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Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802.

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len Sprachen großen Fleiß und große Sum¬
men gewendet, und von jeher den Umgang
der Sänger über alles geschätzt. Von allen
Enden zog er sie an seinen Hof und über¬
häufte sie mit Ehren. Er ward nicht müde
ihren Gesängen zuzuhören, und vergaß oft
die wichtigsten Angelegenheiten, ja die Be¬
dürfnisse des Lebens über einem neuen, hin¬
reißenden Gesange. Seine Tochter war un¬
ter Gesängen aufgewachsen, und ihre ganze
Seele war ein zartes Lied geworden, ein
einfacher Ausdruck der Wehmuth und Sehn¬
sucht. Der wohlthätige Einfluß der beschütz¬
ten und geehrten Dichter zeigte sich im gan¬
zen Lande, besonders aber am Hofe. Man
genoß das Leben mit langsamen, kleinen
Zügen wie einen köstlichen Trank, und mit
desto reinerem Wohlbehagen, da alle widrige
gehässige Leidenschaften, wie Mißtöne von
der sanften harmonischen Stimmung ver¬

len Sprachen großen Fleiß und große Sum¬
men gewendet, und von jeher den Umgang
der Sänger über alles geſchätzt. Von allen
Enden zog er ſie an ſeinen Hof und über¬
häufte ſie mit Ehren. Er ward nicht müde
ihren Geſängen zuzuhören, und vergaß oft
die wichtigſten Angelegenheiten, ja die Be¬
dürfniſſe des Lebens über einem neuen, hin¬
reißenden Geſange. Seine Tochter war un¬
ter Geſängen aufgewachſen, und ihre ganze
Seele war ein zartes Lied geworden, ein
einfacher Ausdruck der Wehmuth und Sehn¬
ſucht. Der wohlthätige Einfluß der beſchütz¬
ten und geehrten Dichter zeigte ſich im gan¬
zen Lande, beſonders aber am Hofe. Man
genoß das Leben mit langſamen, kleinen
Zügen wie einen köſtlichen Trank, und mit
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[62/0070] len Sprachen großen Fleiß und große Sum¬ men gewendet, und von jeher den Umgang der Sänger über alles geſchätzt. Von allen Enden zog er ſie an ſeinen Hof und über¬ häufte ſie mit Ehren. Er ward nicht müde ihren Geſängen zuzuhören, und vergaß oft die wichtigſten Angelegenheiten, ja die Be¬ dürfniſſe des Lebens über einem neuen, hin¬ reißenden Geſange. Seine Tochter war un¬ ter Geſängen aufgewachſen, und ihre ganze Seele war ein zartes Lied geworden, ein einfacher Ausdruck der Wehmuth und Sehn¬ ſucht. Der wohlthätige Einfluß der beſchütz¬ ten und geehrten Dichter zeigte ſich im gan¬ zen Lande, beſonders aber am Hofe. Man genoß das Leben mit langſamen, kleinen Zügen wie einen köſtlichen Trank, und mit deſto reinerem Wohlbehagen, da alle widrige gehäſſige Leidenſchaften, wie Mißtöne von der ſanften harmoniſchen Stimmung ver¬

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Zitationshilfe: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/70>, abgerufen am 23.11.2024.