Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 1. Berlin, [1871].Trefflichkeit seines Unterrichtes meine Seele geweckt. Von schlanker, fast magrer Gestalt, mit blassem, pockennarbigem Gesichte, immer schwarz und sauber gekleidet, gab er selbst ein Beispiel von Ordnung und Anstand. Seine Stimme hatte einen silbernen Klang; ihn vorlesen zuhören war uns eine Lust. Die strengste Disciplin wußte er mit einer wahrhaft liebevollen Gesinnung durchzuführen. Er litt während der Stunde keinerlei Unordnung oder Unaufmerksamkeit, und doch erinnre ich mich kaum, ihn jemals heftig oder scheltend gesehn zu haben. Die gute Aufführung machte sich bei ihm von selbst; durch einen Wink oder einen Blick wußte er uns zu leiten. Die Klasse gehorchte ihm mit Freude, wie es eben bei einem guten Regimente der Fall sein soll. Seine Lehrmethode war musterhaft; immer dem kindlichen Standpunkte angemessen, und doch zu weiterem Forschen anspornend. Die trocknen Anfangsgründe der Geometrie belebte er durch einfache Anwendungen auf das praktische Bedürfniß. Die Berechnung des Flächeninhaltes der Figuren wurde immer an einem Acker, einer Wiese oder dergleichen geübt. Bei den Sätzen von den Parallellinien blieb unser Verstand vor dem Begriffe der unendlichen Verlängerung stehn, und man hörte wohl die naive Frage: wie weit denn die beiden unendlichen Linien verlängert werden könnten? Er wußte durch eine geschickte Vergleichung der unendlichen Zeit mit dem unendlichen Raume die kindlichen Gemüther wenn nicht zu befriedigen, doch zu beschwichtigen, indem er zugleich durch den Hinweis auf eine viel höhere Einsicht den Blick in die weiteren Fernen der Wissenschaft öffnete. Noch sehe ich die Oktavblättchen mit seiner zierlichen, klaren Schrift vor mir, die er als Trefflichkeit seines Unterrichtes meine Seele geweckt. Von schlanker, fast magrer Gestalt, mit blassem, pockennarbigem Gesichte, immer schwarz und sauber gekleidet, gab er selbst ein Beispiel von Ordnung und Anstand. Seine Stimme hatte einen silbernen Klang; ihn vorlesen zuhören war uns eine Lust. Die strengste Disciplin wußte er mit einer wahrhaft liebevollen Gesinnung durchzuführen. Er litt während der Stunde keinerlei Unordnung oder Unaufmerksamkeit, und doch erinnre ich mich kaum, ihn jemals heftig oder scheltend gesehn zu haben. Die gute Aufführung machte sich bei ihm von selbst; durch einen Wink oder einen Blick wußte er uns zu leiten. Die Klasse gehorchte ihm mit Freude, wie es eben bei einem guten Regimente der Fall sein soll. Seine Lehrmethode war musterhaft; immer dem kindlichen Standpunkte angemessen, und doch zu weiterem Forschen anspornend. Die trocknen Anfangsgründe der Geometrie belebte er durch einfache Anwendungen auf das praktische Bedürfniß. Die Berechnung des Flächeninhaltes der Figuren wurde immer an einem Acker, einer Wiese oder dergleichen geübt. Bei den Sätzen von den Parallellinien blieb unser Verstand vor dem Begriffe der unendlichen Verlängerung stehn, und man hörte wohl die naive Frage: wie weit denn die beiden unendlichen Linien verlängert werden könnten? Er wußte durch eine geschickte Vergleichung der unendlichen Zeit mit dem unendlichen Raume die kindlichen Gemüther wenn nicht zu befriedigen, doch zu beschwichtigen, indem er zugleich durch den Hinweis auf eine viel höhere Einsicht den Blick in die weiteren Fernen der Wissenschaft öffnete. Noch sehe ich die Oktavblättchen mit seiner zierlichen, klaren Schrift vor mir, die er als <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="1"> <p><pb