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Sonntags-Blatt. Nr. 11. Berlin, 15. März 1868.

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[Beginn Spaltensatz] zubringen vermochte, ohne dies zu verrathen und sich dem Hohn des
Teufels hinter ihr auszusetzen. Starr, fast gedankenlos von dem
Sturm der vergeblichen Gedanken, die ihren Kopf, sich bekämpfend,
durchtobten, blickte sie zum Fenster hinaus. Es dämmerte bereits;
eine weiße, anmuthige Gestalt schritt unten im Park zwischen den
Bäumen hin und her. Die Augen der Baronin hatten darauf ge-
ruht, ohne an sie zu denken. Dann plötzlich kam es ihr zum Be-
wußtsein, daß die schöne verschwimmende Gestalt ihre Tochter sei,
über der die Todten zu Gericht saßen, um sie in den Armen eines
herzlosen Gecken verdorren und langsam absterben zu lassen, wie sie
selbst in denen des Vaters freudlos hingewelkt, oder sie als Bettlerin
auf die Straße zu werfen, nachdem sie zwanzig Jahre an Ueberfluß,
Glück und Frieden gewöhnt.

Die arme Mutter hatte nicht die Kraft, die durch den Anblick
geweckten, hastig zuckenden Gedanken zu ertragen; ihre Brust hob sich
krampfhaft, und sie legte, laut aufschluchzend, ihr Gesicht in die Hände.

Als sie wieder aufblickte, war sie allein. Herr von Torwisch hatte
hinter ihrem Rücken etwas von wichtigen Geschäften gemurmelt und
sich achselzuckend entfernt. Sie saß auf dem Stuhl und starrte hin-
über über das Meer. Die Jnseln verschwammen in grauem Duft
und versanken allmälig, wie die Hoffnung in ihrer Brust. Es sah
ihr Niemand an, wie wild es darinnen aufschrie und jammerte, nur
die Ahnenbilder derer von Torwisch sahen höhnischer als je mit den
stechenden Augen auf das stille Weib herab, das sich in die hochedle
Familie hineinzudrängen vermessen.

Draußen war mit der Dämmerung auch die Flut gestiegen und
brandete schon hoch an die mächtigen Quadersteine des Deichs, der
den Schloßpark einfaßte. Die weiße Gestalt war zwischen den Bäu-
men verschwunden und stand jetzt oben auf der Höhe des Damms,
mit der rechten Hand das Auge gegen den letzten Schimmer der
Abendröthe verschattend, in die sie gerade hinein blickte. Lange stand
sie unbeweglich so; manchmal strich ein Wasservogel kreischend dicht
an ihr vorüber und umflatterte neugierig das weiße Kleid. Die an-
schlagenden Wellen spritzten ihren feinen Staub an ihre Füße her-
über, drüben hinter den Bäumen des Parks hob der Mond sein bei-
nahe vollrundes Gesicht röthlich aus dem Dunst. Sie hielt den
Blick auf einen Gegenstand geheftet, der über die Wellenköpfe auf
sie zukam. Manchmal war er wie ein Schatten und verschwand bei-
nahe, dann drehte er sich und es schien eine große weiße Möwe, die
mit weit ausgespannten Flügeln dicht über der Flut daherschoß. Ab-
mälig vergrößerten sich die Flügel mehr und mehr, und der höher
steigende Mond warf seinen Glanz darauf. Dann konnte ein Kurz-
sichtiger gewahren, daß es bauschende Segel seien, und die weiße Gestalt
stieg hastig vom Deich in das Gehölz hinab.

Dort war es tief dunkel unter den dicht belaubten Kronen, nur
hin und wieder warf der Mond in einer Lichtung schmale Silber-
streifen hindurch. Posthuma ging unruhig zwischen den Bäumen hin
und her. Manchmal blieb sie stehen und lauschte und warf einen
Blick durch die Stämme nach dem Deich, der scharf wie eine Mauer
von dem noch immer matthellen Horizont des Westens abstach. Nun
erschien eine Silhouette auf dem Damm, gerade in der Richtung,
wohin sie sah. Einige Sekunden verharrte diese an der Stelle, wo
sie aufgetaucht, dann begann sie sich zu bewegen und stieg ebenfalls
in das Gehölz hinab.

