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Ohr, Julie: Die Studentin der Gegenwart. München-Gern, 1909.

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starke Tendenz zu spüren, die jungen Mädchen außerhalb
des Hauses einen Verdienst suchen zu lassen. Die Vorbil-
dung zu einem Berufe ist aber in den meisten Fällen man-
gelhaft, während der Beruf dennoch die Zeit zur Erlernung
der Hauswirtschaft und Kinderpflege wegnimmt. Aus diesem
Stande rekrutiert sich ein Teil der Lehrerinnen und Stu-
dentinnen. Und zwar ist es sehr häufig so, daß die Söhne
derselben Familie einen höheren Beruf (z. B. einen aka-
demischen Beruf) ergreifen als die Töchter (die dem ge-
gebenen Beispiele entsprechend etwa als Volksschullehre-
rinnen ausgebildet würden).

Jn den höheren Ständen wird als Lebensziel eines
jungen Mädchens die Heirat angesehen. Die Eltern
glauben aber mit Mitgift und Hochzeit ihre Pflicht
getan zu haben. Eine berufliche Ausbildung des jungen
Mädchens ist in der Regel wegen Mangel an Zeit (gesell-
schaftliche Verpflichtungen, Sport) und Standesvorurteilen
verpönt. Trotzdem lernt das junge Mädchen weder die
Hauswirtschaft gründlich, noch lernt sie die primitivsten
Begriffe der Hygiene, Säuglingspflege, Krankenpflege,
Kindererziehung.

Zu diesen Ausführungen kommt hinzu, daß sich die
heutige Stellung des weiblichen Geschlechtes im Ver-
gleiche zu früheren Zeiten vollkommen geändert hat. Die
Ursache ist die Jndustrialisierung unserer Kultur. Sie
nimmt der Frau im weiten Umfang den eigentlichen
hauswirtschaftlichen Beruf weg, d. h. alle zur Erzeu-
gung der in dem Haushalt gebrauchten Dinge, die früher
von der Frau gearbeitet wurden, macht heute die Ma-
schine feiner, billiger, schneller. Ausgefüllt wird nun
die Lücke der früheren Arbeitsleistungen durch die Jn-
dustrie keineswegs. Das hat für die Frau zwei Folgen:
Entweder sitzt sie, wenn das Auskommen der Fa-

starke Tendenz zu spüren, die jungen Mädchen außerhalb
des Hauses einen Verdienst suchen zu lassen. Die Vorbil-
dung zu einem Berufe ist aber in den meisten Fällen man-
gelhaft, während der Beruf dennoch die Zeit zur Erlernung
der Hauswirtschaft und Kinderpflege wegnimmt. Aus diesem
Stande rekrutiert sich ein Teil der Lehrerinnen und Stu-
dentinnen. Und zwar ist es sehr häufig so, daß die Söhne
derselben Familie einen höheren Beruf (z. B. einen aka-
demischen Beruf) ergreifen als die Töchter (die dem ge-
gebenen Beispiele entsprechend etwa als Volksschullehre-
rinnen ausgebildet würden).

Jn den höheren Ständen wird als Lebensziel eines
jungen Mädchens die Heirat angesehen. Die Eltern
glauben aber mit Mitgift und Hochzeit ihre Pflicht
getan zu haben. Eine berufliche Ausbildung des jungen
Mädchens ist in der Regel wegen Mangel an Zeit (gesell-
schaftliche Verpflichtungen, Sport) und Standesvorurteilen
verpönt. Trotzdem lernt das junge Mädchen weder die
Hauswirtschaft gründlich, noch lernt sie die primitivsten
Begriffe der Hygiene, Säuglingspflege, Krankenpflege,
Kindererziehung.

Zu diesen Ausführungen kommt hinzu, daß sich die
heutige Stellung des weiblichen Geschlechtes im Ver-
gleiche zu früheren Zeiten vollkommen geändert hat. Die
Ursache ist die Jndustrialisierung unserer Kultur. Sie
nimmt der Frau im weiten Umfang den eigentlichen
hauswirtschaftlichen Beruf weg, d. h. alle zur Erzeu-
gung der in dem Haushalt gebrauchten Dinge, die früher
von der Frau gearbeitet wurden, macht heute die Ma-
schine feiner, billiger, schneller. Ausgefüllt wird nun
die Lücke der früheren Arbeitsleistungen durch die Jn-
dustrie keineswegs. Das hat für die Frau zwei Folgen:
Entweder sitzt sie, wenn das Auskommen der Fa-

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[12/0011] starke Tendenz zu spüren, die jungen Mädchen außerhalb des Hauses einen Verdienst suchen zu lassen. Die Vorbil- dung zu einem Berufe ist aber in den meisten Fällen man- gelhaft, während der Beruf dennoch die Zeit zur Erlernung der Hauswirtschaft und Kinderpflege wegnimmt. Aus diesem Stande rekrutiert sich ein Teil der Lehrerinnen und Stu- dentinnen. Und zwar ist es sehr häufig so, daß die Söhne derselben Familie einen höheren Beruf (z. B. einen aka- demischen Beruf) ergreifen als die Töchter (die dem ge- gebenen Beispiele entsprechend etwa als Volksschullehre- rinnen ausgebildet würden). Jn den höheren Ständen wird als Lebensziel eines jungen Mädchens die Heirat angesehen. Die Eltern glauben aber mit Mitgift und Hochzeit ihre Pflicht getan zu haben. Eine berufliche Ausbildung des jungen Mädchens ist in der Regel wegen Mangel an Zeit (gesell- schaftliche Verpflichtungen, Sport) und Standesvorurteilen verpönt. Trotzdem lernt das junge Mädchen weder die Hauswirtschaft gründlich, noch lernt sie die primitivsten Begriffe der Hygiene, Säuglingspflege, Krankenpflege, Kindererziehung. Zu diesen Ausführungen kommt hinzu, daß sich die heutige Stellung des weiblichen Geschlechtes im Ver- gleiche zu früheren Zeiten vollkommen geändert hat. Die Ursache ist die Jndustrialisierung unserer Kultur. Sie nimmt der Frau im weiten Umfang den eigentlichen hauswirtschaftlichen Beruf weg, d. h. alle zur Erzeu- gung der in dem Haushalt gebrauchten Dinge, die früher von der Frau gearbeitet wurden, macht heute die Ma- schine feiner, billiger, schneller. Ausgefüllt wird nun die Lücke der früheren Arbeitsleistungen durch die Jn- dustrie keineswegs. Das hat für die Frau zwei Folgen: Entweder sitzt sie, wenn das Auskommen der Fa-

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Zitationshilfe: Ohr, Julie: Die Studentin der Gegenwart. München-Gern, 1909, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ohr_studentin_1909/11>, abgerufen am 28.03.2024.