Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.den Übergang eines Teils der jüdischen Bevölkerung Galiziens zur Landwirtschaft herbeizuführen muß man folgendes festhalten: Der Übergang der Juden zur Landwirtschaft kann an und für sich nicht als das Ideal dargestellt werden, wie es viele jüdische Philanthropen gern tun. Das Czerniejower Beispiel beweist, daß die Landwirtschaft die Juden von ihrer wirtschaftlichen und geistigen Not nicht befreit, solange der Grundbesitz zu klein und die Bildungsmittel zu spärlich sind. Aber die christliche Bevölkerung lebt in Galizien geradeso schlecht und oft noch schlechter, als die Czerniejower Bauern. Wie die Statistik beweist, ist man bei dem bestehenden Parzellenbetriebe allgemein darauf angewiesen, sich einen Nebenerwerb in der Hausindustrie oder in der Stadt zu suchen. Es wird von galizischen Sozialpolitikern gewünscht, daß der Fortschritt der Industrie, der den Abfluß der bäuerlichen Bevölkerung nach den Städten befördert, die Zahl der bäuerlichen Betriebe reduziere und damit den Umfang vergrößere. Es ist für den gesamten Fortschritt Galiziens zu wünschen, daß die frei werdenden bäuerlichen Stellen zur Vergrößerung der übrigen Kleinbetriebe verwendet und nicht wieder selbständiger Bewirtschaftung zugeführt werden. Die Ansiedlung von Juden auf diesen freigewordenen Stellen wäre daher grundverfehlt. Man muß nach anderen Mitteln suchen, um die Juden Galiziens der Landwirtschaft zuzuführen. Diese Mittel finden sich, wenn man die starke hypothekarische Belastung der landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe in Galizien ins Auge faßt. Die Summe aller landwirtschaftlichen Hypotheken beträgt in Galizien 800 Millionen Kronen oder 105 Kronen pro Hektar. Davon entfallen 560 Millionen oder 217 Kronen pro Hektar auf die Groß- und Mittelbetriebe und 240 Millionen oder 50 Kronen pro Hektar auf die bäuerlichen Betriebe. Von den nicht kleinbäuerlichen Betrieben sind die Mittelbetriebe, die 18 Prozent aller nicht bäuerlichen Betriebe ausmachen, besonders stark belastet, so daß man überall die Tendenz der Partierung der Mittelbetriebe und den Übergang zu kleinbäuerlichen Wirtschaften findet. den Übergang eines Teils der jüdischen Bevölkerung Galiziens zur Landwirtschaft herbeizuführen muß man folgendes festhalten: Der Übergang der Juden zur Landwirtschaft kann an und für sich nicht als das Ideal dargestellt werden, wie es viele jüdische Philanthropen gern tun. Das Czerniejower Beispiel beweist, daß die Landwirtschaft die Juden von ihrer wirtschaftlichen und geistigen Not nicht befreit, solange der Grundbesitz zu klein und die Bildungsmittel zu spärlich sind. Aber die christliche Bevölkerung lebt in Galizien geradeso schlecht und oft noch schlechter, als die Czerniejower Bauern. Wie die Statistik beweist, ist man bei dem bestehenden Parzellenbetriebe allgemein darauf angewiesen, sich einen Nebenerwerb in der Hausindustrie oder in der Stadt zu suchen. Es wird von galizischen Sozialpolitikern gewünscht, daß der Fortschritt der Industrie, der den Abfluß der bäuerlichen Bevölkerung nach den Städten befördert, die Zahl der bäuerlichen Betriebe reduziere und damit den Umfang vergrößere. Es ist für den gesamten Fortschritt Galiziens zu wünschen, daß die frei werdenden bäuerlichen Stellen zur Vergrößerung der übrigen Kleinbetriebe verwendet und nicht wieder selbständiger Bewirtschaftung zugeführt werden. Die Ansiedlung von Juden auf diesen freigewordenen Stellen wäre daher grundverfehlt. Man muß nach anderen Mitteln suchen, um die Juden Galiziens der Landwirtschaft zuzuführen. Diese Mittel finden sich, wenn man die starke hypothekarische Belastung der landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe in Galizien ins Auge faßt. Die Summe aller landwirtschaftlichen Hypotheken beträgt in Galizien 800 Millionen Kronen oder 105 Kronen pro Hektar. Davon entfallen 560 Millionen oder 217 Kronen pro Hektar auf die Groß- und Mittelbetriebe und 240 Millionen oder 50 Kronen pro Hektar auf die bäuerlichen Betriebe. Von den nicht kleinbäuerlichen Betrieben sind die Mittelbetriebe, die 18 Prozent aller nicht bäuerlichen Betriebe ausmachen, besonders stark belastet, so daß man überall die Tendenz der Partierung der Mittelbetriebe und den Übergang zu kleinbäuerlichen Wirtschaften findet. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0070" n="70"/> den Übergang eines Teils der jüdischen Bevölkerung Galiziens zur Landwirtschaft herbeizuführen muß man folgendes festhalten: Der Übergang der Juden zur Landwirtschaft kann an und für sich nicht als das Ideal dargestellt werden, wie es viele jüdische Philanthropen gern tun.</p> <p>Das Czerniejower Beispiel beweist, daß die Landwirtschaft die Juden von ihrer wirtschaftlichen und geistigen Not nicht befreit, solange der Grundbesitz zu klein und die Bildungsmittel zu spärlich sind. Aber die christliche Bevölkerung lebt in Galizien geradeso schlecht und oft noch schlechter, als die Czerniejower Bauern. Wie die Statistik beweist, ist man bei dem bestehenden Parzellenbetriebe allgemein darauf angewiesen, sich einen Nebenerwerb in der Hausindustrie oder in der Stadt zu suchen.</p> <p>Es wird von galizischen Sozialpolitikern gewünscht, daß der Fortschritt der Industrie, der den Abfluß der bäuerlichen Bevölkerung nach den Städten befördert, die Zahl der bäuerlichen Betriebe reduziere und damit den Umfang vergrößere.</p> <p>Es ist für den gesamten Fortschritt Galiziens zu wünschen, daß die frei werdenden bäuerlichen Stellen zur Vergrößerung der übrigen Kleinbetriebe verwendet und nicht wieder selbständiger Bewirtschaftung zugeführt werden. Die Ansiedlung von Juden auf diesen freigewordenen Stellen wäre daher grundverfehlt.</p> <p>Man muß nach anderen Mitteln suchen, um die Juden Galiziens der Landwirtschaft zuzuführen. 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den Übergang eines Teils der jüdischen Bevölkerung Galiziens zur Landwirtschaft herbeizuführen muß man folgendes festhalten: Der Übergang der Juden zur Landwirtschaft kann an und für sich nicht als das Ideal dargestellt werden, wie es viele jüdische Philanthropen gern tun.
Das Czerniejower Beispiel beweist, daß die Landwirtschaft die Juden von ihrer wirtschaftlichen und geistigen Not nicht befreit, solange der Grundbesitz zu klein und die Bildungsmittel zu spärlich sind. Aber die christliche Bevölkerung lebt in Galizien geradeso schlecht und oft noch schlechter, als die Czerniejower Bauern. Wie die Statistik beweist, ist man bei dem bestehenden Parzellenbetriebe allgemein darauf angewiesen, sich einen Nebenerwerb in der Hausindustrie oder in der Stadt zu suchen.
Es wird von galizischen Sozialpolitikern gewünscht, daß der Fortschritt der Industrie, der den Abfluß der bäuerlichen Bevölkerung nach den Städten befördert, die Zahl der bäuerlichen Betriebe reduziere und damit den Umfang vergrößere.
Es ist für den gesamten Fortschritt Galiziens zu wünschen, daß die frei werdenden bäuerlichen Stellen zur Vergrößerung der übrigen Kleinbetriebe verwendet und nicht wieder selbständiger Bewirtschaftung zugeführt werden. Die Ansiedlung von Juden auf diesen freigewordenen Stellen wäre daher grundverfehlt.
Man muß nach anderen Mitteln suchen, um die Juden Galiziens der Landwirtschaft zuzuführen. Diese Mittel finden sich, wenn man die starke hypothekarische Belastung der landwirtschaftlichen Groß- und Mittelbetriebe in Galizien ins Auge faßt.
Die Summe aller landwirtschaftlichen Hypotheken beträgt in Galizien 800 Millionen Kronen oder 105 Kronen pro Hektar. Davon entfallen 560 Millionen oder 217 Kronen pro Hektar auf die Groß- und Mittelbetriebe und 240 Millionen oder 50 Kronen pro Hektar auf die bäuerlichen Betriebe.
Von den nicht kleinbäuerlichen Betrieben sind die Mittelbetriebe, die 18 Prozent aller nicht bäuerlichen Betriebe ausmachen, besonders stark belastet, so daß man überall die Tendenz der Partierung der Mittelbetriebe und den Übergang zu kleinbäuerlichen Wirtschaften findet.
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