Das Mädchen zog sich wieder in den Schatten zurück und ver-
barg sich hinter einer breitstämmigen Buche. Jhr Herz klopfte laut,
sie meinte, man müsse es durch die Bäume hin vernehmen, und legte
fest ihre Hand darauf. Dann horchte sie ängstlich; sie konnte nichts
mehr sehen, aber sie hörte ab und zu einen dürren Zweig knacken.
Es ward wieder still, und die Schritte schienen sich zu entfernen. Sie
hätte die Gelegenheit gern benutzt, um fort zu gelangen; ihr fiel ein,
was die Mutter von ihrem Ausbleiben denken werde, doch sie fürchtete
sich, ihren Versteck zu verlassen und sich durch ihr schimmerndes Kleid
zu verrathen. Endlich wagte sie es und machte vorsichtig ein paar
Schritte nach dem Schloß zu. Jhr Herz hatte plötzlich zu klopfen
aufgehört, als sie den Entschluß gefaßt hatte, zu gehen. Sie ging
und blieb zaudernd wieder stehen. Dann stieß sie einen leisen Schrei
aus, doch in demselben Augenblick legten sich zwei starke Arme um
ihren Nacken und hielten sie.

"Hab' ich die Holzdiebin gefangen?" sagte lachend eine fröhliche
Stimme.

"Sprich nicht so laut, Paul". Es war ihr unwillkürlich ent-
schlüpft, und sie hatte die Hand auf seinen Mund gelegt. Sie be-
mühte sich, den Ton zu ändern und Verwunderung in ihre Stimme
zu legen, als sie fortfuhr: "Wie kommst Du um diese Zeit hierher,
Paul? Hast Du noch in der Stadt zu thun?"

Trotzdem er diese Frage schon manchmal beantwortet hatte, hörte
man dem jungen Seemann die Verlegenheit an, mit der er erwiderte:

"Nein, Paula; aber der Abend war so schön und ich dachte noch
ein wenig zu segeln. Da glaubte ich, Dich auf dem Deich stehen
zu sehen, und lenkte heran."

[Spaltenumbruch]

"Ja, ich war dort; ich sehe es so gern, wenn die Flut kommt",
sagte Posthuma leise, "doch wie fandest Du mich hier im Gehölz,
Paul?"

"Nun, wer soll denn sonst hier in weißen Kleidern herumgehen?"
lachte Paul. Da konnt ich's schon wagen zuzugreifen; ich wußte,
welche Möwe ich fing."

"Sie hat sich bald ausgeflattert, Deine Möwe", versetzte das
Mädchen schwermüthig. "Wenn der Herbst kommt, sind ihr die
Flügel beschnitten, und sie sitzt still und traurig drüben im Lande --"
Sie stockte und athmete tief auf. Er nahm ihre kleinen weißen
Hände und küßte sie. "Lernst Du auch schon städtische Manieren,
Paul?" lachte sie und suchte die Hand zurück zu ziehen.

Allein er hielt sie fest und drückte sie stärker an die Lippen. Ein
leiser Sommerabendhauch ging über ihnen durch die Wipfel des Ge-
hölzes und trug eine Woge von Blumenduft aus dem Garten her-
über zwischen den Stämmen durch. Das Mädchen rang ängstlich, ihre
Hand aus der ihres starken Gefährten zu befreien.

"Laß uns ins Freie gehn", sagte sie bittend, "es ist so dumpf hier
und so heiß."

Er ließ ihre Hand nicht los, aber er gehorchte ihr, und sie traten
auf einen der hellen Silberstreifen hinaus. Doch nun erschrak sie
fast noch mehr, als sie sein dunkel geröthetes Gesicht vom Mondlicht
übergossen vor sich sah, und suchte ihn wieder in den Schatten zu
ziehen. Seine Augen hatten den seltsamen Ausdruck der ihrigen be-
merkt, als sie zu ihm aufgeblickt und sich rasch abgewendet.

"Ja, es ist schwül, wie Gewitterluft", stotterte er befangen und
strich sich mit der freien Hand zitternd über die heiße Stirn.

Sie antwortete nicht.

"Willst Du noch etwas segeln?" fragte er leise. "Auf dem
Wasser ist es kühl."

"Nein" sagte sie fast heftig, daß er unwillkürlich ihre Hand fah-
ren ließ und befangen eine Bewegung von ihr fort machte. Es war
ihr gewaltsam von den Lippen geflogen, sie wußte selbst nicht, weß-
halb, und es that ihr leid und erschreckte sie selbst. Sie trat ver-
wirrt einen Schritt an ihn hinan und legte zutraulich ihren Kopf an
seine Schulter.

"Es ist nun Alles bald vorbei, Paul", sagte sie traurig; "wie
soll's nur werden? Mir ist, als müßte ich sterben an meinem
Geburtstag."

