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Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.

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eine Anzahl zu wählen, die sich dem Berufe der Kindergärtnerin, des Kindermädchens, der Haushaltungslehrerin oder der Krankenschwester widmen wollten und könnten. Bei den heutigen Zuständen aber lassen sich alle Absolventinnen des Brodyer Waisenhauses zu Schneiderinnen oder Putzmacherinenn heranbilden und stehen vor einer recht traurigen Zukunft. Das Protektorat des Brodyer Waisenhauses, das aus sehr verständigen Personen besteht, sieht die Vorteile, die die Anstellung einer tüchtigen Leiterin mit sich führt, sehr gut ein, ist aber nicht im stande, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Es wäre daher wünschenswert, wenn irgend eine philanthropische Gesellschaft Deutschlands dem Brodyer Waisenhause ihre Hilfe angedeihen ließe und die Anstellung einer mit der Waisenpflege vertrauten Erzieherin durch Gewährung der Mittel ermöglichte.

Der unterstützenden Gesellschaft müßte das Recht der Auswahl der Leiterin und die Kontrolle der Anstatt vorbehalten bleiben, ohne jedoch in irgendwelcher Weise die Selbständigkeit der jetzigen Direktion zu beeinträchtigen.

Nirgends in Galizien schienen uns die einheimischen Philanthropen so empfänglich für fortschrittliche Neuerungen zu sein, wie in Brody, und nirgends würde sich eine philanthropische Zusammenarbeit der deutschen mit den galizischen Juden besser gestalten als dort. Gelänge es, eine gründliche Reform des Brodyer Waisenhauses durchzuführen, so würde es auch für alle anderen galizischen Städte vorbildlich werden, da Brody zu den regsamsten und aufgeklärtesten Städten Galiziens gehört. Wenn das Brodyer Waisenhaus einige seiner Absolventinnen der Haushaltung und der Kinder- und Krankenpflege zuführt, so wird der Gedanke an solche Berufe auch in anderen Städten Galiziens populär werden.

Wie wichtig es ist, die jüdischen Mädchen gerade für diese Berufe zu interessieren, sieht man erst bei der Besichtigung der jüdischen Krankenhäuser Galiziens. - Dort werden die Kranken von einem ganz ungebildeten Personal, ja oft von den eigenen Angehörigen betreut. Nicht einmal die elementarsten Forderungen der Hygiene werden in solchen Anstalten erfüllt. Übrigens wissen die galizischen Juden gar nicht, daß es auch anders sein kann, und wenn ein jüdisches Mädchen auch den Wunsch hätte, sich zur Krankenpflegerin auszubilden, würde sie gar nicht wissen, wo und wie man eine solche Ausbildung erhalten kann. Tatsächlich weiß man in Galizien

eine Anzahl zu wählen, die sich dem Berufe der Kindergärtnerin, des Kindermädchens, der Haushaltungslehrerin oder der Krankenschwester widmen wollten und könnten. Bei den heutigen Zuständen aber lassen sich alle Absolventinnen des Brodyer Waisenhauses zu Schneiderinnen oder Putzmacherinenn heranbilden und stehen vor einer recht traurigen Zukunft. Das Protektorat des Brodyer Waisenhauses, das aus sehr verständigen Personen besteht, sieht die Vorteile, die die Anstellung einer tüchtigen Leiterin mit sich führt, sehr gut ein, ist aber nicht im stande, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Es wäre daher wünschenswert, wenn irgend eine philanthropische Gesellschaft Deutschlands dem Brodyer Waisenhause ihre Hilfe angedeihen ließe und die Anstellung einer mit der Waisenpflege vertrauten Erzieherin durch Gewährung der Mittel ermöglichte.

Der unterstützenden Gesellschaft müßte das Recht der Auswahl der Leiterin und die Kontrolle der Anstatt vorbehalten bleiben, ohne jedoch in irgendwelcher Weise die Selbständigkeit der jetzigen Direktion zu beeinträchtigen.

