Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].könnten. Die Strenggläubigen unter uns, zu denen auch ich gehörte, hielten vielmehr an der Ueberzeugung fest, daß ein alter hochbegabter Homer die beiden Stücke des trojanischen Sagenkreises, den Zorn des Achilleus und die Rückkehr des Odysseus zum Gegenstande seiner Improvisationen gemacht, daß durch ihn und neben ihm ein großer Kreis von Sängern sich gebildet, der diese beiden Keime in den mannigfaltigsten Weisen gepflegt und erweitert, daß endlich unter Pisistratus eine Fixirung der theils mündlich, theils schriftlich verbreiteten Heldenlieder stattgefunden. Im Einzelnen waren Wolfs Bemerkungen von der grösten Feinheit und Eleganz, nicht selten von Spott und Satire gewürzt. Er sprach eine ganze Stunde lang in der anziehendsten Weise über polutropos, und konnte sich gar nicht darüber zufrieden geben, daß Voß übersetzt habe: der vielgewandte. Niederschlagend war allerdings Wolfs Behauptung, daß wir vielleicht nicht einen einzigen Vers so besitzen, wie ihn Homer oder ein Homeride zur Leyer gesungen, aber er milderte diesen Schmerz durch eine richtige Würdigung der Vortrefflichkeit der erhaltenen Gedichte. Noch jetzt durchblättre ich die bei ihm nachgeschriebenen Hefte mit Vergnügen; es finden sich Goldkörner von Witz und Gelehrsamkeit darin. Von unbeschreiblicher Anmuth, und schon bei seinen Zuhörern in Halle berühmt, war Wolfs Vortrag der homerischen Verse. Er verstand es, Accent und Qualität auf die ungezwungenste Weise durch Hebung und Senkung der Stimme zu vereinigen; eine ächte Declamation, zwischen Sprechen und Singen die richtige Mitte haltend. Eben so wie in Bezug auf den homerischen Text Wolf sich darauf beschränkte, ihn so herzustellen, wie ihn etwa Longinus könnten. Die Strenggläubigen unter uns, zu denen auch ich gehörte, hielten vielmehr an der Ueberzeugung fest, daß ein alter hochbegabter Homer die beiden Stücke des trojanischen Sagenkreises, den Zorn des Achilleus und die Rückkehr des Odysseus zum Gegenstande seiner Improvisationen gemacht, daß durch ihn und neben ihm ein großer Kreis von Sängern sich gebildet, der diese beiden Keime in den mannigfaltigsten Weisen gepflegt und erweitert, daß endlich unter Pisistratus eine Fixirung der theils mündlich, theils schriftlich verbreiteten Heldenlieder stattgefunden. Im Einzelnen waren Wolfs Bemerkungen von der grösten Feinheit und Eleganz, nicht selten von Spott und Satire gewürzt. Er sprach eine ganze Stunde lang in der anziehendsten Weise über πολύτροπος, und konnte sich gar nicht darüber zufrieden geben, daß Voß übersetzt habe: der vielgewandte. Niederschlagend war allerdings Wolfs Behauptung, daß wir vielleicht nicht einen einzigen Vers so besitzen, wie ihn Homer oder ein Homeride zur Leyer gesungen, aber er milderte diesen Schmerz durch eine richtige Würdigung der Vortrefflichkeit der erhaltenen Gedichte. Noch jetzt durchblättre ich die bei ihm nachgeschriebenen Hefte mit Vergnügen; es finden sich Goldkörner von Witz und Gelehrsamkeit darin. Von unbeschreiblicher Anmuth, und schon bei seinen Zuhörern in Halle berühmt, war Wolfs Vortrag der homerischen Verse. Er verstand es, Accent und Qualität auf die ungezwungenste Weise durch Hebung und Senkung der Stimme zu vereinigen; eine ächte Declamation, zwischen Sprechen und Singen die richtige Mitte haltend. Eben so wie in Bezug auf den homerischen Text Wolf sich darauf beschränkte, ihn so herzustellen, wie ihn etwa Longinus <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0225" n="217"/> könnten. Die Strenggläubigen unter uns, zu denen