Er machte eine leise Wendung, und ihr Kopf lag an seiner Brust.
Er hatte die Hände über dem dichten Haar zusammen gelegt und
drückte sie zärtlich fest und fester an sich. Seine Augen starrten
düster darüber weg in die mondbeglänzte Gartenfläche hinaus, doch
er wußte nichts von allem dem in Worte zu bringen, das dicht unter
der geliebten Stirn, die sich an seiner Brust wie hülfesuchend verbarg,
in seinem Herzen aufrauschte und brandend hoffnungslos zerschellte.
Nur stärker und stärker preßte er sie an die gewaltige, ohnmächtig ver-
zagende Brust.

"Paul, mein lieber Paul", jammerte das Mädchen plötzlich auf.
Sie hatte mit ungestümer Bewegung die Arme um seinen Nacken
geschlungen und umklammerte ihn fest. Er fühlte, wie ihre Brust
sich schluchzend hob und senkte, wie seine Wange, an die sie ihre ge-
schlossenen Augen gepreßt hielt, sich feuchtete, und wie es schnell und
schneller unter ihrer Wimper hervorquoll.

"Jch kann es nicht, ich kann mich selbst und Dich nicht verlassen,
Paul", schluchzte sie.

Er suchte -- alles Blut stieg ihm jubelnd empor; aber seine armen
Gedanken zermarterten sich und irrten rathlos nach dem Wort umher,
das er seit Monden vergebens gesucht. Er küßte nur zärtlich die
Stirn, die sich unter seinen Lippen befand, wieder und wieder. Jhm
war, als ob ihm selbst eine ungeheure Angst vom Herzen genommen,
die der wilde, leidenschaftliche Verzweiflungsschrei über dasselbe herein-
gestürmt, als das Mädchen allmälig den Kopf emporhob und ihm
liebevoll in die Augen blickend beruhigter sagte:

"Jch will bei der Muhme und dem Onkel drüben mit Dir leben,
Paul, und Deine Schwester sein --"

"Ja, meine Schwester sein", stammelte Paul bewußtlos die letzten
Worte nach. Jhr langes Haar hatte sich gelöst und hing verwirrt
über ihr Gesicht, und wie sie, um es zu ordnen, auf dem weichen
Moos unter dem Baum niederkniete, bis auf die Erde herab. Er
beugte sich zu ihr und küßte ihr die letzten Thränen vom Auge.
"Meine Schwester", wiederholte er gedankenlos und preßte die Lippen
heftig auf das weiche Haar, das ihr Gesicht überflutete. Er war
neben ihr niedergekniet und hatte die Arme wieder um ihren Nacken
gelegt; er fühlte plötzlich, wie ein Schauer unter ihnen den schlan-
ken Leib durchrann. Er fühlte, wie die heißen Lippen, welche die
seinen durch den leichten Haarschleier berührt hatten, einen Augenblick
kämpften und sich loszuringen suchten, und wie ihr Widerstand schwach
und schwächer wurde und die Brust vor ihm matt an die seine sank
und mit ihr willenlos auf den weichen Moosteppich hinab.

Und wieder ging der Nachtschauer durch die Lüfte und zog duft-
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] zubringen vermochte, ohne dies zu verrathen und sich dem Hohn des
Teufels hinter ihr auszusetzen. Starr, fast gedankenlos von dem
Sturm der vergeblichen Gedanken, die ihren Kopf, sich bekämpfend,
durchtobten, blickte sie zum Fenster hinaus. Es dämmerte bereits;
eine weiße, anmuthige Gestalt schritt unten im Park zwischen den
Bäumen hin und her. Die Augen der Baronin hatten darauf ge-
ruht, ohne an sie zu denken. Dann plötzlich kam es ihr zum Be-
wußtsein, daß die schöne verschwimmende Gestalt ihre Tochter sei,
über der die Todten zu Gericht saßen, um sie in den Armen eines
herzlosen Gecken verdorren und langsam absterben zu lassen, wie sie
selbst in denen des Vaters freudlos hingewelkt, oder sie als Bettlerin
auf die Straße zu werfen, nachdem sie zwanzig Jahre an Ueberfluß,
Glück und Frieden gewöhnt.

Die arme Mutter hatte nicht die Kraft, die durch den Anblick
geweckten, hastig zuckenden Gedanken zu ertragen; ihre Brust hob sich
krampfhaft, und sie legte, laut aufschluchzend, ihr Gesicht in die Hände.