facs="#f0097" n="85"/> Trefflichkeit seines Unterrichtes meine Seele geweckt. Von schlanker, fast magrer Gestalt, mit blassem, pockennarbigem Gesichte, immer schwarz und sauber gekleidet, gab er selbst ein Beispiel von Ordnung und Anstand. Seine Stimme hatte einen silbernen Klang; ihn vorlesen zuhören war uns eine Lust. Die strengste Disciplin wußte er mit einer wahrhaft liebevollen Gesinnung durchzuführen. Er litt während der Stunde keinerlei Unordnung oder Unaufmerksamkeit, und doch erinnre ich mich kaum, ihn jemals heftig oder scheltend gesehn zu haben. Die gute Aufführung machte sich bei ihm von selbst; durch einen Wink oder einen Blick wußte er uns zu leiten. Die Klasse gehorchte ihm mit Freude, wie es eben bei einem guten Regimente der Fall sein soll. Seine Lehrmethode war musterhaft; immer dem kindlichen Standpunkte angemessen, und doch zu weiterem Forschen anspornend. Die trocknen Anfangsgründe der Geometrie belebte er durch einfache Anwendungen auf das praktische Bedürfniß. Die Berechnung des Flächeninhaltes der Figuren wurde immer an einem Acker, einer Wiese oder dergleichen geübt. Bei den Sätzen von den Parallellinien blieb unser Verstand vor dem Begriffe der unendlichen Verlängerung stehn, und man hörte wohl die naive Frage: wie weit denn die beiden unendlichen Linien verlängert werden könnten? Er wußte durch eine geschickte Vergleichung der unendlichen Zeit mit dem unendlichen Raume die kindlichen Gemüther wenn nicht zu befriedigen, doch zu beschwichtigen, indem er zugleich durch den Hinweis auf eine viel höhere Einsicht den Blick in die weiteren Fernen der Wissenschaft öffnete. Noch sehe ich die Oktavblättchen mit seiner zierlichen, klaren Schrift vor mir, die er als </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [85/0097]
Trefflichkeit seines Unterrichtes meine Seele geweckt. Von schlanker, fast magrer Gestalt, mit blassem, pockennarbigem Gesichte, immer schwarz und sauber gekleidet, gab er selbst ein Beispiel von Ordnung und Anstand. Seine Stimme hatte einen silbernen Klang; ihn vorlesen zuhören war uns eine Lust. Die strengste Disciplin wußte er mit einer wahrhaft liebevollen Gesinnung durchzuführen. Er litt während der Stunde keinerlei Unordnung oder Unaufmerksamkeit, und doch erinnre ich mich kaum, ihn jemals heftig oder scheltend gesehn zu haben. Die gute Aufführung machte sich bei ihm von selbst; durch einen Wink oder einen Blick wußte er uns zu leiten. Die Klasse gehorchte ihm mit Freude, wie es eben bei einem guten Regimente der Fall sein soll. Seine Lehrmethode war musterhaft; immer dem kindlichen Standpunkte angemessen, und doch zu weiterem Forschen anspornend. Die trocknen Anfangsgründe der Geometrie belebte er durch einfache Anwendungen auf das praktische Bedürfniß. Die Berechnung des Flächeninhaltes der Figuren wurde immer an einem Acker, einer Wiese oder dergleichen geübt. Bei den Sätzen von den Parallellinien blieb unser Verstand vor dem Begriffe der unendlichen Verlängerung stehn, und man hörte wohl die naive Frage: wie weit denn die beiden unendlichen Linien verlängert werden könnten? Er wußte durch eine geschickte Vergleichung der unendlichen Zeit mit dem unendlichen Raume die kindlichen Gemüther wenn nicht zu befriedigen, doch zu beschwichtigen, indem er zugleich durch den Hinweis auf eine viel höhere Einsicht den Blick in die weiteren Fernen der Wissenschaft öffnete. Noch sehe ich die Oktavblättchen mit seiner zierlichen, klaren Schrift vor mir, die er als
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