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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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Welchen Aufschwung von Industrie und Handel würde das bedeuten, welche andere gleichfalls unabweisliche Bedürfnisse würde das zum Segen des Landes und zur Hebung des Kulturniveaus herbeiführen. Die Phantasie kommt förmlich in rasenden Galopp bei der einfachen Vorstellung des "Luxus" von zwei ganzen, sauberen Hemden auf den Kopf der Bevölkerung.

Sehr bedauerlich im Handelsverkehr ist für das Land die bewußte Einführung von "Schundwaren für Galizien". Ihre Einführung bedeutet, außer der ökonomischen, auch noch eine besondere Schädigung des Käufers, indem sie die Gewohnheit schleuderischen Einkaufs, Verkaufs und Gebrauchs hervorbringen und durch raschen Wechsel wieder eine Verführung zum Luxus im verderblichen Sinne bringen.

Das gilt selbstredend am meisten von Schnitt- und Modewaren.

Über den Verdienst der Aufkäufer, Zwischenhändler und Vermittler dürfte es wohl schwer sein, bestimmte Daten zu ermitteln, da die Leute nur ungern Auskunft geben, wohl auch selbst nichts Genaues wissen.

Handelsartikel sind hier meist die Produkte der bäuerlichen Landwirtschaft: Eier, Geflügel, Milch und Butter. In diesem Verkehr zeigt sich recht auffallend eine ausgesprochene Animosität zwischen der christlichen und der jüdischen Bevölkerung, die je kleiner die Geschäfte und die Preisdifferenzen sind, sich desto leichter zu großer Feindseligkeit ausgestalten. Unter Verhältnissen, in denen 10 Gulden ein Betriebskapital, und der Gewinn von 50 Kreuzern ein Geschäft ist, dem man Stunden widmen muß, kann sich nur schwer Weite und Größe des Blickes und der Gesinnung entwickeln. Es muß somit der Typus des Handelsjuden entstehen, der um halbe Kreuzer feilscht, wenn er einen Hering, einen Krautapfel, ein paar Zwiebel oder eine saure Gurke zum Mittagessen genießen will.

Bei unseren Wagenfahrten sind uns unzählige flache Leiterwagen ohne jedes Schutzdach begegnet, auf denen Händler und Aufkäufer eng aneinander gerückt saßen, oft im Stroh hockend, oft an lebendes Kleinvieh herangedrängt.

Sorgenvollen Blickes stieren sie vor sich hin, oder sie sprechen eifrig; aber gleichgiltig sind sie für die sie umgebende Natur,

Welchen Aufschwung von Industrie und Handel würde das bedeuten, welche andere gleichfalls unabweisliche Bedürfnisse würde das zum Segen des Landes und zur Hebung des Kulturniveaus herbeiführen. Die Phantasie kommt förmlich in rasenden Galopp bei der einfachen Vorstellung des „Luxus“ von zwei ganzen, sauberen Hemden auf den Kopf der Bevölkerung.

Sehr bedauerlich im Handelsverkehr ist für das Land die bewußte Einführung von „Schundwaren für Galizien“. Ihre Einführung bedeutet, außer der ökonomischen, auch noch eine besondere Schädigung des Käufers, indem sie die Gewohnheit schleuderischen Einkaufs, Verkaufs und Gebrauchs hervorbringen und durch raschen Wechsel wieder eine Verführung zum Luxus im verderblichen Sinne bringen.

Das gilt selbstredend am meisten von Schnitt- und Modewaren.

Über den Verdienst der Aufkäufer, Zwischenhändler und Vermittler dürfte es wohl schwer sein, bestimmte Daten zu ermitteln, da die Leute nur ungern Auskunft geben, wohl auch selbst nichts Genaues wissen.

Handelsartikel sind hier meist die Produkte der bäuerlichen Landwirtschaft: Eier, Geflügel, Milch und Butter. In diesem Verkehr zeigt sich recht auffallend eine ausgesprochene Animosität zwischen der christlichen und der jüdischen Bevölkerung, die je kleiner die Geschäfte und die Preisdifferenzen sind, sich desto leichter zu großer Feindseligkeit ausgestalten. Unter Verhältnissen, in denen 10 Gulden ein Betriebskapital, und der Gewinn von 50 Kreuzern ein Geschäft ist, dem man Stunden widmen muß, kann sich nur schwer Weite und Größe des Blickes und der Gesinnung entwickeln. Es muß somit der Typus des Handelsjuden entstehen, der um halbe Kreuzer feilscht, wenn er einen Hering, einen Krautapfel, ein paar Zwiebel oder eine saure Gurke zum Mittagessen genießen will.

Bei unseren Wagenfahrten sind uns unzählige flache Leiterwagen ohne jedes Schutzdach begegnet, auf denen Händler und Aufkäufer eng aneinander gerückt saßen, oft im Stroh hockend, oft an lebendes Kleinvieh herangedrängt.

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[28/0028] Welchen Aufschwung von Industrie und Handel würde das bedeuten, welche andere gleichfalls unabweisliche Bedürfnisse würde das zum Segen des Landes und zur Hebung des Kulturniveaus herbeiführen. Die Phantasie kommt förmlich in rasenden Galopp bei der einfachen Vorstellung des „Luxus“ von zwei ganzen, sauberen Hemden auf den Kopf der Bevölkerung. Sehr bedauerlich im Handelsverkehr ist für das Land die bewußte Einführung von „Schundwaren für Galizien“. Ihre Einführung bedeutet, außer der ökonomischen, auch noch eine besondere Schädigung des Käufers, indem sie die Gewohnheit schleuderischen Einkaufs, Verkaufs und Gebrauchs hervorbringen und durch raschen Wechsel wieder eine Verführung zum Luxus im verderblichen Sinne bringen. Das gilt selbstredend am meisten von Schnitt- und Modewaren. Über den Verdienst der Aufkäufer, Zwischenhändler und Vermittler dürfte es wohl schwer sein, bestimmte Daten zu ermitteln, da die Leute nur ungern Auskunft geben, wohl auch selbst nichts Genaues wissen. Handelsartikel sind hier meist die Produkte der bäuerlichen Landwirtschaft: Eier, Geflügel, Milch und Butter. In diesem Verkehr zeigt sich recht auffallend eine ausgesprochene Animosität zwischen der christlichen und der jüdischen Bevölkerung, die je kleiner die Geschäfte und die Preisdifferenzen sind, sich desto leichter zu großer Feindseligkeit ausgestalten. Unter Verhältnissen, in denen 10 Gulden ein Betriebskapital, und der Gewinn von 50 Kreuzern ein Geschäft ist, dem man Stunden widmen muß, kann sich nur schwer Weite und Größe des Blickes und der Gesinnung entwickeln. Es muß somit der Typus des Handelsjuden entstehen, der um halbe Kreuzer feilscht, wenn er einen Hering, einen Krautapfel, ein paar Zwiebel oder eine saure Gurke zum Mittagessen genießen will. Bei unseren Wagenfahrten sind uns unzählige flache Leiterwagen ohne jedes Schutzdach begegnet, auf denen Händler und Aufkäufer eng aneinander gerückt saßen, oft im Stroh hockend, oft an lebendes Kleinvieh herangedrängt. Sorgenvollen Blickes stieren sie vor sich hin, oder sie sprechen eifrig; aber gleichgiltig sind sie für die sie umgebende Natur,

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/28>, abgerufen am 27.04.2024.