jahren, Posthuma?"
hob die Baronin wieder an.

"Jch weiß ja, daß wir uns heirathen, Mama."

"Also hast Du ihn am liebsten, mein Kind?"

[Spaltenumbruch]

Das Mädchen machte eine ungestüme Bewegung.

"Am liebsten? Wie kannst Du so fragen, Mama? Du weißt
doch, daß ich Dich am liebsten habe."

"Also Vetter Alfred kommt erst nach mir, Posthuma?"

Die Gefragte lachte fröhlich auf.

"Nein, da kommt Alfred mit seiner zukünftigen Amtmannsmiene
doch noch lange nicht! Da kommt erst das Meer und die Sonne
und --"

Sie stockte, als besinne sie sich, was noch mehr komme.

"Das ist viel vor ihm, Posthuma", sagte lächelnd die Baronin,
"und --?"

"Nun, und Paul natürlich auch", setzte das Mädchen rasch hinzu,
"und die Andern drüben."

Ein heller, lang hinjauchzender Schlag der Amsel kam aus der
nächtlichen Stille herauf und unterbrach sie. Die Mutter entgegnete
Nichts und schien zu lauschen, nur ihre Hand preßte sich fester und
zärtlicher an die Stirn zu ihren Füßen. Auch Posthuma schwieg.
Sie zog die Hand leise an ihre Lippen herunter und küßte sie. Es lag
etwas Nachdenkliches in ihrer Stimme, als sie dann fragte:

"Hast Du meinen Vater denn am liebsten gehabt, Mama?"

"Sonst heirathet man nicht, Posthuma", antwortete die Mutter
leise. Für ein erfahrenes Ohr mochte der Ton, trotz der sichtlichen
Anstrengung, es zu vermeiden, die Worte Lügen strafen; doch das
Mädchen, mit seinem eigenen Gedankengang beschäftigt, hörte nur die
Worte.

"Aber man muß ja heirathen", sagte sie; "was hast Du, Mama?"

Die Baronin hatte eine zuckende Bewegung gemacht und erhob
sich von ihrem Sitz.

"Nichts, mein Kind", antwortete sie; "mir scheint, es wird
doch kühl."

Sie trat vom Fenster fort und ging langsam in dem dunklen
Zimmerraum auf und ab. Das Mädchen saß einige Augenblicke
erwartungsvoll, dann stand sie ebenfalls auf, ging ihr nach und
schmiegte sich an sie.

"Habe ich Etwas gesagt, was Dich gekränkt hat, liebe Mama?"
fragte sie leise.

"Nein, mein Liebling, meine süße, einzige Posthuma --" Die
Stimme der Baronin zitterte hörbar und sie preßte ihre Wange
heftig an die des Mädchens. Dann setzte sie ruhiger hinzu: "Es ist
nicht mehr früh; wie spät mag es sein, mein Kind?"

Posthuma trat ans Fenster und blickte hinaus.

"Es muß bald zehn Uhr sein", sagte sie, "nach der Venus."

Sie hatte es ins Zimmer zurückgesprochen, ohne zu bemerken, daß
die Baronin ebenfalls herangekommen war und dicht hinter ihr stand.

"Seit wann verstehst Du Dich denn auf Sternkunde, Posthuma?"
fragte sie lächelnd.

"Schon lange, Mama; Paul hat mich alle kennen gelehrt. Vor-
züglich die Venus kann ich genau berechnen; sieh nur auf die Uhr,
Mama, ob ich Recht habe."

"Die Augen schmerzen mir, ich will nicht erst Licht anzünden,
Posthuma", erwiderte die Mutter abwehrend. "Gute Nacht, mein
Kind; schlafe und sei glücklich."

