Der Pfarrer legte segnend seine Hand auf seine Stirn und sagte: Es war ihr letztes Wort, daß ich Dir ihren Segen geben sollte -- ich segne Dich heute in ihrem Namen, mit dieser Hand, die sie sterbend drückte, wie ich es gethan, da ich Dir vor ihren letzten Stunden schrieb.
Johannes richtete die großen blauen Augen wundernd zu dem Ehrwürdigen auf und sagte: "Jch habe keinen Brief erhalten." Er stand auf und setzte sich neben den Pfarrer -- nun kam es an ein Erklären, was der Pfar- rer geschrieben und wie schändlich man selbst in dieser heiligsten Angelegenheit Johannes betrogen hatte. Man hatte einen Sohn um den Segen einer Mutter bringen wollen! --
Johannes ward getrösteter als er war durch des Pfarrers Erzählung von seiner Mutter, wenn es ihm auch war, als müsse sein Herz nochmals brechen, da er ihrer Sehnsucht nach ihm gedachte, die er nicht hatte er- füllen dürfen. Das war derselbe Amtmann, den er heute vor der Wuth des Volkes beschützt hatte, derselbe, der da- mals der sterbenden Mutter den tröstlichen Anblick des Sohnes verweigert hatte. Er selbst war schuldlos am Tode seiner Mutter -- die Schuld traf diejenigen, die ihn so ungerecht verfolgt und verrathen, die nicht geruht hatten, bis sie es ihn in Kerkermauern unmöglich ma-
Der Pfarrer legte ſegnend ſeine Hand auf ſeine Stirn und ſagte: Es war ihr letztes Wort, daß ich Dir ihren Segen geben ſollte — ich ſegne Dich heute in ihrem Namen, mit dieſer Hand, die ſie ſterbend druͤckte, wie ich es gethan, da ich Dir vor ihren letzten Stunden ſchrieb.
Johannes richtete die großen blauen Augen wundernd zu dem Ehrwuͤrdigen auf und ſagte: „Jch habe keinen Brief erhalten.“ Er ſtand auf und ſetzte ſich neben den Pfarrer — nun kam es an ein Erklaͤren, was der Pfar- rer geſchrieben und wie ſchaͤndlich man ſelbſt in dieſer heiligſten Angelegenheit Johannes betrogen hatte. Man hatte einen Sohn um den Segen einer Mutter bringen wollen! —
Johannes ward getroͤſteter als er war durch des Pfarrers Erzaͤhlung von ſeiner Mutter, wenn es ihm auch war, als muͤſſe ſein Herz nochmals brechen, da er ihrer Sehnſucht nach ihm gedachte, die er nicht hatte er- fuͤllen duͤrfen. Das war derſelbe Amtmann, den er heute vor der Wuth des Volkes beſchuͤtzt hatte, derſelbe, der da- mals der ſterbenden Mutter den troͤſtlichen Anblick des Sohnes verweigert hatte. Er ſelbſt war ſchuldlos am Tode ſeiner Mutter — die Schuld traf diejenigen, die ihn ſo ungerecht verfolgt und verrathen, die nicht geruht hatten, bis ſie es ihn in Kerkermauern unmoͤglich ma-
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Der Pfarrer legte ſegnend ſeine Hand auf ſeine Stirn
und ſagte: Es war ihr letztes Wort, daß ich Dir ihren
Segen geben ſollte — ich ſegne Dich heute in ihrem
Namen, mit dieſer Hand, die ſie ſterbend druͤckte, wie ich
es gethan, da ich Dir vor ihren letzten Stunden ſchrieb.
Johannes richtete die großen blauen Augen wundernd
zu dem Ehrwuͤrdigen auf und ſagte: „Jch habe keinen
Brief erhalten.“ Er ſtand auf und ſetzte ſich neben den
Pfarrer — nun kam es an ein Erklaͤren, was der Pfar-
rer geſchrieben und wie ſchaͤndlich man ſelbſt in dieſer
heiligſten Angelegenheit Johannes betrogen hatte. Man
hatte einen Sohn um den Segen einer Mutter bringen
wollen! —
Johannes ward getroͤſteter als er war durch des
Pfarrers Erzaͤhlung von ſeiner Mutter, wenn es ihm
auch war, als muͤſſe ſein Herz nochmals brechen, da er
ihrer Sehnſucht nach ihm gedachte, die er nicht hatte er-
fuͤllen duͤrfen. Das war derſelbe Amtmann, den er heute
vor der Wuth des Volkes beſchuͤtzt hatte, derſelbe, der da-
mals der ſterbenden Mutter den troͤſtlichen Anblick des
Sohnes verweigert hatte. Er ſelbſt war ſchuldlos am
Tode ſeiner Mutter — die Schuld traf diejenigen, die
ihn ſo ungerecht verfolgt und verrathen, die nicht geruht
hatten, bis ſie es ihn in Kerkermauern unmoͤglich ma-
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Otto-Peters, Louise: Ein Bauernsohn. Leipzig, 1849, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/otto_bauernsohn_1849/348>, abgerufen am 22.11.2024.
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