Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871].band mit Chodowieckischen Kupfern aus dem Regal am Fenster hervorlangen und durchsehen durften. Von diesem unvergleichlichen Meister besaß Nicolai eine ansehnliche Menge von Blättern in den besten Abdrücken, die noch jetzt den Kern meines beinahe vollständigen Exemplares ausmachen. Von vorzüglicher Schönheit sind die Kupfer zum Sebaldus Nothanker, John Bunkel und andern Nicolaischen Werken. Die vielen Hunderte von kleinen Kalenderkupfern umfassen nicht bloß alle Theile der Welt- und Kulturgeschichte, sondern auch die Dramatiker von Shakspeare bis auf Schiller, und fast die ganze gleichzeitige Romanlitteratur. Bald kannten wir jedes Blättchen so genau, daß die zugehaltene Unterschrift ohne Anstoß hergesagt ward. Diese angenehme kindliche Beschäftigung legte den Grund zu meiner Litteraturkenntniß: denn als ich späterhin mich weiter in jenen Fächern umsah, brauchte ich nur das neugewonnene in den bekannten Chodowieckischen Rahmen einzufügen. Viele Bücher habe ich bloß seiner Kupferstiche wegen gelesen, bin aber oft enttäuscht worden: denn es fehlt viel, daß man den lebendigen Geist, den Chodowiecki seinen künstlerischen Productionen einzuhauchen wußte, auch in den Schriften selbst antreffe. Beim Abendessen saßen wir um einen geräumigen viereckigen Tisch, der Grosvater obenan, wegen seiner leidenden Augen hinter einem grünen Lichtschirm, meine Aeltern und ein gelegentlicher Gast an den Seiten, die Kinder am unteren Ende. Bei der fortdauernden Kränklichkeit seiner jüngsten Tochter hatte Nicolai die Schwester seiner Schwiegertochter, Henriette Eichmann zu sich genommen, um ihm die Wirthschaft zu führen. Wir nannten sie Tante Jettchen, und liebten sie wegen ihrer Freundlichkeit. band mit Chodowieckischen Kupfern aus dem Regal am Fenster hervorlangen und durchsehen durften. Von diesem unvergleichlichen Meister besaß Nicolai eine ansehnliche Menge von Blättern in den besten Abdrücken, die noch jetzt den Kern meines beinahe vollständigen Exemplares ausmachen. Von vorzüglicher Schönheit sind die Kupfer zum Sebaldus Nothanker, John Bunkel und andern Nicolaischen Werken. Die vielen Hunderte von kleinen Kalenderkupfern umfassen nicht bloß alle Theile der Welt- und Kulturgeschichte, sondern auch die Dramatiker von Shakspeare bis auf Schiller, und fast die ganze gleichzeitige Romanlitteratur. Bald kannten wir jedes Blättchen so genau, daß die zugehaltene Unterschrift ohne Anstoß hergesagt ward. Diese angenehme kindliche Beschäftigung legte den Grund zu meiner Litteraturkenntniß: denn als ich späterhin mich weiter in jenen Fächern umsah, brauchte ich nur das neugewonnene in den bekannten Chodowieckischen Rahmen einzufügen. Viele Bücher habe ich bloß seiner Kupferstiche wegen gelesen, bin aber oft enttäuscht worden: denn es fehlt viel, daß man den lebendigen Geist, den Chodowiecki seinen künstlerischen Productionen einzuhauchen wußte, auch in den Schriften selbst antreffe. Beim Abendessen saßen wir um einen geräumigen viereckigen Tisch, der Grosvater obenan, wegen seiner leidenden Augen hinter einem grünen Lichtschirm, meine Aeltern und ein gelegentlicher Gast an den Seiten, die Kinder am unteren Ende. Bei der fortdauernden Kränklichkeit seiner jüngsten Tochter hatte Nicolai die Schwester seiner Schwiegertochter, Henriette Eichmann zu sich genommen, um ihm die Wirthschaft zu führen. 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Diese angenehme kindliche Beschäftigung legte den Grund zu meiner Litteraturkenntniß: denn als ich späterhin mich weiter in jenen Fächern umsah, brauchte ich nur das neugewonnene in den bekannten Chodowieckischen Rahmen einzufügen. Viele Bücher habe ich bloß seiner Kupferstiche wegen gelesen, bin aber oft enttäuscht worden: denn es fehlt viel, daß man den lebendigen Geist, den Chodowiecki seinen künstlerischen Productionen einzuhauchen wußte, auch in den Schriften selbst antreffe. </p><lb/> <p>Beim Abendessen saßen wir um einen geräumigen viereckigen Tisch, der Grosvater obenan, wegen seiner leidenden Augen hinter einem grünen Lichtschirm, meine Aeltern und ein gelegentlicher Gast an den Seiten, die Kinder am unteren Ende. Bei der fortdauernden Kränklichkeit seiner jüngsten Tochter hatte Nicolai die Schwester seiner Schwiegertochter, Henriette Eichmann zu sich genommen, um ihm die Wirthschaft zu führen. Wir nannten sie Tante Jettchen, und liebten sie wegen ihrer Freundlichkeit. </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [45/0057]
band mit Chodowieckischen Kupfern aus dem Regal am Fenster hervorlangen und durchsehen durften. Von diesem unvergleichlichen Meister besaß Nicolai eine ansehnliche Menge von Blättern in den besten Abdrücken, die noch jetzt den Kern meines beinahe vollständigen Exemplares ausmachen. Von vorzüglicher Schönheit sind die Kupfer zum Sebaldus Nothanker, John Bunkel und andern Nicolaischen Werken. Die vielen Hunderte von kleinen Kalenderkupfern umfassen nicht bloß alle Theile der Welt- und Kulturgeschichte, sondern auch die Dramatiker von Shakspeare bis auf Schiller, und fast die ganze gleichzeitige Romanlitteratur. Bald kannten wir jedes Blättchen so genau, daß die zugehaltene Unterschrift ohne Anstoß hergesagt ward. Diese angenehme kindliche Beschäftigung legte den Grund zu meiner Litteraturkenntniß: denn als ich späterhin mich weiter in jenen Fächern umsah, brauchte ich nur das neugewonnene in den bekannten Chodowieckischen Rahmen einzufügen. Viele Bücher habe ich bloß seiner Kupferstiche wegen gelesen, bin aber oft enttäuscht worden: denn es fehlt viel, daß man den lebendigen Geist, den Chodowiecki seinen künstlerischen Productionen einzuhauchen wußte, auch in den Schriften selbst antreffe.
Beim Abendessen saßen wir um einen geräumigen viereckigen Tisch, der Grosvater obenan, wegen seiner leidenden Augen hinter einem grünen Lichtschirm, meine Aeltern und ein gelegentlicher Gast an den Seiten, die Kinder am unteren Ende. Bei der fortdauernden Kränklichkeit seiner jüngsten Tochter hatte Nicolai die Schwester seiner Schwiegertochter, Henriette Eichmann zu sich genommen, um ihm die Wirthschaft zu führen. Wir nannten sie Tante Jettchen, und liebten sie wegen ihrer Freundlichkeit.
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Zitationshilfe: | Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871], S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen01_1871/57>, abgerufen am 16.02.2025. |