Sie küßte die Stirn des Mädchens und ging eilig durch eine
Nebenthür des Saals in ihr Schlafzimmer. Posthuma war stehen
geblieben und sah ihr noch einige Augenblicke durchs Dunkel nach.
"Was hat die Mutter nur?" fragte sie halblaut vor sich hin. Dann
schüttelte sie den Kopf und begab sich ebenfalls in ihr Schlafzimmer,
das sich an der entgegengesetzten Seite des Saals befand. Sie
kleidete sich im Dunkel aus; wie sie fertig war, trat sie im Nacht-
kleid an das offene Fenster, um es zu schließen. Aber die Drossel
schlug noch immer so hell drunten im Birnbaum, daß sie ihre Absicht
vergaß und sich horchend hinaus lehnte. Der Wind hatte sich
gänzlich gelegt, es war sommerstille Luft; die Spitzen der Bäume
standen regungslos gegen den Horizont. Dieser war nach wie vor
hellblaß gefärbt und stach wider den dunklen, dicht besternten Zenith
des Himmels ab. Manchmal schoß hier und dort ein heller Streifen
von ihm herunter und verschwand wie ein Traum ohne Anfang und
ohne Ende. Ueber den Park hinweg, durch die Lücken der Bäume,
lag eine gleichförmige graue Masse. Es mußte gen Westen sein,
denn sie erstreckte sich gegen den erhellten Horizont, und die glänzende
Venus, auf der die Augen des Mädchens ruhten, stand hoch darüber.
Sie strahlte so hell, daß sie im Garten drunten beinahe Schatten zu
werfen schien. Posthuma machte diese Beobachtung und sprach sie
unwillkürlich laut vor sich hin. "Sie that es zuweilen", sagte sie, dem
leuchtenden Gestirn freundlich mit dem Kopf zunickend; "ich habe es
drüben schon bemerkt, und Paul sagt es auch."

Es durchfröstelte sie jetzt doch etwas in ihrem leichten Gewand,
und sie trat ins Zimmer zurück, um ein Tuch über die Brust zu
schlagen. Doch wie sie an ihr Bett kam, fühlte sie sich plötzlich todt-
müde und eine traumhafte Sehnsucht, die Augen zu schließen und zu
ruhen. Sie setzte sich schläfrig auf den Rand des Bettes und fühlte,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] endlich schwer, es bei uns auszuhalten. Aber sie blieb doch lange,
viele Abende, und endlich faßte sie sich Muth bei der Ebbe, flog fort
und kam nicht wieder. Es mag wohl dieselbe sein, die dort singt,
oder ihre Kinder. Jch konnt' es nie begreifen, denn mir ging's
gerade umgekehrt. Mir war's immer, als müßt' ich vor Sehnsucht
nach der Jnsel sterben, wenn ich wieder auf dem Festland war. Sei
mir nicht böse, Mama! Du weißt, wie lieb ich Dich habe; hätt' ich
Dich nur mit drüben, ich flöge nie wieder zurück.“

Es war ein wunderstiller Maienabend, Frühlingsblumenduft wogte
unsichtbar in den leisen Abendschauern durch den Garten; aus der
Spitze des blühenden Baums schlug die Drossel ihre lang hingezoge-
nen Klänge, Lieder, sehnsuchtsvolle Lieder ohne Worte. Die Mutter
hatte den Arm um den schlanken Mädchenhals gelegt und hielt den
lachenden, plaudernden Lockenkopf zärtlich an ihrer Brust. Ab und
zu küßte sie die weiße, sorglose Stirn und preßte damit den Seufzer
zurück, der aus ihrem Herzen aufstieg, daß er lautlos in ihren Ge-
danken verhallte.

So gingen sie umschlungen zum Schloß hinauf; hinter ihnen
folgte, absichtlich die Distance mehr und mehr vergrößernd, ver-
drossenen Schrittes Herr von Torwisch. Verbissener Aerger und Trotz
wechselten auf seinem Gesicht, wie die Gedanken, über denen er
brütete, in seinem Hirn. Er wartete, bis die beiden Frauengestalten
unter dem Eingang des Gebäudes verschwanden, dann bog er ab und
lenkte seinen Schritt nach einer Seitenthür des Parks, durch welche
er auf die zum Städtchen führende Landstraße trat.

