Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.sehr wenig Krüppel sieht, wie man z. B. in Italien bei der gleichen Armut so vielen begegnet. Unter den Männern viele schöne Erscheinungen, wenn auch die Mehrzahl hohlwangig, blaß und schmächtig, von gedrückter und gebückter Haltung. Die Mädchen hübsch und frisch, die Frauen früh gealtert und welk, machen oft den Eindruck stumpfer Haustiere. Da die Orte, die wir besuchten, bis zu 3/4 jüdischer Bevölkerung aufwiesen, so war ihr Charakter am Freitag Abend und Samstag ein von den anderen Tagen vollständig verschiedener. Keine noch so armselige Hütte, aus der nicht Freitag Abend eine Anzahl Lichtchen blinken, und durch die Straßen schreiten gravitätisch die Männer in der historischen polnischen Tracht, an der sie festhalten, trotzdem sie keine andere Bedeutung mehr hat, als das gelbe Abzeichen des Mittelalters und bei jeder Arbeit störend ist. Es liegt etwas ungemein Poetisches, Stimmungsvolles in der Sabbatruhe, die sich mit dem aufdämmernden Abend über die jüdischen Häuser legt, - aber wenn das kritische Denken die Stimmung verscheucht hat, sagt man sich: die Sabbatfeier in dieser altehrwürdigen Form ist nur dort möglich, wo bei größter Dichte der jüdischen Bevölkerung der Kontakt mit der fortschreitenden Welt aufgehört hat, und der Fluch der Arbeitslosigkeit die Sabbatruhe so leicht macht. Oder sollte Ursache und Wirkung eine andere Reihenfolge haben, sollte nicht vielleicht die rücksichtslose Auffassung der Sabbatruhe den Fluch der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen haben, weil sie den Kontakt mit der fortschreitenden Welt durchbricht? Traurig ist der Einblick, den der Samstag-Nachmittag-"Korso" in das gegen einst sehr veränderte jüdische Familienleben bietet. Scharen junger Mädchen ziehen, übertrieben modisch geputzt, mit Offizieren und Gymnasiasten kokettierend, durch die Hauptstraßen und die öffentlichen Gärten der Städtchen. Wenn man dann erfahren hat, daß ihr Wochenverdienst als Schneiderin, Fabrikarbeiterin, Federsortiererin u. s. w. zwischen 80 Kreuzer bis zwei Gulden schwankt, dann hat man allen Grund, ängstlich zu werden um die Zukunft des jüdischen Volkes! Als eine Art von Reiseplan diente uns ein Verzeichnis von Städten und Dörfern, in denen sich eine Baron Hirsch-Schule befindet. Ein vom Wiener Kuratorium im liebenswürdigster Form sehr wenig Krüppel sieht, wie man z. B. in Italien bei der gleichen Armut so vielen begegnet. Unter den Männern viele schöne Erscheinungen, wenn auch die Mehrzahl hohlwangig, blaß und schmächtig, von gedrückter und gebückter Haltung. Die Mädchen hübsch und frisch, die Frauen früh gealtert und welk, machen oft den Eindruck stumpfer Haustiere. Da die Orte, die wir besuchten, bis zu ¾ jüdischer Bevölkerung aufwiesen, so war ihr Charakter am Freitag Abend und Samstag ein von den anderen Tagen vollständig verschiedener. Keine noch so armselige Hütte, aus der nicht Freitag Abend eine Anzahl Lichtchen blinken, und durch die Straßen schreiten gravitätisch die Männer in der historischen polnischen Tracht, an der sie festhalten, trotzdem sie keine andere Bedeutung mehr hat, als das gelbe Abzeichen des Mittelalters und bei jeder Arbeit störend ist. Es liegt etwas ungemein Poetisches, Stimmungsvolles in der Sabbatruhe, die sich mit dem aufdämmernden Abend über die jüdischen Häuser legt, – aber wenn das kritische Denken die Stimmung verscheucht hat, sagt man sich: die Sabbatfeier in dieser altehrwürdigen Form ist nur dort möglich, wo bei größter Dichte der jüdischen Bevölkerung der Kontakt mit der fortschreitenden Welt aufgehört hat, und der Fluch der Arbeitslosigkeit die Sabbatruhe so leicht macht. Oder sollte Ursache und Wirkung eine andere Reihenfolge haben, sollte nicht vielleicht die rücksichtslose Auffassung der Sabbatruhe den Fluch der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen haben, weil sie den Kontakt mit der fortschreitenden Welt durchbricht? Traurig ist der Einblick, den der Samstag-Nachmittag-„Korso“ in das gegen einst sehr veränderte jüdische Familienleben bietet. Scharen junger Mädchen ziehen, übertrieben modisch geputzt, mit Offizieren und Gymnasiasten kokettierend, durch die Hauptstraßen und die öffentlichen Gärten der Städtchen. Wenn man dann erfahren hat, daß ihr Wochenverdienst als Schneiderin, Fabrikarbeiterin, Federsortiererin u. s. w. zwischen 80 Kreuzer bis zwei Gulden schwankt, dann hat man allen Grund, ängstlich zu werden um die Zukunft des jüdischen Volkes! Als eine Art von Reiseplan diente uns ein Verzeichnis von Städten und Dörfern, in denen sich eine Baron Hirsch-Schule befindet. Ein vom Wiener Kuratorium im liebenswürdigster Form <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0009" n="9"/> sehr