Als sie wieder aufblickte, war sie allein. Herr von Torwisch hatte
hinter ihrem Rücken etwas von wichtigen Geschäften gemurmelt und
sich achselzuckend entfernt. Sie saß auf dem Stuhl und starrte hin-
über über das Meer. Die Jnseln verschwammen in grauem Duft
und versanken allmälig, wie die Hoffnung in ihrer Brust. Es sah
ihr Niemand an, wie wild es darinnen aufschrie und jammerte, nur
die Ahnenbilder derer von Torwisch sahen höhnischer als je mit den
stechenden Augen auf das stille Weib herab, das sich in die hochedle
Familie hineinzudrängen vermessen.

Draußen war mit der Dämmerung auch die Flut gestiegen und
brandete schon hoch an die mächtigen Quadersteine des Deichs, der
den Schloßpark einfaßte. Die weiße Gestalt war zwischen den Bäu-
men verschwunden und stand jetzt oben auf der Höhe des Damms,
mit der rechten Hand das Auge gegen den letzten Schimmer der
Abendröthe verschattend, in die sie gerade hinein blickte. Lange stand
sie unbeweglich so; manchmal strich ein Wasservogel kreischend dicht
an ihr vorüber und umflatterte neugierig das weiße Kleid. Die an-
schlagenden Wellen spritzten ihren feinen Staub an ihre Füße her-
über, drüben hinter den Bäumen des Parks hob der Mond sein bei-
nahe vollrundes Gesicht röthlich aus dem Dunst. Sie hielt den
Blick auf einen Gegenstand geheftet, der über die Wellenköpfe auf
sie zukam. Manchmal war er wie ein Schatten und verschwand bei-
nahe, dann drehte er sich und es schien eine große weiße Möwe, die
mit weit ausgespannten Flügeln dicht über der Flut daherschoß. Ab-
mälig vergrößerten sich die Flügel mehr und mehr, und der höher
steigende Mond warf seinen Glanz darauf. Dann konnte ein Kurz-
sichtiger gewahren, daß es bauschende Segel seien, und die weiße Gestalt
stieg hastig vom Deich in das Gehölz hinab.

Dort war es tief dunkel unter den dicht belaubten Kronen, nur
hin und wieder warf der Mond in einer Lichtung schmale Silber-
streifen hindurch. Posthuma ging unruhig zwischen den Bäumen hin
und her. Manchmal blieb sie stehen und lauschte und warf einen
Blick durch die Stämme nach dem Deich, der scharf wie eine Mauer
von dem noch immer matthellen Horizont des Westens abstach. Nun
erschien eine Silhouette auf dem Damm, gerade in der Richtung,
wohin sie sah. Einige Sekunden verharrte diese an der Stelle, wo
sie aufgetaucht, dann begann sie sich zu bewegen und stieg ebenfalls
in das Gehölz hinab.

Das Mädchen zog sich wieder in den Schatten zurück und ver-
barg sich hinter einer breitstämmigen Buche. Jhr Herz klopfte laut,
sie meinte, man müsse es durch die Bäume hin vernehmen, und legte
fest ihre Hand darauf. Dann horchte sie ängstlich; sie konnte nichts
mehr sehen, aber sie hörte ab und zu einen dürren Zweig knacken.
Es ward wieder still, und die Schritte schienen sich zu entfernen. Sie
hätte die Gelegenheit gern benutzt, um fort zu gelangen; ihr fiel ein,
was die Mutter von ihrem Ausbleiben denken werde, doch sie fürchtete
sich, ihren Versteck zu verlassen und sich durch ihr schimmerndes Kleid
zu verrathen. Endlich wagte sie es und machte vorsichtig ein paar
Schritte nach dem Schloß zu. Jhr Herz hatte plötzlich zu klopfen
aufgehört, als sie den Entschluß gefaßt hatte, zu gehen. Sie ging
und blieb zaudernd wieder stehen. Dann stieß sie einen leisen Schrei
aus, doch in demselben Augenblick legten sich zwei starke Arme um
ihren Nacken und hielten sie.

„Hab' ich die Holzdiebin gefangen?“ sagte lachend eine fröhliche
Stimme.