„Noch sechs Monate“, murmelte er, höhnisch den Mund ver-
ziehend, „dann —“. Er redete nicht aus, statt dessen schlug er mit
seinem Stöckchen nach den ersten grünen Blättern der Nußstauden,
welche von beiden Seiten auf den Wällen den Fahrweg einrahmten.
Dies Geschäft setzte er fort, bis er mit einbrechender Dämmerung die
Stadt erreichte. Er ging schnell durch die Straßen; hin und wieder
grüßte ihn Jemand, und er rückte nachlässig an seinem Hut. Als er
unter dem Thorweg eines alten düsteren Gebäudes am Marktplatz
verschwand, murmelte er noch immer: „Noch sechs Monate!“



Die Amsel schlug noch lange in die Nacht hinein von Frühlings-
lust und Liebe. Droben im Schloßsaal, durch dessen Fenster am Nach-
mittag die goldenen Sonnengarben hereingewogt, war es jetzt ganz
dunkel. Wenigstens leuchtete der gelbverblassende Horizont nicht mehr
genug, um die mürrischen Ahnengesichter Derer von Torwisch erkennen
zu lassen. Doch auch Paul Steen blickte nicht mehr herausfordernd
auf ihre steifen Halskrausen und freiherrlichen Amtmannsmienen.
Die Fenster standen noch weit geöffnet, und durch sie herauf kam die
warme Luft der Maiennacht, dicht beladen mit Pfirsichblüthenduft und
Drosselschlag.

Die beiden Frauen waren eingetreten und hatten sich ans Fenster
gesetzt, d. h. eigentlich nur die Baronin, die in der Nische saß und,
den Arm auf den Fensterbord gestützt, in die Dämmerung hinaus-
blickte. Posthuma hatte sich einen gestickten Fußschemel heran gerückt
und saß zu ihren Füßen, den Kopf an die Kniee der Mutter gelehnt.

So hörten sie eine Zeit lang auf den Gesang der Drossel. Das
Mädchen blickte nicht in die Höhe, sonst hätte sie, trotz dem Zwielicht,
bemerkt, daß die Mutter mehrmals die Lippen geöffnet und wieder
geschlossen hatte. Endlich sagte die Letztere mit gleichgültigem Ton:

„Alfred scheint nicht mehr zu kommen.“

Es dauerte einige Sekunden, dann hob Posthuma etwas den
Kopf. Sie mochte an Anderes gedacht haben und sich jetzt erst be-
sinnen, daß die Mutter gesprochen.

„Alfred?“ wiederholte sie. „Wozu auch?“

Die Baronin zauderte einen Augenblick.

„Jch hörte Euch hinter mir laut reden; habt Jhr Etwas mit ein-
ander gehabt?“ fragte sie.

„Mit dem Vetter? Wir haben nie Etwas mit einander“, ant-
wortete das Mädchen unbefangen.

„Aber es ist doch wunderlich und nicht gerade gebräuchlich, daß
ein Bräutigam ohne Gruß und Abschied von seiner Braut geht,
mein Kind.“

„Ach, Mama, wenn man seit zwanzig Jahren verlobt ist, nimmt
man's wohl nicht mehr so genau. Wir haben uns ja doch nichts
Neues zu sagen; was Vetter Alfred mir mittheilen könnte, weiß ich
schon längst, und so sitzen, wie wir hier, und auf die Drossel horchen,
ist gar nicht seine Sache.“

Die Mutter legte ihre freie Hand auf das dichte Haar des
Mädchens und ließ spielend ihre dünnen Finger hindurchgleiten. Es
war ganz still eine Weile, auch die Drossel draußen war verstummt.

„Hast Du Alfred lieber gewonnen in den letzten Jahren, Posthuma?“
hob die Baronin wieder an.

„Jch weiß ja, daß wir uns heirathen, Mama.“

„Also hast Du ihn am liebsten, mein Kind?“

[Spaltenumbruch]

Das Mädchen machte eine ungestüme Bewegung.

„Am liebsten? Wie kannst Du so fragen, Mama? Du weißt
doch, daß ich Dich am liebsten habe.“

„Also Vetter Alfred kommt erst nach mir, Posthuma?“

Die Gefragte lachte fröhlich auf.

„Nein, da kommt Alfred mit seiner zukünftigen Amtmannsmiene
doch noch lange nicht! Da kommt erst das Meer und die Sonne
und —“

Sie stockte, als besinne sie sich, was noch mehr komme.

