Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.nnendliche Faltenspiel ist eine Chiffern-Musik, denn die Spra¬ Das Höchste in der Physik ist jetzt vorhanden und wir Nun wollen wir uns zu dem politischen Schauspiel unsrer nnendliche Faltenſpiel iſt eine Chiffern-Muſik, denn die Spra¬ Das Hoͤchſte in der Phyſik iſt jetzt vorhanden und wir Nun wollen wir uns zu dem politiſchen Schauſpiel unſrer <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0028" n="206"/> nnendliche Faltenſpiel iſt eine Chiffern-Muſik, denn die Spra¬<lb/> che iſt der Jungfrau zu hoͤlzern und zu frech, nur zum Geſang<lb/> oͤffnen ſich ihre Lippen. Mir iſt er nichts als der feierliche<lb/> Ruf zu einer neuen Urverſammlung, der gewaltige Fluͤgelſchlag<lb/> eines voruͤberziehenden engliſchen Herolds. Es ſind die erſten<lb/> Wehen, ſetze ſich jeder in Bereitſchaft zur Geburt!</p><lb/> <p>Das Hoͤchſte in der Phyſik iſt jetzt vorhanden und wir<lb/> koͤnnen nun leichter die wiſſenſchaftliche Zunft uͤberſehn. Die<lb/> Huͤlfsbeduͤrftigkeit der aͤußern Wiſſenſchaften, ward in der letz¬<lb/> ten Zeit immer ſichtbarer, je bekannter wir mit ihnen wurden.<lb/> Die Natur fing an immer duͤrftiger auszuſehn, und wir ſahen<lb/> deutlicher gewoͤhnt an den Glanz unſerer Entdeckungen, daß<lb/> es nur ein geborgtes Licht war, und daß wir mit den bekann¬<lb/> ten Werkzeugen und den bekannten Methoden nicht das We¬<lb/> ſentliche, das Geſuchte finden und conſtruiren wuͤrden. Jeder<lb/> Forſcher mußte ſich geſtehn, daß Eine Wiſſenſchaft nichts ohne<lb/> die Andere ſey, und ſo entſtanden Myſtifikationsverſuche der<lb/> Wiſſenſchaften, und das wunderliche Weſen der Philoſophie<lb/> flog jetzt als rein dargeſtelltes wiſſenſchaftliches Element zu<lb/> einer ſymmetriſchen Grundfigur der Wiſſenſchaften an. Andere<lb/> brachten die concreten Wiſſenſchaften in neue Verhaͤltniſſe, be¬<lb/> foͤrderten einen lebhaften Verkehr derſelben untereinander, und<lb/> ſuchten ihre naturhiſtoriſche Claſſification aufs Reine zu brin¬<lb/> gen. So waͤhrt es fort und es iſt leicht zu ermeſſen, wie<lb/> guͤnſtig dieſer Umgang mit der aͤußern und innern Welt, der<lb/> hoͤhern Bildung des Verſtandes, der Kenntniß der erſtern und<lb/> der Erregung und Cultur der letztern ſeyn muß, und wie un¬<lb/> ter dieſen Umſtaͤnden die Witterung ſich klaͤren und der alte<lb/> Himmel und mit ihm die Sehnſucht nach ihm, die lebendige<lb/> Aſtronomie, wieder zum Vorſchein kommen muß.</p><lb/> <p>Nun wollen wir uns zu dem politiſchen Schauſpiel unſrer<lb/> Zeit wenden. Alte und neue Welt ſind in Kampf begriffen,<lb/> die Mangelhaftigkeit und Beduͤrftigkeit der bisherigen Staats¬<lb/> einrichtungen ſind in furchtbaren Phaͤnomenen offenbar gewor¬<lb/> den. Wie wenn auch hier wie in den Wiſſenſchaften eine naͤ¬<lb/> here und mannigfaltigere Connexion und Beruͤhrung der eu¬<lb/> ropaͤiſchen Staaten zunaͤchſt der hiſtoriſche Zweck des Krieges<lb/> waͤre, wenn eine neue Regung des bisher ſchlummernden Eu¬<lb/> ropa ins Spiel kaͤme, wenn Europa wieder erwachen wollte,<lb/> wenn ein Staat der Staaten, eine politiſche Wiſſenſchaftslehre,<lb/> uns bevorſtaͤnde! Sollte etwa die Hierarchie dieſe ſymmetri¬<lb/> ſche Grundfigur der Staaten, das Prinzip des Staatenvereins<lb/> als intellektuale Anſchauung des politiſchen Ichs ſeyn? Es iſt<lb/> unmoͤglich daß weltliche Kraͤfte ſich ſelbſt ins Gleichgewicht ſe¬<lb/> tzen, ein drittes Element, das weltlich und uͤberirdiſch zugleich<lb/> iſt, kann allein dieſe Aufgabe loͤſen. Unter den ſtreitenden<lb/> Maͤchten kann kein Friede geſchloſſen werden, aller Friede iſt<lb/> nur Illuſion, nur Waffenſtillſtand; auf dem Standpunkt der<lb/> Kabinetter, des gemeinen Bewußtſeyns iſt keine Vereinigung<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [206/0028]
nnendliche Faltenſpiel iſt eine Chiffern-Muſik, denn die Spra¬
che iſt der Jungfrau zu hoͤlzern und zu frech, nur zum Geſang
oͤffnen ſich ihre Lippen. Mir iſt er nichts als der feierliche
Ruf zu einer neuen Urverſammlung, der gewaltige Fluͤgelſchlag
eines voruͤberziehenden engliſchen Herolds. Es ſind die erſten
Wehen, ſetze ſich jeder in Bereitſchaft zur Geburt!