„Sprich nicht so laut, Paul“. Es war ihr unwillkürlich ent-
schlüpft, und sie hatte die Hand auf seinen Mund gelegt. Sie be-
mühte sich, den Ton zu ändern und Verwunderung in ihre Stimme
zu legen, als sie fortfuhr: „Wie kommst Du um diese Zeit hierher,
Paul? Hast Du noch in der Stadt zu thun?“

Trotzdem er diese Frage schon manchmal beantwortet hatte, hörte
man dem jungen Seemann die Verlegenheit an, mit der er erwiderte:

„Nein, Paula; aber der Abend war so schön und ich dachte noch
ein wenig zu segeln. Da glaubte ich, Dich auf dem Deich stehen
zu sehen, und lenkte heran.“

[Spaltenumbruch]

„Ja, ich war dort; ich sehe es so gern, wenn die Flut kommt“,
sagte Posthuma leise, „doch wie fandest Du mich hier im Gehölz,
Paul?“

„Nun, wer soll denn sonst hier in weißen Kleidern herumgehen?“
lachte Paul. Da konnt ich's schon wagen zuzugreifen; ich wußte,
welche Möwe ich fing.“

„Sie hat sich bald ausgeflattert, Deine Möwe“, versetzte das
Mädchen schwermüthig. „Wenn der Herbst kommt, sind ihr die
Flügel beschnitten, und sie sitzt still und traurig drüben im Lande —“
Sie stockte und athmete tief auf. Er nahm ihre kleinen weißen
Hände und küßte sie. „Lernst Du auch schon städtische Manieren,
Paul?“ lachte sie und suchte die Hand zurück zu ziehen.

Allein er hielt sie fest und drückte sie stärker an die Lippen. Ein
leiser Sommerabendhauch ging über ihnen durch die Wipfel des Ge-
hölzes und trug eine Woge von Blumenduft aus dem Garten her-
über zwischen den Stämmen durch. Das Mädchen rang ängstlich, ihre
Hand aus der ihres starken Gefährten zu befreien.

„Laß uns ins Freie gehn“, sagte sie bittend, „es ist so dumpf hier
und so heiß.“

Er ließ ihre Hand nicht los, aber er gehorchte ihr, und sie traten
auf einen der hellen Silberstreifen hinaus. Doch nun erschrak sie
fast noch mehr, als sie sein dunkel geröthetes Gesicht vom Mondlicht
übergossen vor sich sah, und suchte ihn wieder in den Schatten zu
ziehen. Seine Augen hatten den seltsamen Ausdruck der ihrigen be-
merkt, als sie zu ihm aufgeblickt und sich rasch abgewendet.

„Ja, es ist schwül, wie Gewitterluft“, stotterte er befangen und
strich sich mit der freien Hand zitternd über die heiße Stirn.

Sie antwortete nicht.

„Willst Du noch etwas segeln?“ fragte er leise. „Auf dem
Wasser ist es kühl.“

„Nein“ sagte sie fast heftig, daß er unwillkürlich ihre Hand fah-
ren ließ und befangen eine Bewegung von ihr fort machte. Es war
ihr gewaltsam von den Lippen geflogen, sie wußte selbst nicht, weß-
halb, und es that ihr leid und erschreckte sie selbst. Sie trat ver-
wirrt einen Schritt an ihn hinan und legte zutraulich ihren Kopf an
seine Schulter.

„Es ist nun Alles bald vorbei, Paul“, sagte sie traurig; „wie
soll's nur werden? Mir ist, als müßte ich sterben an meinem
Geburtstag.“

Er machte eine leise Wendung, und ihr Kopf lag an seiner Brust.
Er hatte die Hände über dem dichten Haar zusammen gelegt und
drückte sie zärtlich fest und fester an sich. Seine Augen starrten
düster darüber weg in die mondbeglänzte Gartenfläche hinaus, doch
er wußte nichts von allem dem in Worte zu bringen, das dicht unter
der geliebten Stirn, die sich an seiner Brust wie hülfesuchend verbarg,
in seinem Herzen aufrauschte und brandend hoffnungslos zerschellte.
Nur stärker und stärker preßte er sie an die gewaltige, ohnmächtig ver-
zagende Brust.

„Paul, mein lieber Paul“, jammerte das Mädchen plötzlich auf.
Sie hatte mit ungestümer Bewegung die Arme um seinen Nacken
geschlungen und umklammerte ihn fest. Er fühlte, wie ihre Brust
sich schluchzend hob und senkte, wie seine Wange, an die sie ihre ge-
schlossenen Augen gepreßt hielt, sich feuchtete, und wie es schnell und
schneller unter ihrer Wimper hervorquoll.

„Jch kann es nicht, ich kann mich selbst und Dich nicht verlassen,
Paul“, schluchzte sie.

