Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.keinen Leitfaden für ihre Lektüre. Im Hause hat und versteht ein Mädchen fast nichts zu tun. Von Mädchenklubs hat man in Galizien keine Ahnung, und die Straße wird für das Mädchen fast zur einzigen Abwechslung nach der täglichen Arbeit. Ganz anders würde sich die Sache gestalten, wenn die Gewerbeschülerinnen schon während ihrer Lehrzeit in ihren Mußestunden beaufsichtigt würden, wenn die Schule ihnen die Möglichkeit gäbe, abends zusammenzukommen, um ihre Schulbildung zu ergänzen resp. lesen und schreiben zu lernen, wenn sie ihnen Lektüre böte, und sie zur Häuslichkeit und Hausarbeit anleitete. Schon in ihren Lehrjahren sollten die jüdischen Mädchen zur Selbstachtung erzogen werden, denn dieses Bewußtsein der eigenen Würde ist ein Grundstein für die Hebung der Sittlichkeit und der sozialen Lage der jüdischen Mädchen. Ein gleicher Einfluß läßt sich auch von den Dienstboten- oder Haushaltungsschulen voraussagen. Hier kommen jedoch noch andere Gesichtspunkte in Betracht. Der Lehrzeit im Handwerk entspricht im Hausdienste in Galizien in der Regel der Dienst als Kindermädchen, was jedoch eigenartig verstanden werden muß. Die Frauen der kleinen jüdischen Geschäftsleute, die gewöhnlich tagsüber außerhalb des Hauses bleiben und kleine Kinder zu Hause zurücklassen, mieten sich zur Beaufsichtigung ihrer Kinder junge Mädchen von 12 bis 14 Jahren, die zugleich als Laufmädchen verwendet werden. Ein solches Mädchen erhält dafür einen Lohn von 11/2 bis 2 Gulden monatlich, meistens ohne freie Station. Sie lernt den Dienst als sklavischen Gehorsam kennen, der nur durch freche Unart durchbrochen werden kann. Wenn sie dann älter wird und in eine Stelle tritt für 3 bis 5 Gulden und mit freier Station, d. i. ein klägliches Bett in der Ecke der Küche und Überreste von der Mahlzeit der Herrschaften, so bestehen ihre Pflichten auch durchaus nicht in einer geregelten Arbeit, sondern in der Verrichtung der verschiedensten Dienste, die ihr von ihrer Herrin launisch und oft zwecklos vorgeschrieben werden. Regelmäßig und planmäßig geführte Haushaltungen gibt es in Galizien fast gar nicht. Dies liegt zum großen Teil in der allgemeinen Unregelmäßigkeit des Lebens, weshalb man im Hauswesen keinen Leitfaden für ihre Lektüre. Im Hause hat und versteht ein Mädchen fast nichts zu tun. Von Mädchenklubs hat man in Galizien keine Ahnung, und die Straße wird für das Mädchen fast zur einzigen Abwechslung nach der täglichen Arbeit. Ganz anders würde sich die Sache gestalten, wenn die Gewerbeschülerinnen schon während ihrer Lehrzeit in ihren Mußestunden beaufsichtigt würden, wenn die Schule ihnen die Möglichkeit gäbe, abends zusammenzukommen, um ihre Schulbildung zu ergänzen resp. lesen und schreiben zu lernen, wenn sie ihnen Lektüre böte, und sie zur Häuslichkeit und Hausarbeit anleitete. Schon in ihren Lehrjahren sollten die jüdischen Mädchen zur Selbstachtung erzogen werden, denn dieses Bewußtsein der eigenen Würde ist ein Grundstein für die Hebung der Sittlichkeit und der sozialen Lage der jüdischen Mädchen. Ein gleicher Einfluß läßt sich auch von den Dienstboten- oder Haushaltungsschulen voraussagen. Hier kommen jedoch noch andere Gesichtspunkte in Betracht. Der Lehrzeit im Handwerk entspricht im Hausdienste in Galizien in der Regel der Dienst als Kindermädchen, was jedoch eigenartig verstanden werden muß. Die Frauen der kleinen jüdischen Geschäftsleute, die gewöhnlich tagsüber außerhalb des Hauses bleiben und kleine Kinder zu Hause zurücklassen, mieten sich zur Beaufsichtigung ihrer Kinder junge Mädchen von 12 bis 14 Jahren, die zugleich als Laufmädchen verwendet werden. Ein solches Mädchen erhält dafür einen Lohn von 1½ bis 2 Gulden monatlich, meistens ohne freie Station. Sie lernt den Dienst als sklavischen Gehorsam kennen, der nur durch freche Unart durchbrochen werden kann. Wenn sie dann älter wird und in eine Stelle tritt für 3 bis 5 Gulden und mit freier Station, d. i. ein klägliches Bett in der Ecke der Küche und Überreste von der Mahlzeit der Herrschaften, so bestehen ihre Pflichten auch durchaus nicht in einer geregelten Arbeit, sondern in der Verrichtung der verschiedensten Dienste, die ihr von ihrer Herrin launisch und oft zwecklos vorgeschrieben werden. Regelmäßig und planmäßig geführte Haushaltungen gibt es in Galizien fast gar nicht. 