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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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die Tradition und die Erfahrung mangelt, Zweck, Mittel und Personen in ein harmonisches Verhältnis zu bringen.

Für uns ungerufene Fremdlinge, Eindringlinge, die noch nicht einmal etwas versprechen durften dafür, daß wir alles sehen und wissen wollten, für uns war die Bereitwilligkeit der meisten Lemberger Herren und Damen, von uns zu lernen, fast beschämend. Ich werde in meinem Bericht über den Kulturstand des Landes und seine einzelnen Faktoren jeweils wieder auf Lemberg zurückkommen, möchte aber die allgemeine Bemerkung nicht unterlassen, daß ich nach unserem zweiten Aufenthalt dort, auf der Rückreise, das lebhafte Gefühl hatte, nicht ganz vergeblich dort gewesen zu sein; man hat verstanden, was uns zu unserer Reise bewogen hat, man hat sich für Anregung jeder Art sehr empfänglich gezeigt und sich bereit erklärt, mitzuarbeiten wenn von außen Anstoß und vielleicht auch Mittel gebracht würden. Ich glaube, wir dürfen das in gewissem Sinne als einen idealen Erfolg bezeichnen, für den die realen Formen hoffentlich nicht ausbleiben werden.

Wenn man hört, daß die Baron Hirsch-Schulen nur für Knaben eingerichtet sind, weil es den jüdischen Mädchen, sowohl aus innern wie aus äußern Gründen, unbenommen ist, die öffentlichen Landesschulen zu besuchen, so könnte das leicht zu der irrigen Annahme führen, als geschehe im Lande irgend etwas Namhaftes für die Erziehung der Mädchen.

Vor allem muß man bedenken, daß Erziehung und einige elementare Kenntnisse grundverschiedene Dinge sind.

Abgesehen davon, daß die christlichen Lehrerinnen, denen die jüdischen Mädchen durch ihre mangelhafte Sprache ohnedies viele Mühe machen, sich selbst bei gutem Willen nicht mit den einzelnen Kindern eingehend beschäftigen können, würde ihnen auch über den Rahmen der Schule hinaus der Einfluß fehlen. Eine Erziehung im weiteren Sinne ist von der Schule überhaupt nicht zu erwarten.

In einer Familie, in der Vater, Mutter und Söhne Analphabeten sind, ist eine Tochter, die vier Volksschulklassen "geendet" hat, wie der übliche Ausdruck lautet, ein "sehr gebildetes Fräulein", und so gefährlich unerzogen und ungebildet sie ist, so gibt es für sie keine Instanz, bei der sie sich energischen Rat und Verwarnung holen könnte. Mir sind überhaupt nur sechs Stellen

die Tradition und die Erfahrung mangelt, Zweck, Mittel und Personen in ein harmonisches Verhältnis zu bringen.

Für uns ungerufene Fremdlinge, Eindringlinge, die noch nicht einmal etwas versprechen durften dafür, daß wir alles sehen und wissen wollten, für uns war die Bereitwilligkeit der meisten Lemberger Herren und Damen, von uns zu lernen, fast beschämend. Ich werde in meinem Bericht über den Kulturstand des Landes und seine einzelnen Faktoren jeweils wieder auf Lemberg zurückkommen, möchte aber die allgemeine Bemerkung nicht unterlassen, daß ich nach unserem zweiten Aufenthalt dort, auf der Rückreise, das lebhafte Gefühl hatte, nicht ganz vergeblich dort gewesen zu sein; man hat verstanden, was uns zu unserer Reise bewogen hat, man hat sich für Anregung jeder Art sehr empfänglich gezeigt und sich bereit erklärt, mitzuarbeiten wenn von außen Anstoß und vielleicht auch Mittel gebracht würden. Ich glaube, wir dürfen das in gewissem Sinne als einen idealen Erfolg bezeichnen, für den die realen Formen hoffentlich nicht ausbleiben werden.

Wenn man hört, daß die Baron Hirsch-Schulen nur für Knaben eingerichtet sind, weil es den jüdischen Mädchen, sowohl aus innern wie aus äußern Gründen, unbenommen ist, die öffentlichen Landesschulen zu besuchen, so könnte das leicht zu der irrigen Annahme führen, als geschehe im Lande irgend etwas Namhaftes für die Erziehung der Mädchen.