Er suchte — alles Blut stieg ihm jubelnd empor; aber seine armen
Gedanken zermarterten sich und irrten rathlos nach dem Wort umher,
das er seit Monden vergebens gesucht. Er küßte nur zärtlich die
Stirn, die sich unter seinen Lippen befand, wieder und wieder. Jhm
war, als ob ihm selbst eine ungeheure Angst vom Herzen genommen,
die der wilde, leidenschaftliche Verzweiflungsschrei über dasselbe herein-
gestürmt, als das Mädchen allmälig den Kopf emporhob und ihm
liebevoll in die Augen blickend beruhigter sagte:

„Jch will bei der Muhme und dem Onkel drüben mit Dir leben,
Paul, und Deine Schwester sein —“

„Ja, meine Schwester sein“, stammelte Paul bewußtlos die letzten
Worte nach. Jhr langes Haar hatte sich gelöst und hing verwirrt
über ihr Gesicht, und wie sie, um es zu ordnen, auf dem weichen
Moos unter dem Baum niederkniete, bis auf die Erde herab. Er
beugte sich zu ihr und küßte ihr die letzten Thränen vom Auge.
„Meine Schwester“, wiederholte er gedankenlos und preßte die Lippen
heftig auf das weiche Haar, das ihr Gesicht überflutete. Er war
neben ihr niedergekniet und hatte die Arme wieder um ihren Nacken
gelegt; er fühlte plötzlich, wie ein Schauer unter ihnen den schlan-
ken Leib durchrann. Er fühlte, wie die heißen Lippen, welche die
seinen durch den leichten Haarschleier berührt hatten, einen Augenblick
kämpften und sich loszuringen suchten, und wie ihr Widerstand schwach
und schwächer wurde und die Brust vor ihm matt an die seine sank
und mit ihr willenlos auf den weichen Moosteppich hinab.

Und wieder ging der Nachtschauer durch die Lüfte und zog duft-
[Ende Spaltensatz]