„Das ist viel vor ihm, Posthuma“, sagte lächelnd die Baronin,
„und —?“

„Nun, und Paul natürlich auch“, setzte das Mädchen rasch hinzu,
„und die Andern drüben.“

Ein heller, lang hinjauchzender Schlag der Amsel kam aus der
nächtlichen Stille herauf und unterbrach sie. Die Mutter entgegnete
Nichts und schien zu lauschen, nur ihre Hand preßte sich fester und
zärtlicher an die Stirn zu ihren Füßen. Auch Posthuma schwieg.
Sie zog die Hand leise an ihre Lippen herunter und küßte sie. Es lag
etwas Nachdenkliches in ihrer Stimme, als sie dann fragte:

„Hast Du meinen Vater denn am liebsten gehabt, Mama?“

„Sonst heirathet man nicht, Posthuma“, antwortete die Mutter
leise. Für ein erfahrenes Ohr mochte der Ton, trotz der sichtlichen
Anstrengung, es zu vermeiden, die Worte Lügen strafen; doch das
Mädchen, mit seinem eigenen Gedankengang beschäftigt, hörte nur die
Worte.

„Aber man muß ja heirathen“, sagte sie; „was hast Du, Mama?“

Die Baronin hatte eine zuckende Bewegung gemacht und erhob
sich von ihrem Sitz.

„Nichts, mein Kind“, antwortete sie; „mir scheint, es wird
doch kühl.“

Sie trat vom Fenster fort und ging langsam in dem dunklen
Zimmerraum auf und ab. Das Mädchen saß einige Augenblicke
erwartungsvoll, dann stand sie ebenfalls auf, ging ihr nach und
schmiegte sich an sie.

„Habe ich Etwas gesagt, was Dich gekränkt hat, liebe Mama?“
fragte sie leise.

„Nein, mein Liebling, meine süße, einzige Posthuma —“ Die
Stimme der Baronin zitterte hörbar und sie preßte ihre Wange
heftig an die des Mädchens. Dann setzte sie ruhiger hinzu: „Es ist
nicht mehr früh; wie spät mag es sein, mein Kind?“

Posthuma trat ans Fenster und blickte hinaus.

„Es muß bald zehn Uhr sein“, sagte sie, „nach der Venus.“

Sie hatte es ins Zimmer zurückgesprochen, ohne zu bemerken, daß
die Baronin ebenfalls herangekommen war und dicht hinter ihr stand.

„Seit wann verstehst Du Dich denn auf Sternkunde, Posthuma?“
fragte sie lächelnd.

„Schon lange, Mama; Paul hat mich alle kennen gelehrt. Vor-
züglich die Venus kann ich genau berechnen; sieh nur auf die Uhr,
Mama, ob ich Recht habe.“

„Die Augen schmerzen mir, ich will nicht erst Licht anzünden,
Posthuma“, erwiderte die Mutter abwehrend. „Gute Nacht, mein
Kind; schlafe und sei glücklich.“

Sie küßte die Stirn des Mädchens und ging eilig durch eine
Nebenthür des Saals in ihr Schlafzimmer. Posthuma war stehen
geblieben und sah ihr noch einige Augenblicke durchs Dunkel nach.
„Was hat die Mutter nur?“ fragte sie halblaut vor sich hin. Dann
schüttelte sie den Kopf und begab sich ebenfalls in ihr Schlafzimmer,
das sich an der entgegengesetzten Seite des Saals befand. Sie
kleidete sich im Dunkel aus; wie sie fertig war, trat sie im Nacht-
kleid an das offene Fenster, um es zu schließen. Aber die Drossel
schlug noch immer so hell drunten im Birnbaum, daß sie ihre Absicht
vergaß und sich horchend hinaus lehnte. Der Wind hatte sich
gänzlich gelegt, es war sommerstille Luft; die Spitzen der Bäume
standen regungslos gegen den Horizont. Dieser war nach wie vor
hellblaß gefärbt und stach wider den dunklen, dicht besternten Zenith
des Himmels ab. Manchmal schoß hier und dort ein heller Streifen
von ihm herunter und verschwand wie ein Traum ohne Anfang und
ohne Ende. Ueber den Park hinweg, durch die Lücken der Bäume,
lag eine gleichförmige graue Masse. Es mußte gen Westen sein,
denn sie erstreckte sich gegen den erhellten Horizont, und die glänzende
Venus, auf der die Augen des Mädchens ruhten, stand hoch darüber.
Sie strahlte so hell, daß sie im Garten drunten beinahe Schatten zu
werfen schien. Posthuma machte diese Beobachtung und sprach sie
unwillkürlich laut vor sich hin. „Sie that es zuweilen“, sagte sie, dem
leuchtenden Gestirn freundlich mit dem Kopf zunickend; „ich habe es
drüben schon bemerkt, und Paul sagt es auch.“

