Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871].erwarten, da gar kein Bewußtsein vorhanden war. Den ganzen Montag und die folgende Nacht dauerte das Röcheln fort; am Dienstag, den 8. Januar in der Frühe schlummerte er ohne allen Kampf hinüber. Als die Kunde davon in unsre Kinderstube gelangte, benutzten wir die im Hause entstandene Verwirrung, um die Treppen hinauf zu schleichen, und bis in das offne Sterbezimmer vorzudringen. Da sahen wir die gewaltig große Gestalt des Grosvaters im grünen Schlafrocke auf einem langen, mitten in die Stube gerückten Bette. Das altbekannte strenge Gesicht, von Todesblässe übergossen, lag in unbeweglicher Ruhe. Auf einem Tischchen neben dem Bette bemerkten wir die bei den Belebungsversuchen angewendeten chirurgischen Instrumente. Aber nur ein paar Augenblicke waren uns zum An- und Umschauen vergönnt, denn die geschäftigen Dienstleute trieben uns gleich wieder hinunter. Die Trauer um Nicolais Verlust war in der Stadt allgemein. In dem näheren Freundes- und Gelehrtenkreise, der ihn die letzten Jahre umgab, genoß er der grösten Hochachtung, selbst die jüngeren Litteraten, denen er mit seltner Liberalität die Schätze seiner Bibliothek mittheilte, sahen zu ihm, als zu Lessings Jugendfreunde, mit Verehrung empor, wenn sie auch sonst seine Ansichten gar nicht theilten. Uns Kindern war bisher nichts von seiner Bedeutung in der Litteratur zu Ohren gekommen; wir kannten ihn nur als den, zwar nicht unfreundlichen, doch keineswegs anziehenden Grosvater; ich war daher sehr erstaunt, als der Professor Hartung in der Schule uns belehrte, daß der eben verstorbene Herr Nicolai einer der grösten Berliner Gelehrten gewesen sei; ja ich war inner- erwarten, da gar kein Bewußtsein vorhanden war. Den ganzen Montag und die folgende Nacht dauerte das Röcheln fort; am Dienstag, den 8. Januar in der Frühe schlummerte er ohne allen Kampf hinüber. Als die Kunde davon in unsre Kinderstube gelangte, benutzten wir die im Hause entstandene Verwirrung, um die Treppen hinauf zu schleichen, und bis in das offne Sterbezimmer vorzudringen. Da sahen wir die gewaltig große Gestalt des Grosvaters im grünen Schlafrocke auf einem langen, mitten in die Stube gerückten Bette. Das altbekannte strenge Gesicht, von Todesblässe übergossen, lag in unbeweglicher Ruhe. Auf einem Tischchen neben dem Bette bemerkten wir die bei den Belebungsversuchen angewendeten chirurgischen Instrumente. Aber nur ein paar Augenblicke waren uns zum An- und Umschauen vergönnt, denn die geschäftigen Dienstleute trieben uns gleich wieder hinunter. Die Trauer um Nicolais Verlust war in der Stadt allgemein. In dem näheren Freundes- und Gelehrtenkreise, der ihn die letzten Jahre umgab, genoß er der grösten Hochachtung, selbst die jüngeren Litteraten, denen er mit seltner Liberalität die Schätze seiner Bibliothek mittheilte, sahen zu ihm, als zu Lessings Jugendfreunde, mit Verehrung empor, wenn sie auch sonst seine Ansichten gar nicht theilten. Uns Kindern war bisher nichts von seiner Bedeutung in der Litteratur zu Ohren gekommen; wir kannten ihn nur als den, zwar nicht unfreundlichen, doch keineswegs anziehenden Grosvater; ich war daher sehr erstaunt, als der Professor Hartung in der Schule uns belehrte, daß der eben verstorbene Herr Nicolai einer der grösten Berliner Gelehrten gewesen sei; ja ich war inner- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="1"> <p><pb facs="#f0162" n="150"/> erwarten, da gar kein Bewußtsein vorhanden war. Den ganzen Montag und die folgende Nacht dauerte das Röcheln fort; am Dienstag, den 8. 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In dem näheren Freundes- und Gelehrtenkreise, der ihn die letzten Jahre umgab, genoß er der grösten Hochachtung, selbst die jüngeren Litteraten, denen er mit seltner Liberalität die Schätze seiner Bibliothek mittheilte, sahen zu ihm, als zu Lessings Jugendfreunde, mit Verehrung empor, wenn sie auch sonst seine Ansichten gar nicht theilten. Uns Kindern war bisher nichts von seiner Bedeutung in der Litteratur zu Ohren gekommen; wir kannten ihn nur als den, zwar nicht unfreundlichen, doch keineswegs anziehenden Grosvater; ich war daher sehr erstaunt, als der Professor Hartung in der Schule uns belehrte, daß der eben verstorbene Herr Nicolai einer der grösten Berliner Gelehrten gewesen sei; ja ich war inner- </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [150/0162]
erwarten, da gar kein Bewußtsein vorhanden war. Den ganzen Montag und die folgende Nacht dauerte das Röcheln fort; am Dienstag, den 8. Januar in der Frühe schlummerte er ohne allen Kampf hinüber.
Als die Kunde davon in unsre Kinderstube gelangte, benutzten wir die im Hause entstandene Verwirrung, um die Treppen hinauf zu schleichen, und bis in das offne Sterbezimmer vorzudringen. Da sahen wir die gewaltig große Gestalt des Grosvaters im grünen Schlafrocke auf einem langen, mitten in die Stube gerückten Bette. Das altbekannte strenge Gesicht, von Todesblässe übergossen, lag in unbeweglicher Ruhe. Auf einem Tischchen neben dem Bette bemerkten wir die bei den Belebungsversuchen angewendeten chirurgischen Instrumente. Aber nur ein paar Augenblicke waren uns zum An- und Umschauen vergönnt, denn die geschäftigen Dienstleute trieben uns gleich wieder hinunter.
Die Trauer um Nicolais Verlust war in der Stadt allgemein. In dem näheren Freundes- und Gelehrtenkreise, der ihn die letzten Jahre umgab, genoß er der grösten Hochachtung, selbst die jüngeren Litteraten, denen er mit seltner Liberalität die Schätze seiner Bibliothek mittheilte, sahen zu ihm, als zu Lessings Jugendfreunde, mit Verehrung empor, wenn sie auch sonst seine Ansichten gar nicht theilten. Uns Kindern war bisher nichts von seiner Bedeutung in der Litteratur zu Ohren gekommen; wir kannten ihn nur als den, zwar nicht unfreundlichen, doch keineswegs anziehenden Grosvater; ich war daher sehr erstaunt, als der Professor Hartung in der Schule uns belehrte, daß der eben verstorbene Herr Nicolai einer der grösten Berliner Gelehrten gewesen sei; ja ich war inner-
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