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[83/0003] 83 zubringen vermochte, ohne dies zu verrathen und sich dem Hohn des Teufels hinter ihr auszusetzen. Starr, fast gedankenlos von dem Sturm der vergeblichen Gedanken, die ihren Kopf, sich bekämpfend, durchtobten, blickte sie zum Fenster hinaus. Es dämmerte bereits; eine weiße, anmuthige Gestalt schritt unten im Park zwischen den Bäumen hin und her. Die Augen der Baronin hatten darauf ge- ruht, ohne an sie zu denken. Dann plötzlich kam es ihr zum Be- wußtsein, daß die schöne verschwimmende Gestalt ihre Tochter sei, über der die Todten zu Gericht saßen, um sie in den Armen eines herzlosen Gecken verdorren und langsam absterben zu lassen, wie sie selbst in denen des Vaters freudlos hingewelkt, oder sie als Bettlerin auf die Straße zu werfen, nachdem sie zwanzig Jahre an Ueberfluß, Glück und Frieden gewöhnt. Die arme Mutter hatte nicht die Kraft, die durch den Anblick geweckten, hastig zuckenden Gedanken zu ertragen; ihre Brust hob sich krampfhaft, und sie legte, laut aufschluchzend, ihr Gesicht in die Hände. Als sie wieder aufblickte, war sie allein. Herr von Torwisch hatte hinter ihrem Rücken etwas von wichtigen Geschäften gemurmelt und sich achselzuckend entfernt. Sie saß auf dem Stuhl und starrte hin- über über das Meer. Die Jnseln verschwammen in grauem Duft und versanken allmälig, wie die Hoffnung in ihrer Brust. Es sah ihr Niemand an, wie wild es darinnen aufschrie und jammerte, nur die Ahnenbilder derer von Torwisch sahen höhnischer als je mit den stechenden Augen auf das stille Weib herab, das sich in die hochedle Familie hineinzudrängen vermessen. Draußen war mit der Dämmerung auch die Flut gestiegen und brandete schon hoch an die mächtigen Quadersteine des Deichs, der den Schloßpark einfaßte. Die weiße Gestalt war zwischen den Bäu- men verschwunden und stand jetzt oben auf der Höhe des Damms, mit der rechten Hand das Auge gegen den letzten Schimmer der Abendröthe verschattend, in die sie gerade hinein blickte. Lange stand sie unbeweglich so; manchmal strich ein Wasservogel kreischend dicht an ihr vorüber und umflatterte neugierig das weiße Kleid. Die an- schlagenden Wellen spritzten ihren feinen Staub an ihre Füße her- über, drüben hinter den Bäumen des Parks hob der Mond sein bei- nahe vollrundes Gesicht röthlich aus dem Dunst. Sie hielt den Blick auf einen Gegenstand geheftet, der über die Wellenköpfe auf sie zukam. Manchmal war er wie ein Schatten und verschwand bei- nahe, dann drehte er sich und es schien eine große weiße Möwe, die mit weit ausgespannten Flügeln dicht über der Flut daherschoß. Ab- mälig vergrößerten sich die Flügel mehr und mehr, und der höher steigende Mond warf seinen Glanz darauf. Dann konnte ein Kurz- sichtiger gewahren, daß es bauschende Segel seien, und die weiße Gestalt stieg hastig vom Deich in das Gehölz hinab. Dort war es tief dunkel unter den dicht belaubten Kronen, nur hin und wieder warf der Mond in einer Lichtung schmale Silber- streifen hindurch. Posthuma ging unruhig zwischen den Bäumen hin und her. Manchmal blieb sie stehen und lauschte und warf einen Blick durch die Stämme nach dem Deich, der scharf wie eine Mauer von dem noch immer matthellen Horizont des Westens abstach. Nun erschien eine Silhouette auf dem Damm, gerade in der Richtung, wohin sie sah. Einige Sekunden verharrte diese an der Stelle, wo sie aufgetaucht, dann begann sie sich zu bewegen und stieg ebenfalls in das Gehölz hinab. Das Mädchen zog sich wieder in den Schatten zurück und ver- barg sich hinter einer breitstämmigen Buche. Jhr Herz klopfte laut, sie meinte, man müsse es durch die Bäume hin vernehmen, und legte fest ihre Hand darauf. Dann horchte sie ängstlich; sie konnte nichts mehr sehen, aber sie hörte ab und zu einen dürren Zweig knacken. Es ward wieder still, und die Schritte schienen sich zu entfernen. Sie hätte die Gelegenheit gern benutzt, um fort zu gelangen; ihr fiel ein, was die Mutter von ihrem Ausbleiben denken werde, doch sie fürchtete sich, ihren Versteck zu verlassen und sich durch ihr schimmerndes Kleid zu verrathen. Endlich wagte sie es und machte vorsichtig ein paar Schritte nach dem Schloß zu. Jhr Herz hatte plötzlich zu klopfen aufgehört, als sie den Entschluß gefaßt hatte, zu gehen. Sie ging und blieb zaudernd wieder stehen. Dann stieß sie einen leisen Schrei aus, doch in demselben Augenblick legten sich zwei starke Arme um ihren Nacken und hielten sie. „Hab' ich die Holzdiebin gefangen?“ sagte lachend eine fröhliche Stimme. „Sprich nicht so laut, Paul“. Es war ihr unwillkürlich ent- schlüpft, und sie hatte die Hand auf seinen Mund gelegt. Sie be- mühte sich, den Ton zu ändern und Verwunderung in ihre Stimme zu legen, als sie fortfuhr: „Wie kommst Du um diese Zeit hierher, Paul? Hast Du noch in der Stadt zu thun?“ Trotzdem er diese Frage schon manchmal beantwortet hatte, hörte man dem jungen Seemann die Verlegenheit an, mit der er erwiderte: „Nein, Paula; aber der Abend war so schön und ich dachte noch ein wenig zu segeln. Da glaubte ich, Dich auf dem Deich stehen zu sehen, und lenkte heran.