Es durchfröstelte sie jetzt doch etwas in ihrem leichten Gewand,
und sie trat ins Zimmer zurück, um ein Tuch über die Brust zu
schlagen. Doch wie sie an ihr Bett kam, fühlte sie sich plötzlich todt-
müde und eine traumhafte Sehnsucht, die Augen zu schließen und zu
ruhen. Sie setzte sich schläfrig auf den Rand des Bettes und fühlte,
[Ende Spaltensatz]

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[50/0002] 50 endlich schwer, es bei uns auszuhalten. Aber sie blieb doch lange, viele Abende, und endlich faßte sie sich Muth bei der Ebbe, flog fort und kam nicht wieder. Es mag wohl dieselbe sein, die dort singt, oder ihre Kinder. Jch konnt' es nie begreifen, denn mir ging's gerade umgekehrt. Mir war's immer, als müßt' ich vor Sehnsucht nach der Jnsel sterben, wenn ich wieder auf dem Festland war. Sei mir nicht böse, Mama! Du weißt, wie lieb ich Dich habe; hätt' ich Dich nur mit drüben, ich flöge nie wieder zurück.“ Es war ein wunderstiller Maienabend, Frühlingsblumenduft wogte unsichtbar in den leisen Abendschauern durch den Garten; aus der Spitze des blühenden Baums schlug die Drossel ihre lang hingezoge- nen Klänge, Lieder, sehnsuchtsvolle Lieder ohne Worte. Die Mutter hatte den Arm um den schlanken Mädchenhals gelegt und hielt den lachenden, plaudernden Lockenkopf zärtlich an ihrer Brust. Ab und zu küßte sie die weiße, sorglose Stirn und preßte damit den Seufzer zurück, der aus ihrem Herzen aufstieg, daß er lautlos in ihren Ge- danken verhallte. So gingen sie umschlungen zum Schloß hinauf; hinter ihnen folgte, absichtlich die Distance mehr und mehr vergrößernd, ver- drossenen Schrittes Herr von Torwisch. Verbissener Aerger und Trotz wechselten auf seinem Gesicht, wie die Gedanken, über denen er brütete, in seinem Hirn. Er wartete, bis die beiden Frauengestalten unter dem Eingang des Gebäudes verschwanden, dann bog er ab und lenkte seinen Schritt nach einer Seitenthür des Parks, durch welche er auf die zum Städtchen führende Landstraße trat. „Noch sechs Monate“, murmelte er, höhnisch den Mund ver- ziehend, „dann —“. Er redete nicht aus, statt dessen schlug er mit seinem Stöckchen nach den ersten grünen Blättern der Nußstauden, welche von beiden Seiten auf den Wällen den Fahrweg einrahmten. Dies Geschäft setzte er fort, bis er mit einbrechender Dämmerung die Stadt erreichte. Er ging schnell durch die Straßen; hin und wieder grüßte ihn Jemand, und er rückte nachlässig an seinem Hut. Als er unter dem Thorweg eines alten düsteren Gebäudes am Marktplatz verschwand, murmelte er noch immer: „Noch sechs Monate!“ Die Amsel schlug noch lange in die Nacht hinein von Frühlings- lust und Liebe. Droben im Schloßsaal, durch dessen Fenster am Nach- mittag die goldenen Sonnengarben hereingewogt, war es jetzt ganz dunkel. Wenigstens leuchtete der gelbverblassende Horizont nicht mehr genug, um die mürrischen Ahnengesichter Derer von Torwisch erkennen zu lassen. Doch auch Paul Steen blickte nicht mehr herausfordernd auf ihre steifen Halskrausen und freiherrlichen Amtmannsmienen. Die Fenster standen noch weit geöffnet, und durch sie herauf kam die warme Luft der Maiennacht, dicht beladen mit Pfirsichblüthenduft und Drosselschlag. Die beiden Frauen waren eingetreten und hatten sich ans Fenster