vor keinem, der angelte, vorüberging, um keinen verscheuchenden Schatten ins Wasser zu werfen -- daß er langsam durch Schafe ging und vor dem Kinde, das ihn scheuete, einen Umweg nahm -- Nichts ging über die sanfte Stimme, womit er je¬ dem Pilgrim mehr als diesen glücklichen Morgen wünschte; nichts über den vorausgerührten Blick, womit er in jedem Dorfe die arme Haut, deren Schwielen und Narben und Schnittwunden einen Blutschwamm oder schmerzenlindernden Tropfen nö¬ thig hatten, auskundschaften wollte. "Ach ich weis "es so gut als ein Famulus bei einem Professor der "Moral (sagt' er zu sich,) daß es keine Tugend, "sondern nur eine Wollust ist, die Dornenkrone von "einer zerritzten Stirne, den Stachelgürtel von wun¬ "den Nerven wegzunehmen -- aber da auf so vielen "Wegen zersplitterte Menschen liegen, warum streckt "auf meinem keiner seine Hand aus, damit ich et¬ "was hineinlegen könnte für diesen unverdienten "Himmel in Brust."
Er wollte seine Freude einem fremden Herzen zum Kosten entgegen tragen wie die Biene ihren Mund voll Honig in die Lippen einer andern über¬ giebt. Endlich keuchten zwei Kinder daher, davon eines als Zugvieh an einem Schiebekarren angestrickt war: das andere war vornen als schiebender Fuhr¬ mann nachgespannt. Der Karren war mit sechs
vor keinem, der angelte, voruͤberging, um keinen verſcheuchenden Schatten ins Waſſer zu werfen — daß er langſam durch Schafe ging und vor dem Kinde, das ihn ſcheuete, einen Umweg nahm — Nichts ging uͤber die ſanfte Stimme, womit er je¬ dem Pilgrim mehr als dieſen gluͤcklichen Morgen wuͤnſchte; nichts uͤber den vorausgeruͤhrten Blick, womit er in jedem Dorfe die arme Haut, deren Schwielen und Narben und Schnittwunden einen Blutſchwamm oder ſchmerzenlindernden Tropfen noͤ¬ thig hatten, auskundſchaften wollte. »Ach ich weis »es ſo gut als ein Famulus bei einem Profeſſor der »Moral (ſagt' er zu ſich,) daß es keine Tugend, »ſondern nur eine Wolluſt iſt, die Dornenkrone von »einer zerritzten Stirne, den Stachelguͤrtel von wun¬ »den Nerven wegzunehmen — aber da auf ſo vielen »Wegen zerſplitterte Menſchen liegen, warum ſtreckt »auf meinem keiner ſeine Hand aus, damit ich et¬ »was hineinlegen koͤnnte fuͤr dieſen unverdienten »Himmel in Bruſt.«
Er wollte ſeine Freude einem fremden Herzen zum Koſten entgegen tragen wie die Biene ihren Mund voll Honig in die Lippen einer andern uͤber¬ giebt. Endlich keuchten zwei Kinder daher, davon eines als Zugvieh an einem Schiebekarren angeſtrickt war: das andere war vornen als ſchiebender Fuhr¬ mann nachgeſpannt. Der Karren war mit ſechs
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vor keinem, der angelte, voruͤberging, um keinen
verſcheuchenden Schatten ins Waſſer zu werfen —
daß er langſam durch Schafe ging und vor dem
Kinde, das ihn ſcheuete, einen Umweg nahm —
Nichts ging uͤber die ſanfte Stimme, womit er je¬
dem Pilgrim mehr als dieſen gluͤcklichen Morgen
wuͤnſchte; nichts uͤber den vorausgeruͤhrten Blick,
womit er in jedem Dorfe die arme Haut, deren
Schwielen und Narben und Schnittwunden einen
Blutſchwamm oder ſchmerzenlindernden Tropfen noͤ¬
thig hatten, auskundſchaften wollte. »Ach ich weis
»es ſo gut als ein Famulus bei einem Profeſſor der
»Moral (ſagt' er zu ſich,) daß es keine Tugend,
»ſondern nur eine Wolluſt iſt, die Dornenkrone von
»einer zerritzten Stirne, den Stachelguͤrtel von wun¬
»den Nerven wegzunehmen — aber da auf ſo vielen
»Wegen zerſplitterte Menſchen liegen, warum ſtreckt
»auf meinem keiner ſeine Hand aus, damit ich et¬
»was hineinlegen koͤnnte fuͤr dieſen unverdienten
»Himmel in Bruſt.«
Er wollte ſeine Freude einem fremden Herzen
zum Koſten entgegen tragen wie die Biene ihren
Mund voll Honig in die Lippen einer andern uͤber¬
giebt. Endlich keuchten zwei Kinder daher, davon
eines als Zugvieh an einem Schiebekarren angeſtrickt
war: das andere war vornen als ſchiebender Fuhr¬
mann nachgeſpannt. Der Karren war mit ſechs
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/230>, abgerufen am 26.11.2024.
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