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Von Mädchenklubs hat man in Galizien keine Ahnung, und die Straße wird für das Mädchen fast zur einzigen Abwechslung nach der täglichen Arbeit.</p> <p>Ganz anders würde sich die Sache gestalten, wenn die Gewerbeschülerinnen schon während ihrer Lehrzeit in ihren Mußestunden beaufsichtigt würden, wenn die Schule ihnen die Möglichkeit gäbe, abends zusammenzukommen, um ihre Schulbildung zu ergänzen resp. lesen und schreiben zu lernen, wenn sie ihnen Lektüre böte, und sie zur Häuslichkeit und Hausarbeit anleitete.</p> <p>Schon in ihren Lehrjahren sollten die jüdischen Mädchen zur Selbstachtung erzogen werden, denn dieses Bewußtsein der eigenen Würde ist ein Grundstein für die Hebung der Sittlichkeit und der sozialen Lage der jüdischen Mädchen. Ein gleicher Einfluß läßt sich auch von den Dienstboten- oder Haushaltungsschulen voraussagen.</p> <p>Hier kommen jedoch noch andere Gesichtspunkte in Betracht. Der Lehrzeit im Handwerk entspricht im Hausdienste in Galizien in der Regel der Dienst als Kindermädchen, was jedoch eigenartig verstanden werden muß. Die Frauen der kleinen jüdischen Geschäftsleute, die gewöhnlich tagsüber außerhalb des Hauses bleiben und kleine Kinder zu Hause zurücklassen, mieten sich zur Beaufsichtigung ihrer Kinder junge Mädchen von 12 bis 14 Jahren, die zugleich als Laufmädchen verwendet werden.</p> <p>Ein solches Mädchen erhält dafür einen Lohn von 1½ bis 2 Gulden monatlich, meistens ohne freie Station.</p> <p>Sie lernt den Dienst als sklavischen Gehorsam kennen, der nur durch freche Unart durchbrochen werden kann. Wenn sie dann älter wird und in eine Stelle tritt für 3 bis 5 Gulden und mit freier Station, d. i. ein klägliches Bett in der Ecke der Küche und Überreste von der Mahlzeit der Herrschaften, so bestehen ihre Pflichten auch durchaus nicht in einer geregelten Arbeit, sondern in der Verrichtung der verschiedensten Dienste, die ihr von ihrer Herrin launisch und oft zwecklos vorgeschrieben werden.</p> <p>Regelmäßig und planmäßig geführte Haushaltungen gibt es in Galizien fast gar nicht. Dies liegt zum großen Teil in der allgemeinen Unregelmäßigkeit des Lebens, weshalb man im Hauswesen </p> </div> </body> </text> </TEI> [79/0079]
keinen Leitfaden für ihre Lektüre. Im Hause hat und versteht ein Mädchen fast nichts zu tun. Von Mädchenklubs hat man in Galizien keine Ahnung, und die Straße wird für das Mädchen fast zur einzigen Abwechslung nach der täglichen Arbeit.
Ganz anders würde sich die Sache gestalten, wenn die Gewerbeschülerinnen schon während ihrer Lehrzeit in ihren Mußestunden beaufsichtigt würden, wenn die Schule ihnen die Möglichkeit gäbe, abends zusammenzukommen, um ihre Schulbildung zu ergänzen resp. lesen und schreiben zu lernen, wenn sie ihnen Lektüre böte, und sie zur Häuslichkeit und Hausarbeit anleitete.
Schon in ihren Lehrjahren sollten die jüdischen Mädchen zur Selbstachtung erzogen werden, denn dieses Bewußtsein der eigenen Würde ist ein Grundstein für die Hebung der Sittlichkeit und der sozialen Lage der jüdischen Mädchen. Ein gleicher Einfluß läßt sich auch von den Dienstboten- oder Haushaltungsschulen voraussagen.
Hier kommen jedoch noch andere Gesichtspunkte in Betracht. Der Lehrzeit im Handwerk entspricht im Hausdienste in Galizien in der Regel der Dienst als Kindermädchen, was jedoch eigenartig verstanden werden muß. Die Frauen der kleinen jüdischen Geschäftsleute, die gewöhnlich tagsüber außerhalb des Hauses bleiben und kleine Kinder zu Hause zurücklassen, mieten sich zur Beaufsichtigung ihrer Kinder junge Mädchen von 12 bis 14 Jahren, die zugleich als Laufmädchen verwendet werden.
Ein solches Mädchen erhält dafür einen Lohn von 1½ bis 2 Gulden monatlich, meistens ohne freie Station.
Sie lernt den Dienst als sklavischen Gehorsam kennen, der nur durch freche Unart durchbrochen werden kann. Wenn sie dann älter wird und in eine Stelle tritt für 3 bis 5 Gulden und mit freier Station, d. i. ein klägliches Bett in der Ecke der Küche und Überreste von der Mahlzeit der Herrschaften, so bestehen ihre Pflichten auch durchaus nicht in einer geregelten Arbeit, sondern in der Verrichtung der verschiedensten Dienste, die ihr von ihrer Herrin launisch und oft zwecklos vorgeschrieben werden.
Regelmäßig und planmäßig geführte Haushaltungen gibt es in Galizien fast gar nicht. Dies liegt zum großen Teil in der allgemeinen Unregelmäßigkeit des Lebens, weshalb man im Hauswesen
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