Das Hoͤchſte in der Phyſik iſt jetzt vorhanden und wir
koͤnnen nun leichter die wiſſenſchaftliche Zunft uͤberſehn. Die
Huͤlfsbeduͤrftigkeit der aͤußern Wiſſenſchaften, ward in der letz¬
ten Zeit immer ſichtbarer, je bekannter wir mit ihnen wurden.
Die Natur fing an immer duͤrftiger auszuſehn, und wir ſahen
deutlicher gewoͤhnt an den Glanz unſerer Entdeckungen, daß
es nur ein geborgtes Licht war, und daß wir mit den bekann¬
ten Werkzeugen und den bekannten Methoden nicht das We¬
ſentliche, das Geſuchte finden und conſtruiren wuͤrden. Jeder
Forſcher mußte ſich geſtehn, daß Eine Wiſſenſchaft nichts ohne
die Andere ſey, und ſo entſtanden Myſtifikationsverſuche der
Wiſſenſchaften, und das wunderliche Weſen der Philoſophie
flog jetzt als rein dargeſtelltes wiſſenſchaftliches Element zu
einer ſymmetriſchen Grundfigur der Wiſſenſchaften an. Andere
brachten die concreten Wiſſenſchaften in neue Verhaͤltniſſe, be¬
foͤrderten einen lebhaften Verkehr derſelben untereinander, und
ſuchten ihre naturhiſtoriſche Claſſification aufs Reine zu brin¬
gen. So waͤhrt es fort und es iſt leicht zu ermeſſen, wie
guͤnſtig dieſer Umgang mit der aͤußern und innern Welt, der
hoͤhern Bildung des Verſtandes, der Kenntniß der erſtern und
der Erregung und Cultur der letztern ſeyn muß, und wie un¬
ter dieſen Umſtaͤnden die Witterung ſich klaͤren und der alte
Himmel und mit ihm die Sehnſucht nach ihm, die lebendige
Aſtronomie, wieder zum Vorſchein kommen muß.
Nun wollen wir uns zu dem politiſchen Schauſpiel unſrer
Zeit wenden. Alte und neue Welt ſind in Kampf begriffen,
die Mangelhaftigkeit und Beduͤrftigkeit der bisherigen Staats¬
einrichtungen ſind in furchtbaren Phaͤnomenen offenbar gewor¬
den. Wie wenn auch hier wie in den Wiſſenſchaften eine naͤ¬
here und mannigfaltigere Connexion und Beruͤhrung der eu¬
ropaͤiſchen Staaten zunaͤchſt der hiſtoriſche Zweck des Krieges
waͤre, wenn eine neue Regung des bisher ſchlummernden Eu¬
ropa ins Spiel kaͤme, wenn Europa wieder erwachen wollte,
wenn ein Staat der Staaten, eine politiſche Wiſſenſchaftslehre,
uns bevorſtaͤnde! Sollte etwa die Hierarchie dieſe ſymmetri¬
ſche Grundfigur der Staaten, das Prinzip des Staatenvereins
als intellektuale Anſchauung des politiſchen Ichs ſeyn? Es iſt
unmoͤglich daß weltliche Kraͤfte ſich ſelbſt ins Gleichgewicht ſe¬
tzen, ein drittes Element, das weltlich und uͤberirdiſch zugleich
iſt, kann allein dieſe Aufgabe loͤſen. Unter den ſtreitenden
Maͤchten kann kein Friede geſchloſſen werden, aller Friede iſt
nur Illuſion, nur Waffenſtillſtand; auf dem Standpunkt der
Kabinetter, des gemeinen Bewußtſeyns iſt keine Vereinigung
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