gesetzt, d. h. eigentlich nur die Baronin, die in der Nische saß und, den Arm auf den Fensterbord gestützt, in die Dämmerung hinaus- blickte. Posthuma hatte sich einen gestickten Fußschemel heran gerückt und saß zu ihren Füßen, den Kopf an die Kniee der Mutter gelehnt. So hörten sie eine Zeit lang auf den Gesang der Drossel. Das Mädchen blickte nicht in die Höhe, sonst hätte sie, trotz dem Zwielicht, bemerkt, daß die Mutter mehrmals die Lippen geöffnet und wieder geschlossen hatte. Endlich sagte die Letztere mit gleichgültigem Ton: „Alfred scheint nicht mehr zu kommen.“ Es dauerte einige Sekunden, dann hob Posthuma etwas den Kopf. Sie mochte an Anderes gedacht haben und sich jetzt erst be- sinnen, daß die Mutter gesprochen. „Alfred?“ wiederholte sie. „Wozu auch?“ Die Baronin zauderte einen Augenblick. „Jch hörte Euch hinter mir laut reden; habt Jhr Etwas mit ein- ander gehabt?“ fragte sie. „Mit dem Vetter? Wir haben nie Etwas mit einander“, ant- wortete das Mädchen unbefangen. „Aber es ist doch wunderlich und nicht gerade gebräuchlich, daß ein Bräutigam ohne Gruß und Abschied von seiner Braut geht, mein Kind.“ „Ach, Mama, wenn man seit zwanzig Jahren verlobt ist, nimmt man's wohl nicht mehr so genau. Wir haben uns ja doch nichts Neues zu sagen; was Vetter Alfred mir mittheilen könnte, weiß ich schon längst, und so sitzen, wie wir hier, und auf die Drossel horchen, ist gar nicht seine Sache.“ Die Mutter legte ihre freie Hand auf das dichte Haar des Mädchens und ließ spielend ihre dünnen Finger hindurchgleiten. Es war ganz still eine Weile, auch die Drossel draußen war verstummt. „Hast Du Alfred lieber gewonnen in den letzten Jahren, Posthuma?“ hob die Baronin wieder an. „Jch weiß ja, daß wir uns heirathen, Mama.“ „Also hast Du ihn am liebsten, mein Kind?“ Das Mädchen machte eine ungestüme Bewegung. „Am liebsten? Wie kannst Du so fragen, Mama? Du weißt doch, daß ich Dich am liebsten habe.“ „Also Vetter Alfred kommt erst nach mir, Posthuma?“ Die Gefragte lachte fröhlich auf. „Nein, da kommt Alfred mit seiner zukünftigen Amtmannsmiene doch noch lange nicht! Da kommt erst das Meer und die Sonne und —“ Sie stockte, als besinne sie sich, was noch mehr komme. „Das ist viel vor ihm, Posthuma“, sagte lächelnd die Baronin, „und —?“ „Nun, und Paul natürlich auch“, setzte das Mädchen rasch hinzu, „und die Andern drüben.“ Ein heller, lang hinjauchzender Schlag der Amsel kam aus der nächtlichen Stille herauf und unterbrach sie. Die Mutter entgegnete Nichts und schien zu lauschen, nur ihre Hand preßte sich fester und zärtlicher an die Stirn zu ihren Füßen. Auch Posthuma schwieg. Sie zog die Hand leise an ihre Lippen herunter und küßte sie. Es lag etwas Nachdenkliches in ihrer Stimme, als sie dann fragte: „Hast Du meinen Vater denn am liebsten gehabt, Mama?“ „Sonst heirathet man nicht, Posthuma“, antwortete die Mutter leise. Für ein erfahrenes Ohr mochte der Ton, trotz der sichtlichen Anstrengung, es zu vermeiden, die Worte Lügen strafen; doch das Mädchen, mit seinem eigenen Gedankengang beschäftigt, hörte nur die Worte. „Aber man muß ja heirathen“, sagte sie; „was hast Du, Mama?“ Die Baronin hatte eine zuckende Bewegung gemacht und erhob sich von ihrem Sitz. „Nichts, mein Kind“, antwortete sie; „mir scheint, es wird doch kühl.