Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 2. Solingen, 1844.höher stehendes Wort in unserm Tugend, einem ver- Doch auch noch eine andere Lehre knüpft die höher ſtehendes Wort in unſerm Tugend, einem ver- Doch auch noch eine andere Lehre knüpft die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0154" n="150"/> höher ſtehendes Wort in unſerm <hi rendition="#g">Tugend,</hi> einem ver-<lb/> ſteinerten und ſeinem Vokale nach noch auf mhd. Stand-<lb/> punkte ſtehenden Partic. von <hi rendition="#g">taugen,</hi> das niemals in<lb/> unſerer Sprache die eigentliche Männlichkeit, ſondern<lb/> immer die ſogenannte chriſtliche Tugend insbeſondere be-<lb/> zeichnet hat. Gewiß ein höchſt bedeutſamer Fingerzeig;<lb/> nur der germaniſche Geiſt ſchuf ſich bei ſeiner anerkannt<lb/> reinſten Auffaſſung des Chriſtenthums ein neues Wort<lb/> für dieſen Begriff, die romaniſchen Sprachen dagegen<lb/> empfinden dieſes Bedürfniß nicht und blieben in ihrem<lb/><hi rendition="#aq">virtú, virtud, vertu</hi> an dem alten Worte hängen, das<lb/> ſogar das germaniſche Engliſch in ſeinem <hi rendition="#aq">virtue</hi> hin-<lb/> übernahm.</p><lb/> <p>Doch auch noch eine andere Lehre knüpft die<lb/> Sprache an dieſe. Die Romanen haben bekanntlich das<lb/> lat. <hi rendition="#aq">vir</hi> ſämmtlich verloren und durch <hi rendition="#aq">homme, hombre,<lb/> uomo</hi> erſetzt und eben ſo haben auch wir das auf der<lb/> nämlichen Anſchauung der Wehrhaftigkeit beruhende <hi rendition="#aq">vair</hi><lb/> eingebüßt und dafür <hi rendition="#g">Mann,</hi> den denkenden, eingeführt,<lb/> Wir ſehen alſo hier, wie überall, das große Geſetz, daß<lb/> die Sprache aus ſinnlicher Anſchauung und den dieſer<lb/> entſprechenden Wörtern zu höherer geiſtiger Auffaſſung<lb/> und den mit ihr zuſammenhängenden Ausdrücken übergeht.<lb/> Weit entfernt indeſſen, die hiſtoriſche Entwickelung der<lb/> Sprache in der ſchwermüthigen Auffaſſung mancher<lb/> Sprachforſcher als ſtets wachſendes Verderbniß anzuſehen,<lb/> geben wir uns auch bei Betrachtung dieſes Fortſchrittes<lb/> durchaus keiner einſeitigen Freude hin. Denn hier wie<lb/> in allen Kreiſen des Lebens wie des Wiſſens tritt uns<lb/> recht handgreiflich die tiefe philoſophiſche Wahrheit ent-<lb/> gegen, die noch kein Sprachforſcher vom rechten Geſichts-<lb/> punkte aus gehörig gewürdigt hat, daß der Fortſchritt<lb/> eines höhern Elements den Rückſchritt eines niedern be-<lb/> dingt und ſtets eine Ungerechtigkeit gegen letzteres zur<lb/> Folge hat. Wo der Jnhalt wächſt, vermindert ſich die<lb/> Form, wo die Wahrheit ſteigt, ſinkt die Schönheit, wo<lb/> das Geiſtige ſich ausbildet, tritt das Körperliche zurück.<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [150/0154]
höher ſtehendes Wort in unſerm Tugend, einem ver-
ſteinerten und ſeinem Vokale nach noch auf mhd. Stand-
punkte ſtehenden Partic. von taugen, das niemals in
unſerer Sprache die eigentliche Männlichkeit, ſondern
immer die ſogenannte chriſtliche Tugend insbeſondere be-
zeichnet hat. Gewiß ein höchſt bedeutſamer Fingerzeig;
nur der germaniſche Geiſt ſchuf ſich bei ſeiner anerkannt
reinſten Auffaſſung des Chriſtenthums ein neues Wort
für dieſen Begriff, die romaniſchen Sprachen dagegen
empfinden dieſes Bedürfniß nicht und blieben in ihrem
virtú, virtud, vertu an dem alten Worte hängen, das
ſogar das germaniſche Engliſch in ſeinem virtue hin-
übernahm.
Doch auch noch eine andere Lehre knüpft die
Sprache an dieſe. Die Romanen haben bekanntlich das
lat. vir ſämmtlich verloren und durch homme, hombre,
uomo erſetzt und eben ſo haben auch wir das auf der
nämlichen Anſchauung der Wehrhaftigkeit beruhende vair
eingebüßt und dafür Mann, den denkenden, eingeführt,
Wir ſehen alſo hier, wie überall, das große Geſetz, daß
die Sprache aus ſinnlicher Anſchauung und den dieſer
entſprechenden Wörtern zu höherer geiſtiger Auffaſſung
und den mit ihr zuſammenhängenden Ausdrücken übergeht.
Weit entfernt indeſſen, die hiſtoriſche Entwickelung der
Sprache in der ſchwermüthigen Auffaſſung mancher
Sprachforſcher als ſtets wachſendes Verderbniß anzuſehen,
geben wir uns auch bei Betrachtung dieſes Fortſchrittes
durchaus keiner einſeitigen Freude hin. Denn hier wie
in allen Kreiſen des Lebens wie des Wiſſens tritt uns
recht handgreiflich die tiefe philoſophiſche Wahrheit ent-
gegen, die noch kein Sprachforſcher vom rechten Geſichts-
punkte aus gehörig gewürdigt hat, daß der Fortſchritt
eines höhern Elements den Rückſchritt eines niedern be-
dingt und ſtets eine Ungerechtigkeit gegen letzteres zur
Folge hat. Wo der Jnhalt wächſt, vermindert ſich die
Form, wo die Wahrheit ſteigt, ſinkt die Schönheit, wo
das Geiſtige ſich ausbildet, tritt das Körperliche zurück.
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