Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].die Shakspeare-Uebersetzung von A. W. Schlegel. Nun holte ich mir die Karakteristiken und Kritiken von Fr. Schlegel aus der Bibliothek, und fand darin eine geistvolle Quintessenz der alten Litteraturgeschichte, die wohl hin und wieder an Böckhs Auffassung erinnerte, die sich aber mit Böckhs erschöpfender Gelehrsamkeit gar nicht messen konnte. Böckhs Aeußeres hatte etwas sehr unscheinbares; die Gestalt eher klein als groß, der Gang schwankend und unsicher, das pockennarbige fahle Gesicht von keineswegs schönen Zügen, das Auge klein und stechend; in der vorstehenden Unterlippe lag etwas boshaftes. Während der Vorlesung stützte er manchmal den Ellenbogen auf das Katheder, und zog mit dem spitzen Zeigefinger den äußeren Augenwinkel auf eine grauenhafte Weise in die Höhe. Obgleich er sehr leise sprach, so verstand man doch jedes Wort, weil er die große Kunst besaß, immer an der rechten Stelle eine gehörige Zeit inne zu halten, ohne den Fluß der Rede zu unterbrechen. Auf Kobersteins Antrieb hörten wir bei Solger ein Kollegium über Sophokles Oedipus rex, und ein anderes über Politik. Der Vortrag war von einer seltnen Vollendung des Ausdruckes, aber er erwärmte nicht. Die Erklärung des Sophokles ließ gar nichts zu wünschen übrig, indem alle Meinungen der früheren Ausleger zu einem lichtvollen Bilde vereinigt, und zuletzt ein Resultat hingestellt wurde, mit dem man in den meisten Fällen einverstanden sein konnte, aber trotz alle dem fühlten wir uns nicht angezogen, weil uns die rechte innerliche Begeisterung für den Gegenstand zu fehlen schien. Noch weniger wollte uns Solgers Politik zusagen. Eben in jener Zeit begannen die Shakspeare-Uebersetzung von A. W. Schlegel. Nun holte ich mir die Karakteristiken und Kritiken von Fr. Schlegel aus der Bibliothek, und fand darin eine geistvolle Quintessenz der alten Litteraturgeschichte, die wohl hin und wieder an Böckhs Auffassung erinnerte, die sich aber mit Böckhs erschöpfender Gelehrsamkeit gar nicht messen konnte. Böckhs Aeußeres hatte etwas sehr unscheinbares; die Gestalt eher klein als groß, der Gang schwankend und unsicher, das pockennarbige fahle Gesicht von keineswegs schönen Zügen, das Auge klein und stechend; in der vorstehenden Unterlippe lag etwas boshaftes. Während der Vorlesung stützte er manchmal den Ellenbogen auf das Katheder, und zog mit dem spitzen Zeigefinger den äußeren Augenwinkel auf eine grauenhafte Weise in die Höhe. Obgleich er sehr leise sprach, so verstand man doch jedes Wort, weil er die große Kunst besaß, immer an der rechten Stelle eine gehörige Zeit inne zu halten, ohne den Fluß der Rede zu unterbrechen. Auf Kobersteins Antrieb hörten wir bei Solger ein Kollegium über Sophokles Oedipus rex, und ein anderes über Politik. Der Vortrag war von einer seltnen Vollendung des Ausdruckes, aber er erwärmte nicht. Die Erklärung des Sophokles ließ gar nichts zu wünschen übrig, indem alle Meinungen der früheren Ausleger zu einem lichtvollen Bilde vereinigt, und zuletzt ein Resultat hingestellt wurde, mit dem man in den meisten Fällen einverstanden sein konnte, aber trotz alle dem fühlten wir uns nicht angezogen, weil uns die rechte innerliche Begeisterung für den Gegenstand zu fehlen schien. Noch weniger wollte uns Solgers Politik zusagen. Eben in jener Zeit begannen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0231" n="223"/> die Shakspeare-Uebersetzung von A. W. Schlegel. Nun holte ich mir die Karakteristiken und Kritiken von Fr. 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die Shakspeare-Uebersetzung von A. W. Schlegel. Nun holte ich mir die Karakteristiken und Kritiken von Fr. Schlegel aus der Bibliothek, und fand darin eine geistvolle Quintessenz der alten Litteraturgeschichte, die wohl hin und wieder an Böckhs Auffassung erinnerte, die sich aber mit Böckhs erschöpfender Gelehrsamkeit gar nicht messen konnte.
Böckhs Aeußeres hatte etwas sehr unscheinbares; die Gestalt eher klein als groß, der Gang schwankend und unsicher, das pockennarbige fahle Gesicht von keineswegs schönen Zügen, das Auge klein und stechend; in der vorstehenden Unterlippe lag etwas boshaftes. Während der Vorlesung stützte er manchmal den Ellenbogen auf das Katheder, und zog mit dem spitzen Zeigefinger den äußeren Augenwinkel auf eine grauenhafte Weise in die Höhe. Obgleich er sehr leise sprach, so verstand man doch jedes Wort, weil er die große Kunst besaß, immer an der rechten Stelle eine gehörige Zeit inne zu halten, ohne den Fluß der Rede zu unterbrechen.
Auf Kobersteins Antrieb hörten wir bei Solger ein Kollegium über Sophokles Oedipus rex, und ein anderes über Politik. Der Vortrag war von einer seltnen Vollendung des Ausdruckes, aber er erwärmte nicht. Die Erklärung des Sophokles ließ gar nichts zu wünschen übrig, indem alle Meinungen der früheren Ausleger zu einem lichtvollen Bilde vereinigt, und zuletzt ein Resultat hingestellt wurde, mit dem man in den meisten Fällen einverstanden sein konnte, aber trotz alle dem fühlten wir uns nicht angezogen, weil uns die rechte innerliche Begeisterung für den Gegenstand zu fehlen schien. Noch weniger wollte uns Solgers Politik zusagen. Eben in jener Zeit begannen
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