“ „Ja, ich war dort; ich sehe es so gern, wenn die Flut kommt“, sagte Posthuma leise, „doch wie fandest Du mich hier im Gehölz, Paul?“ „Nun, wer soll denn sonst hier in weißen Kleidern herumgehen?“ lachte Paul. Da konnt ich's schon wagen zuzugreifen; ich wußte, welche Möwe ich fing.“ „Sie hat sich bald ausgeflattert, Deine Möwe“, versetzte das Mädchen schwermüthig. „Wenn der Herbst kommt, sind ihr die Flügel beschnitten, und sie sitzt still und traurig drüben im Lande —“ Sie stockte und athmete tief auf. Er nahm ihre kleinen weißen Hände und küßte sie. „Lernst Du auch schon städtische Manieren, Paul?“ lachte sie und suchte die Hand zurück zu ziehen. Allein er hielt sie fest und drückte sie stärker an die Lippen. Ein leiser Sommerabendhauch ging über ihnen durch die Wipfel des Ge- hölzes und trug eine Woge von Blumenduft aus dem Garten her- über zwischen den Stämmen durch. Das Mädchen rang ängstlich, ihre Hand aus der ihres starken Gefährten zu befreien. „Laß uns ins Freie gehn“, sagte sie bittend, „es ist so dumpf hier und so heiß.“ Er ließ ihre Hand nicht los, aber er gehorchte ihr, und sie traten auf einen der hellen Silberstreifen hinaus. Doch nun erschrak sie fast noch mehr, als sie sein dunkel geröthetes Gesicht vom Mondlicht übergossen vor sich sah, und suchte ihn wieder in den Schatten zu ziehen. Seine Augen hatten den seltsamen Ausdruck der ihrigen be- merkt, als sie zu ihm aufgeblickt und sich rasch abgewendet. „Ja, es ist schwül, wie Gewitterluft“, stotterte er befangen und strich sich mit der freien Hand zitternd über die heiße Stirn. Sie antwortete nicht. „Willst Du noch etwas segeln?“ fragte er leise. „Auf dem Wasser ist es kühl.“ „Nein“ sagte sie fast heftig, daß er unwillkürlich ihre Hand fah- ren ließ und befangen eine Bewegung von ihr fort machte. Es war ihr gewaltsam von den Lippen geflogen, sie wußte selbst nicht, weß- halb, und es that ihr leid und erschreckte sie selbst. Sie trat ver- wirrt einen Schritt an ihn hinan und legte zutraulich ihren Kopf an seine Schulter. „Es ist nun Alles bald vorbei, Paul“, sagte sie traurig; „wie soll's nur werden? Mir ist, als müßte ich sterben an meinem Geburtstag.“ Er machte eine leise Wendung, und ihr Kopf lag an seiner Brust. Er hatte die Hände über dem dichten Haar zusammen gelegt und drückte sie zärtlich fest und fester an sich. Seine Augen starrten düster darüber weg in die mondbeglänzte Gartenfläche hinaus, doch er wußte nichts von allem dem in Worte zu bringen, das dicht unter der geliebten Stirn, die sich an seiner Brust wie hülfesuchend verbarg, in seinem Herzen aufrauschte und brandend hoffnungslos zerschellte. Nur stärker und stärker preßte er sie an die gewaltige, ohnmächtig ver- zagende Brust. „Paul, mein lieber Paul“, jammerte das Mädchen plötzlich auf. Sie hatte mit ungestümer Bewegung die Arme um seinen Nacken geschlungen und umklammerte ihn fest. Er fühlte, wie ihre Brust sich schluchzend hob und senkte, wie seine Wange, an die sie ihre ge- schlossenen Augen gepreßt hielt, sich feuchtete, und wie es schnell und schneller unter ihrer Wimper hervorquoll. „Jch kann es nicht, ich kann mich selbst und Dich nicht verlassen, Paul“, schluchzte sie. Er suchte — alles Blut stieg ihm jubelnd empor; aber seine armen Gedanken zermarterten sich und irrten rathlos nach dem Wort umher, das er seit Monden vergebens gesucht. Er küßte nur zärtlich die Stirn, die sich unter seinen Lippen befand, wieder und wieder. Jhm war, als ob ihm selbst eine ungeheure Angst vom Herzen genommen, die der wilde, leidenschaftliche Verzweiflungsschrei über dasselbe herein- gestürmt, als das Mädchen allmälig den Kopf emporhob und ihm liebevoll in die Augen blickend beruhigter sagte: „Jch will bei der Muhme und dem Onkel drüben mit Dir leben, Paul, und Deine Schwester sein —“ „Ja, meine Schwester sein“, stammelte Paul bewußtlos die letzten Worte nach. Jhr langes Haar hatte sich gelöst und hing verwirrt über ihr Gesicht, und wie sie, um es zu ordnen, auf dem weichen Moos unter dem Baum niederkniete, bis auf die Erde herab. Er beugte sich zu ihr und küßte ihr die letzten Thränen vom Auge. „Meine Schwester“, wiederholte er gedankenlos und preßte die Lippen heftig auf das weiche Haar, das ihr Gesicht überflutete. Er war neben ihr niedergekniet und hatte die Arme wieder um ihren Nacken gelegt; er fühlte plötzlich, wie ein Schauer unter ihnen den schlan- ken Leib durchrann. Er fühlte, wie die heißen Lippen, welche die seinen durch den leichten Haarschleier berührt hatten, einen Augenblick kämpften und sich loszuringen suchten, und wie ihr Widerstand schwach und schwächer wurde und die Brust vor ihm matt an die seine sank und mit ihr willenlos auf den weichen Moosteppich hinab. Und wieder ging der Nachtschauer durch die Lüfte und zog duft-

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Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 11. Berlin, 15. März 1868, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt11_1868/3>, abgerufen am 15.06.2024.