Nirgends in Galizien schienen uns die einheimischen Philanthropen so empfänglich für fortschrittliche Neuerungen zu sein, wie in Brody, und nirgends würde sich eine philanthropische Zusammenarbeit der deutschen mit den galizischen Juden besser gestalten als dort. Gelänge es, eine gründliche Reform des Brodyer Waisenhauses durchzuführen, so würde es auch für alle anderen galizischen Städte vorbildlich werden, da Brody zu den regsamsten und aufgeklärtesten Städten Galiziens gehört. Wenn das Brodyer Waisenhaus einige seiner Absolventinnen der Haushaltung und der Kinder- und Krankenpflege zuführt, so wird der Gedanke an solche Berufe auch in anderen Städten Galiziens populär werden.

Wie wichtig es ist, die jüdischen Mädchen gerade für diese Berufe zu interessieren, sieht man erst bei der Besichtigung der jüdischen Krankenhäuser Galiziens. – Dort werden die Kranken von einem ganz ungebildeten Personal, ja oft von den eigenen Angehörigen betreut. Nicht einmal die elementarsten Forderungen der Hygiene werden in solchen Anstalten erfüllt. Übrigens wissen die galizischen Juden gar nicht, daß es auch anders sein kann, und wenn ein jüdisches Mädchen auch den Wunsch hätte, sich zur Krankenpflegerin auszubilden, würde sie gar nicht wissen, wo und wie man eine solche Ausbildung erhalten kann. Tatsächlich weiß man in Galizien

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        <p>Der unterstützenden Gesellschaft müßte das Recht der Auswahl der Leiterin und die Kontrolle der Anstatt vorbehalten bleiben, ohne jedoch in irgendwelcher Weise die Selbständigkeit der jetzigen Direktion zu beeinträchtigen.</p>
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[83/0083] eine Anzahl zu wählen, die sich dem Berufe der Kindergärtnerin, des Kindermädchens, der Haushaltungslehrerin oder der Krankenschwester widmen wollten und könnten. Bei den heutigen Zuständen aber lassen sich alle Absolventinnen des Brodyer Waisenhauses zu Schneiderinnen oder Putzmacherinenn heranbilden und stehen vor einer recht traurigen Zukunft. Das Protektorat des Brodyer Waisenhauses, das aus sehr verständigen Personen besteht, sieht die Vorteile, die die Anstellung einer tüchtigen Leiterin mit sich führt, sehr gut ein, ist aber nicht im stande, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Es wäre daher wünschenswert, wenn irgend eine philanthropische Gesellschaft Deutschlands dem Brodyer Waisenhause ihre Hilfe angedeihen ließe und die Anstellung einer mit der Waisenpflege vertrauten Erzieherin durch Gewährung der Mittel ermöglichte. Der unterstützenden Gesellschaft müßte das Recht der Auswahl der Leiterin und die Kontrolle der Anstatt vorbehalten bleiben, ohne jedoch in irgendwelcher Weise die Selbständigkeit der jetzigen Direktion zu beeinträchtigen. Nirgends in Galizien schienen uns die einheimischen Philanthropen so empfänglich für fortschrittliche Neuerungen zu sein, wie in Brody, und nirgends würde sich eine philanthropische Zusammenarbeit der deutschen mit den galizischen Juden besser gestalten als dort. Gelänge es, eine gründliche Reform des Brodyer Waisenhauses durchzuführen, so würde es auch für alle anderen galizischen Städte vorbildlich werden, da Brody zu den regsamsten und aufgeklärtesten Städten Galiziens gehört. Wenn das Brodyer Waisenhaus einige seiner Absolventinnen der Haushaltung und der Kinder- und Krankenpflege zuführt, so wird der Gedanke an solche Berufe auch in anderen Städten Galiziens populär werden. Wie wichtig es ist, die jüdischen Mädchen gerade für diese Berufe zu interessieren, sieht man erst bei der Besichtigung der jüdischen Krankenhäuser Galiziens. – Dort werden die Kranken von einem ganz ungebildeten Personal, ja oft von den eigenen Angehörigen betreut. Nicht einmal die elementarsten Forderungen der Hygiene werden in solchen Anstalten erfüllt. Übrigens wissen die galizischen Juden gar nicht, daß es auch anders sein kann, und wenn ein jüdisches Mädchen auch den Wunsch hätte, sich zur Krankenpflegerin auszubilden, würde sie gar nicht wissen, wo und wie man eine solche Ausbildung erhalten kann. Tatsächlich weiß man in Galizien

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Zitationshilfe: Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/83>, abgerufen am 12.05.2024.