wenig Krüppel sieht, wie man z. B. in Italien bei der gleichen Armut so vielen begegnet. Unter den Männern viele schöne Erscheinungen, wenn auch die Mehrzahl hohlwangig, blaß und schmächtig, von gedrückter und gebückter Haltung. Die Mädchen hübsch und frisch, die Frauen früh gealtert und welk, machen oft den Eindruck stumpfer Haustiere. Da die Orte, die wir besuchten, bis zu ¾ jüdischer Bevölkerung aufwiesen, so war ihr Charakter am Freitag Abend und Samstag ein von den anderen Tagen vollständig verschiedener. Keine noch so armselige Hütte, aus der nicht Freitag Abend eine Anzahl Lichtchen blinken, und durch die Straßen schreiten gravitätisch die Männer in der historischen polnischen Tracht, an der sie festhalten, trotzdem sie keine andere Bedeutung mehr hat, als das gelbe Abzeichen des Mittelalters und bei jeder Arbeit störend ist.</p> <p>Es liegt etwas ungemein Poetisches, Stimmungsvolles in der Sabbatruhe, die sich mit dem aufdämmernden Abend über die jüdischen Häuser legt, – aber wenn das kritische Denken die Stimmung verscheucht hat, sagt man sich: die Sabbatfeier in dieser altehrwürdigen Form ist nur dort möglich, wo bei größter Dichte der jüdischen Bevölkerung der Kontakt mit der fortschreitenden Welt aufgehört hat, und der Fluch der Arbeitslosigkeit die Sabbatruhe so leicht macht. Oder sollte Ursache und Wirkung eine andere Reihenfolge haben, sollte nicht vielleicht die rücksichtslose Auffassung der Sabbatruhe den Fluch der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen haben, <hi rendition="#g">weil</hi> sie den Kontakt mit der fortschreitenden Welt durchbricht?</p> <p>Traurig ist der Einblick, den der Samstag-Nachmittag-„Korso“ in das gegen einst sehr veränderte jüdische Familienleben bietet.</p> <p>Scharen junger Mädchen ziehen, übertrieben modisch geputzt, mit Offizieren und Gymnasiasten kokettierend, durch die Hauptstraßen und die öffentlichen Gärten der Städtchen. Wenn man dann erfahren hat, daß ihr Wochenverdienst als Schneiderin, Fabrikarbeiterin, Federsortiererin u. s. w. zwischen 80 Kreuzer bis zwei Gulden schwankt, dann hat man allen Grund, ängstlich zu werden um die Zukunft des jüdischen Volkes!</p> <p>Als eine Art von Reiseplan diente uns ein Verzeichnis von Städten und Dörfern, in denen sich eine Baron Hirsch-Schule befindet. Ein vom Wiener Kuratorium im liebenswürdigster Form </p> </div> </body> </text> </TEI> [9/0009]
sehr wenig Krüppel sieht, wie man z. B. in Italien bei der gleichen Armut so vielen begegnet. Unter den Männern viele schöne Erscheinungen, wenn auch die Mehrzahl hohlwangig, blaß und schmächtig, von gedrückter und gebückter Haltung. Die Mädchen hübsch und frisch, die Frauen früh gealtert und welk, machen oft den Eindruck stumpfer Haustiere. Da die Orte, die wir besuchten, bis zu ¾ jüdischer Bevölkerung aufwiesen, so war ihr Charakter am Freitag Abend und Samstag ein von den anderen Tagen vollständig verschiedener. Keine noch so armselige Hütte, aus der nicht Freitag Abend eine Anzahl Lichtchen blinken, und durch die Straßen schreiten gravitätisch die Männer in der historischen polnischen Tracht, an der sie festhalten, trotzdem sie keine andere Bedeutung mehr hat, als das gelbe Abzeichen des Mittelalters und bei jeder Arbeit störend ist.
Es liegt etwas ungemein Poetisches, Stimmungsvolles in der Sabbatruhe, die sich mit dem aufdämmernden Abend über die jüdischen Häuser legt, – aber wenn das kritische Denken die Stimmung verscheucht hat, sagt man sich: die Sabbatfeier in dieser altehrwürdigen Form ist nur dort möglich, wo bei größter Dichte der jüdischen Bevölkerung der Kontakt mit der fortschreitenden Welt aufgehört hat, und der Fluch der Arbeitslosigkeit die Sabbatruhe so leicht macht. Oder sollte Ursache und Wirkung eine andere Reihenfolge haben, sollte nicht vielleicht die rücksichtslose Auffassung der Sabbatruhe den Fluch der Arbeitslosigkeit heraufbeschworen haben, weil sie den Kontakt mit der fortschreitenden Welt durchbricht?
Traurig ist der Einblick, den der Samstag-Nachmittag-„Korso“ in das gegen einst sehr veränderte jüdische Familienleben bietet.
Scharen junger Mädchen ziehen, übertrieben modisch geputzt, mit Offizieren und Gymnasiasten kokettierend, durch die Hauptstraßen und die öffentlichen Gärten der Städtchen. Wenn man dann erfahren hat, daß ihr Wochenverdienst als Schneiderin, Fabrikarbeiterin, Federsortiererin u. s. w. zwischen 80 Kreuzer bis zwei Gulden schwankt, dann hat man allen Grund, ängstlich zu werden um die Zukunft des jüdischen Volkes!
Als eine Art von Reiseplan diente uns ein Verzeichnis von Städten und Dörfern, in denen sich eine Baron Hirsch-Schule befindet. Ein vom Wiener Kuratorium im liebenswürdigster Form
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