Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 1. Leipzig, 1846.Beim ersten Morgengrauen war sie aufgestanden nach einer schlaflosen Nacht. Sie hatte sich angekleidet, und war leise aus ihrem Zimmer durch den Corridor und die Treppen hinab geschlichen. Alles im Hause schlief noch, und Todtenstille herrschte. Sie weckte den schlafenden Portier: "Oeffnen Sie mir die Hausthüre!" sagte sie ihm. Der Portier zauderte. Sie gab ihm ein großes Geldstück und sagte, auf den Nelkenstrauß deutend, den sie in ihrer Hand hielt: "Es gilt eine Ueberraschung bei einem Geburtstage, ich habe Niemand ein Geheimniß daraus gemacht, und wenn ich zurückkomme, werde ich Alles verantworten." Geld öffnet ja so viele Thüren -- warum nicht auch die einer Erziehungsanstalt? Elisabeth durfte sie ungehindert verlassen. Die Entschiedenheit, mit der sie es als ein Recht verlangte, frappirte ihn -- er dachte, um das zu wagen, müsse sie wohl wissen, daß sie es wagen dürfe -- und so öffnete ihr der Portier. Sie eilte hastig durch die noch ziemlich menschenleeren Gassen dem Thore zu, durch welches Thalheim fahren würde. Es war noch nicht fünf Uhr -- um diese Stunde hatte er fort gewollt -- das rasche Klopsen ihres Herzens benahm ihr oft fast den Athem, ihre Pulse bewegten sich fieberhaft, stürmisch -- sie hatte gar keinen klaren Gedanken, nur auf einen Punkt richtete sich ihr Geist: sie mußte ihn noch ein Mal sehen -- zum letzten Mal -- alles Andere Beim ersten Morgengrauen war sie aufgestanden nach einer schlaflosen Nacht. Sie hatte sich angekleidet, und war leise aus ihrem Zimmer durch den Corridor und die Treppen hinab geschlichen. Alles im Hause schlief noch, und Todtenstille herrschte. Sie weckte den schlafenden Portier: „Oeffnen Sie mir die Hausthüre!“ sagte sie ihm. Der Portier zauderte. Sie gab ihm ein großes Geldstück und sagte, auf den Nelkenstrauß deutend, den sie in ihrer Hand hielt: „Es gilt eine Ueberraschung bei einem Geburtstage, ich habe Niemand ein Geheimniß daraus gemacht, und wenn ich zurückkomme, werde ich Alles verantworten.“ Geld öffnet ja so viele Thüren — warum nicht auch die einer Erziehungsanstalt? Elisabeth durfte sie ungehindert verlassen. Die Entschiedenheit, mit der sie es als ein Recht verlangte, frappirte ihn — er dachte, um das zu wagen, müsse sie wohl wissen, daß sie es wagen dürfe — und so öffnete ihr der Portier. Sie eilte hastig durch die noch ziemlich menschenleeren Gassen dem Thore zu, durch welches Thalheim fahren würde. Es war noch nicht fünf Uhr — um diese Stunde hatte er fort gewollt — das rasche Klopsen ihres Herzens benahm ihr oft fast den Athem, ihre Pulse bewegten sich fieberhaft, stürmisch — sie hatte gar keinen klaren Gedanken, nur auf einen Punkt richtete sich ihr Geist: sie mußte ihn noch ein Mal sehen — zum letzten Mal — alles Andere <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0115" n="105"/> <p> Beim ersten Morgengrauen war sie aufgestanden nach einer schlaflosen Nacht. Sie hatte sich angekleidet, und war leise aus ihrem Zimmer durch den Corridor und die Treppen hinab geschlichen. Alles im Hause schlief noch, und Todtenstille herrschte. Sie weckte den schlafenden Portier: „Oeffnen Sie mir die Hausthüre!“ sagte sie ihm. Der Portier zauderte. Sie gab ihm ein großes Geldstück und sagte, auf den Nelkenstrauß deutend, den sie in ihrer Hand hielt: „Es gilt eine Ueberraschung bei einem Geburtstage, ich habe Niemand ein Geheimniß daraus gemacht, und wenn ich zurückkomme, werde ich Alles verantworten.“</p> <p>Geld öffnet ja so viele Thüren — warum nicht auch die einer Erziehungsanstalt? Elisabeth durfte sie ungehindert verlassen. Die Entschiedenheit, mit der sie es als ein Recht verlangte, frappirte ihn — er dachte, um das zu wagen, müsse sie wohl wissen, daß sie es wagen dürfe — und so öffnete ihr der Portier.</p> <p>Sie eilte hastig durch die noch ziemlich menschenleeren Gassen dem Thore zu, durch welches Thalheim fahren würde. Es war noch nicht fünf Uhr — um diese Stunde hatte er fort gewollt — das rasche Klopsen ihres Herzens benahm ihr oft fast den Athem, ihre Pulse bewegten sich fieberhaft, stürmisch — sie hatte gar keinen klaren Gedanken, nur auf einen Punkt richtete sich ihr Geist: sie mußte ihn noch ein Mal sehen — zum letzten Mal — alles Andere </p> </div> </body> </text> </TEI> [105/0115]
Beim ersten Morgengrauen war sie aufgestanden nach einer schlaflosen Nacht. Sie hatte sich angekleidet, und war leise aus ihrem Zimmer durch den Corridor und die Treppen hinab geschlichen. Alles im Hause schlief noch, und Todtenstille herrschte. Sie weckte den schlafenden Portier: „Oeffnen Sie mir die Hausthüre!“ sagte sie ihm. Der Portier zauderte. Sie gab ihm ein großes Geldstück und sagte, auf den Nelkenstrauß deutend, den sie in ihrer Hand hielt: „Es gilt eine Ueberraschung bei einem Geburtstage, ich habe Niemand ein Geheimniß daraus gemacht, und wenn ich zurückkomme, werde ich Alles verantworten.“
Geld öffnet ja so viele Thüren — warum nicht auch die einer Erziehungsanstalt? Elisabeth durfte sie ungehindert verlassen. Die Entschiedenheit, mit der sie es als ein Recht verlangte, frappirte ihn — er dachte, um das zu wagen, müsse sie wohl wissen, daß sie es wagen dürfe — und so öffnete ihr der Portier.
Sie eilte hastig durch die noch ziemlich menschenleeren Gassen dem Thore zu, durch welches Thalheim fahren würde. Es war noch nicht fünf Uhr — um diese Stunde hatte er fort gewollt — das rasche Klopsen ihres Herzens benahm ihr oft fast den Athem, ihre Pulse bewegten sich fieberhaft, stürmisch — sie hatte gar keinen klaren Gedanken, nur auf einen Punkt richtete sich ihr Geist: sie mußte ihn noch ein Mal sehen — zum letzten Mal — alles Andere
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