“ Sie trat vom Fenster fort und ging langsam in dem dunklen Zimmerraum auf und ab. Das Mädchen saß einige Augenblicke erwartungsvoll, dann stand sie ebenfalls auf, ging ihr nach und schmiegte sich an sie. „Habe ich Etwas gesagt, was Dich gekränkt hat, liebe Mama?“ fragte sie leise. „Nein, mein Liebling, meine süße, einzige Posthuma —“ Die Stimme der Baronin zitterte hörbar und sie preßte ihre Wange heftig an die des Mädchens. Dann setzte sie ruhiger hinzu: „Es ist nicht mehr früh; wie spät mag es sein, mein Kind?“ Posthuma trat ans Fenster und blickte hinaus. „Es muß bald zehn Uhr sein“, sagte sie, „nach der Venus.“ Sie hatte es ins Zimmer zurückgesprochen, ohne zu bemerken, daß die Baronin ebenfalls herangekommen war und dicht hinter ihr stand. „Seit wann verstehst Du Dich denn auf Sternkunde, Posthuma?“ fragte sie lächelnd. „Schon lange, Mama; Paul hat mich alle kennen gelehrt. Vor- züglich die Venus kann ich genau berechnen; sieh nur auf die Uhr, Mama, ob ich Recht habe.“ „Die Augen schmerzen mir, ich will nicht erst Licht anzünden, Posthuma“, erwiderte die Mutter abwehrend. „Gute Nacht, mein Kind; schlafe und sei glücklich.“ Sie küßte die Stirn des Mädchens und ging eilig durch eine Nebenthür des Saals in ihr Schlafzimmer. Posthuma war stehen geblieben und sah ihr noch einige Augenblicke durchs Dunkel nach. „Was hat die Mutter nur?“ fragte sie halblaut vor sich hin. Dann schüttelte sie den Kopf und begab sich ebenfalls in ihr Schlafzimmer, das sich an der entgegengesetzten Seite des Saals befand. Sie kleidete sich im Dunkel aus; wie sie fertig war, trat sie im Nacht- kleid an das offene Fenster, um es zu schließen. Aber die Drossel schlug noch immer so hell drunten im Birnbaum, daß sie ihre Absicht vergaß und sich horchend hinaus lehnte. Der Wind hatte sich gänzlich gelegt, es war sommerstille Luft; die Spitzen der Bäume standen regungslos gegen den Horizont. Dieser war nach wie vor hellblaß gefärbt und stach wider den dunklen, dicht besternten Zenith des Himmels ab. Manchmal schoß hier und dort ein heller Streifen von ihm herunter und verschwand wie ein Traum ohne Anfang und ohne Ende. Ueber den Park hinweg, durch die Lücken der Bäume, lag eine gleichförmige graue Masse. Es mußte gen Westen sein, denn sie erstreckte sich gegen den erhellten Horizont, und die glänzende Venus, auf der die Augen des Mädchens ruhten, stand hoch darüber. Sie strahlte so hell, daß sie im Garten drunten beinahe Schatten zu werfen schien. Posthuma machte diese Beobachtung und sprach sie unwillkürlich laut vor sich hin. „Sie that es zuweilen“, sagte sie, dem leuchtenden Gestirn freundlich mit dem Kopf zunickend; „ich habe es drüben schon bemerkt, und Paul sagt es auch.“ Es durchfröstelte sie jetzt doch etwas in ihrem leichten Gewand, und sie trat ins Zimmer zurück, um ein Tuch über die Brust zu schlagen. Doch wie sie an ihr Bett kam, fühlte sie sich plötzlich todt- müde und eine traumhafte Sehnsucht, die Augen zu schließen und zu ruhen. Sie setzte sich schläfrig auf den Rand des Bettes und fühlte,

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 7. Berlin, 16. Februar 1868, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt07_1868/2>, abgerufen am 13.06.2024.