Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].Vorzug vor allen andern Baustylen zu geben. Griechische Tempel nachzuahmen passe weder für unseren Kultus noch für unser nordisches Klima, die sogenannten romanischen Bauten im Rundbogenstyl seien zu plump und meistens zu finster, der moderne römische Styl, in dem die Jesuiten so viel gebaut, leide an Principlosigkeit und Ueberschnörkelung, einen ganz neuen Styl zu erfinden sei eine eben so misliche Sache, als eine neue Sprache zu erdenken; dergleichen lasse sich nicht machen, das müsse entstehn. So komme man denn immer wieder auf den gothischen Kirchenstyl zurück, der in seinen strengen Grundregeln eine solche Beweglichkeit der Formen zulasse, daß man nicht leicht Wiederholungen zu befürchten habe. Jeder Grundplan einer gothischen Kirche bedinge schon die Ausführung einer wohlüberdachten Anlage, und werde deshalb dem verständigen Betrachter immer Wohlgefallen gewähren. Diese mit eben so viel Kenntniß als Bescheidenheit vorgetragenen Sätze leuchteten mir ein; ich wandte mich begierig der neuen Lehre zu, und bat Arnold mir weiter fortzuhelfen. Dies that er mit dem redlichsten Willen und der grösten Gefälligkeit. Das bedeutendste und fast das einzige gothische Bauwerk in Paris, die Notre Damekirche auf der Seine-Insel, ward mehrfach von uns besucht, und so weit es anging, in den Einzelheiten durchforscht. Fast unglaublich kam es mir vor, daß das Mittelschiff bei einer Breite von ungefähr 40 Fuß eine Höhe von mehr als 100 Fuß haben solle, aber ich konnte Arnolds positiven Angaben nicht widersprechen. Das schöne Monument litt damals an großer Vernachlässigung; der Facade fehlten sehr viele Sta- Vorzug vor allen andern Baustylen zu geben. Griechische Tempel nachzuahmen passe weder für unseren Kultus noch für unser nordisches Klima, die sogenannten romanischen Bauten im Rundbogenstyl seien zu plump und meistens zu finster, der moderne römische Styl, in dem die Jesuiten so viel gebaut, leide an Principlosigkeit und Ueberschnörkelung, einen ganz neuen Styl zu erfinden sei eine eben so misliche Sache, als eine neue Sprache zu erdenken; dergleichen lasse sich nicht machen, das müsse entstehn. So komme man denn immer wieder auf den gothischen Kirchenstyl zurück, der in seinen strengen Grundregeln eine solche Beweglichkeit der Formen zulasse, daß man nicht leicht Wiederholungen zu befürchten habe. Jeder Grundplan einer gothischen Kirche bedinge schon die Ausführung einer wohlüberdachten Anlage, und werde deshalb dem verständigen Betrachter immer Wohlgefallen gewähren. Diese mit eben so viel Kenntniß als Bescheidenheit vorgetragenen Sätze leuchteten mir ein; ich wandte mich begierig der neuen Lehre zu, und bat Arnold mir weiter fortzuhelfen. Dies that er mit dem redlichsten Willen und der grösten Gefälligkeit. Das bedeutendste und fast das einzige gothische Bauwerk in Paris, die Notre Damekirche auf der Seine-Insel, ward mehrfach von uns besucht, und so weit es anging, in den Einzelheiten durchforscht. Fast unglaublich kam es mir vor, daß das Mittelschiff bei einer Breite von ungefähr 40 Fuß eine Höhe von mehr als 100 Fuß haben solle, aber ich konnte Arnolds positiven Angaben nicht widersprechen. Das schöne Monument litt damals an großer Vernachlässigung; der Façade fehlten sehr viele Sta- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0450" n="442"/> Vorzug vor allen andern Baustylen zu geben. Griechische Tempel nachzuahmen passe weder für unseren Kultus noch für unser nordisches Klima, die sogenannten romanischen Bauten im Rundbogenstyl seien zu plump und meistens zu finster, der moderne römische Styl, in dem die Jesuiten so viel gebaut, leide an Principlosigkeit und Ueberschnörkelung, einen ganz neuen Styl zu erfinden sei eine eben so misliche Sache, als eine neue Sprache zu erdenken; dergleichen lasse sich nicht machen, das müsse entstehn. So komme man denn immer wieder auf den gothischen Kirchenstyl zurück, der in seinen strengen Grundregeln eine solche Beweglichkeit der Formen zulasse, daß man nicht leicht Wiederholungen zu befürchten habe. Jeder Grundplan einer gothischen Kirche bedinge schon die Ausführung einer wohlüberdachten Anlage, und werde deshalb dem verständigen Betrachter immer Wohlgefallen gewähren. </p><lb/> <p>Diese mit eben so viel Kenntniß als Bescheidenheit vorgetragenen Sätze leuchteten mir ein; ich wandte mich begierig der neuen Lehre zu, und bat Arnold mir weiter fortzuhelfen. Dies that er mit dem redlichsten Willen und der grösten Gefälligkeit. </p><lb/> <p>Das bedeutendste und fast das einzige gothische Bauwerk in Paris, die Notre Damekirche auf der Seine-Insel, ward mehrfach von uns besucht, und so weit es anging, in den Einzelheiten durchforscht. Fast unglaublich kam es mir vor, daß das Mittelschiff bei einer Breite von ungefähr 40 Fuß eine Höhe von mehr als 100 Fuß haben solle, aber ich konnte Arnolds positiven Angaben nicht widersprechen. Das schöne Monument litt damals an großer Vernachlässigung; der Façade fehlten sehr viele Sta- </p> </div> </body> </text> </TEI> [442/0450]
Vorzug vor allen andern Baustylen zu geben. Griechische Tempel nachzuahmen passe weder für unseren Kultus noch für unser nordisches Klima, die sogenannten romanischen Bauten im Rundbogenstyl seien zu plump und meistens zu finster, der moderne römische Styl, in dem die Jesuiten so viel gebaut, leide an Principlosigkeit und Ueberschnörkelung, einen ganz neuen Styl zu erfinden sei eine eben so misliche Sache, als eine neue Sprache zu erdenken; dergleichen lasse sich nicht machen, das müsse entstehn. So komme man denn immer wieder auf den gothischen Kirchenstyl zurück, der in seinen strengen Grundregeln eine solche Beweglichkeit der Formen zulasse, daß man nicht leicht Wiederholungen zu befürchten habe. Jeder Grundplan einer gothischen Kirche bedinge schon die Ausführung einer wohlüberdachten Anlage, und werde deshalb dem verständigen Betrachter immer Wohlgefallen gewähren.
Diese mit eben so viel Kenntniß als Bescheidenheit vorgetragenen Sätze leuchteten mir ein; ich wandte mich begierig der neuen Lehre zu, und bat Arnold mir weiter fortzuhelfen. Dies that er mit dem redlichsten Willen und der grösten Gefälligkeit.
Das bedeutendste und fast das einzige gothische Bauwerk in Paris, die Notre Damekirche auf der Seine-Insel, ward mehrfach von uns besucht, und so weit es anging, in den Einzelheiten durchforscht. Fast unglaublich kam es mir vor, daß das Mittelschiff bei einer Breite von ungefähr 40 Fuß eine Höhe von mehr als 100 Fuß haben solle, aber ich konnte Arnolds positiven Angaben nicht widersprechen. Das schöne Monument litt damals an großer Vernachlässigung; der Façade fehlten sehr viele Sta-
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