Vor allem muß man bedenken, daß Erziehung und einige elementare Kenntnisse grundverschiedene Dinge sind.

Abgesehen davon, daß die christlichen Lehrerinnen, denen die jüdischen Mädchen durch ihre mangelhafte Sprache ohnedies viele Mühe machen, sich selbst bei gutem Willen nicht mit den einzelnen Kindern eingehend beschäftigen können, würde ihnen auch über den Rahmen der Schule hinaus der Einfluß fehlen. Eine Erziehung im weiteren Sinne ist von der Schule überhaupt nicht zu erwarten.

In einer Familie, in der Vater, Mutter und Söhne Analphabeten sind, ist eine Tochter, die vier Volksschulklassen „geendet“ hat, wie der übliche Ausdruck lautet, ein „sehr gebildetes Fräulein“, und so gefährlich unerzogen und ungebildet sie ist, so gibt es für sie keine Instanz, bei der sie sich energischen Rat und Verwarnung holen könnte. Mir sind überhaupt nur sechs Stellen

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        <p>Wenn man hört, daß die Baron Hirsch-Schulen nur für Knaben eingerichtet sind, weil es den jüdischen Mädchen, sowohl aus innern wie aus äußern Gründen, unbenommen ist, die öffentlichen Landesschulen zu besuchen, so könnte das leicht zu der irrigen Annahme führen, als geschehe im Lande irgend etwas Namhaftes für die Erziehung der Mädchen.</p>
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[15/0015] die Tradition und die Erfahrung mangelt, Zweck, Mittel und Personen in ein harmonisches Verhältnis zu bringen. Für uns ungerufene Fremdlinge, Eindringlinge, die noch nicht einmal etwas versprechen durften dafür, daß wir alles sehen und wissen wollten, für uns war die Bereitwilligkeit der meisten Lemberger Herren und Damen, von uns zu lernen, fast beschämend. Ich werde in meinem Bericht über den Kulturstand des Landes und seine einzelnen Faktoren jeweils wieder auf Lemberg zurückkommen, möchte aber die allgemeine Bemerkung nicht unterlassen, daß ich nach unserem zweiten Aufenthalt dort, auf der Rückreise, das lebhafte Gefühl hatte, nicht ganz vergeblich dort gewesen zu sein; man hat verstanden, was uns zu unserer Reise bewogen hat, man hat sich für Anregung jeder Art sehr empfänglich gezeigt und sich bereit erklärt, mitzuarbeiten wenn von außen Anstoß und vielleicht auch Mittel gebracht würden. Ich glaube, wir dürfen das in gewissem Sinne als einen idealen Erfolg bezeichnen, für den die realen Formen hoffentlich nicht ausbleiben werden. Wenn man hört, daß die Baron Hirsch-Schulen nur für Knaben eingerichtet sind, weil es den jüdischen Mädchen, sowohl aus innern wie aus äußern Gründen, unbenommen ist, die öffentlichen Landesschulen zu besuchen, so könnte das leicht zu der irrigen Annahme führen, als geschehe im Lande irgend etwas Namhaftes für die Erziehung der Mädchen. Vor allem muß man bedenken, daß Erziehung und einige elementare Kenntnisse grundverschiedene Dinge sind. Abgesehen davon, daß die christlichen Lehrerinnen, denen die jüdischen Mädchen durch ihre mangelhafte Sprache ohnedies viele Mühe machen, sich selbst bei gutem Willen nicht mit den einzelnen Kindern eingehend beschäftigen können, würde ihnen auch über den Rahmen der Schule hinaus der Einfluß fehlen. Eine Erziehung im weiteren Sinne ist von der Schule überhaupt nicht zu erwarten. In einer Familie, in der Vater, Mutter und Söhne Analphabeten sind, ist eine Tochter, die vier Volksschulklassen „geendet“ hat, wie der übliche Ausdruck lautet, ein „sehr gebildetes Fräulein“, und so gefährlich unerzogen und ungebildet sie ist, so gibt es für sie keine Instanz, bei der sie sich energischen Rat und Verwarnung holen könnte. Mir sind überhaupt nur sechs Stellen

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/15>, abgerufen am 23.11.2024.