auch ich gehörte, hielten vielmehr an der Ueberzeugung fest, daß ein alter hochbegabter Homer die beiden Stücke des trojanischen Sagenkreises, den Zorn des Achilleus und die Rückkehr des Odysseus zum Gegenstande seiner Improvisationen gemacht, daß durch ihn und neben ihm ein großer Kreis von Sängern sich gebildet, der diese beiden Keime in den mannigfaltigsten Weisen gepflegt und erweitert, daß endlich unter Pisistratus eine Fixirung der theils mündlich, theils schriftlich verbreiteten Heldenlieder stattgefunden. </p><lb/> <p>Im Einzelnen waren Wolfs Bemerkungen von der grösten Feinheit und Eleganz, nicht selten von Spott und Satire gewürzt. Er sprach eine ganze Stunde lang in der anziehendsten Weise über πολύτροπος, und konnte sich gar nicht darüber zufrieden geben, daß Voß übersetzt habe: der vielgewandte. Niederschlagend war allerdings Wolfs Behauptung, daß wir vielleicht nicht einen einzigen Vers so besitzen, wie ihn Homer oder ein Homeride zur Leyer gesungen, aber er milderte diesen Schmerz durch eine richtige Würdigung der Vortrefflichkeit der erhaltenen Gedichte. Noch jetzt durchblättre ich die bei ihm nachgeschriebenen Hefte mit Vergnügen; es finden sich Goldkörner von Witz und Gelehrsamkeit darin. </p><lb/> <p>Von unbeschreiblicher Anmuth, und schon bei seinen Zuhörern in Halle berühmt, war Wolfs Vortrag der homerischen Verse. Er verstand es, Accent und Qualität auf die ungezwungenste Weise durch Hebung und Senkung der Stimme zu vereinigen; eine ächte Declamation, zwischen Sprechen und Singen die richtige Mitte haltend. Eben so wie in Bezug auf den homerischen Text Wolf sich darauf beschränkte, ihn so herzustellen, wie ihn etwa Longinus </p> </div> </body> </text> </TEI> [217/0225]
könnten. Die Strenggläubigen unter uns, zu denen auch ich gehörte, hielten vielmehr an der Ueberzeugung fest, daß ein alter hochbegabter Homer die beiden Stücke des trojanischen Sagenkreises, den Zorn des Achilleus und die Rückkehr des Odysseus zum Gegenstande seiner Improvisationen gemacht, daß durch ihn und neben ihm ein großer Kreis von Sängern sich gebildet, der diese beiden Keime in den mannigfaltigsten Weisen gepflegt und erweitert, daß endlich unter Pisistratus eine Fixirung der theils mündlich, theils schriftlich verbreiteten Heldenlieder stattgefunden.
Im Einzelnen waren Wolfs Bemerkungen von der grösten Feinheit und Eleganz, nicht selten von Spott und Satire gewürzt. Er sprach eine ganze Stunde lang in der anziehendsten Weise über πολύτροπος, und konnte sich gar nicht darüber zufrieden geben, daß Voß übersetzt habe: der vielgewandte. Niederschlagend war allerdings Wolfs Behauptung, daß wir vielleicht nicht einen einzigen Vers so besitzen, wie ihn Homer oder ein Homeride zur Leyer gesungen, aber er milderte diesen Schmerz durch eine richtige Würdigung der Vortrefflichkeit der erhaltenen Gedichte. Noch jetzt durchblättre ich die bei ihm nachgeschriebenen Hefte mit Vergnügen; es finden sich Goldkörner von Witz und Gelehrsamkeit darin.
Von unbeschreiblicher Anmuth, und schon bei seinen Zuhörern in Halle berühmt, war Wolfs Vortrag der homerischen Verse. Er verstand es, Accent und Qualität auf die ungezwungenste Weise durch Hebung und Senkung der Stimme zu vereinigen; eine ächte Declamation, zwischen Sprechen und Singen die richtige Mitte haltend. Eben so wie in Bezug auf den homerischen Text Wolf sich darauf beschränkte, ihn so herzustellen, wie ihn etwa Longinus
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Zitationshilfe: | Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/225>, abgerufen am 16.07.2024. |